Es schrieb Otokar Fischer

(E*forum, 2. 12. 2020)

Die Fischer-Forschung widmete der systematischen publizistischen Tätigkeit von Otokar Fischer, die im Besprechen und Rezensieren vor allem deutsch- und tschechisch sprachiger Fachliteratur bestand, bisher nur relativ wenig Aufmerksamkeit. Dutzende von Texten dieser Ausrichtung, die das Bemühen des Autors illustrieren, die Ergebnisse der damaligen philologischen literaturwissenschaftlichen (nicht nur der germanistischen) Diskussionen zu präsentieren, zu bewerten und produktiv zu nutzen, zeugen dabei nicht nur vom hohen Niveau von Fischers fachlichem und gesellschaftlichem Engagement, sie weisen auch – synekdochisch, im Allgemeinen – auf den hohen Standard des damaligen literaturkritischen Betriebs hin. Nicht einmal in der unlängst erschienenen Publikation Otokar Fischer (1883–1938). Ein Prager Intellektueller zwischen Dichtung und Wissenschaft wurden Fischers organisatorische Tätigkeit und sein Wirken im bohemistischen Bereich berücksichtigt (Fischer, der sowieso schon pädagogisch und wissenschaftlich hoch ausgelastet war, widmete sich diesen Bereichen v. a. seit der 2. Hälfte der 1920er Jahre). Das Thema der tschechischen kulturellen und literarischen Bezüge stellte allerdings immer schon eine Facette von Fischers kritischer Tätigkeit dar. Sein erhöhtes Interesse an der bohemistischen sowie germanobohemistischen Problematik (hierzu dürfte man wohl auch einen Teil seiner Übersetzungstätigkeit zählen) hing womöglich mit dem neuen Rang seiner institutionellen Position zusammen – also mit Fischers Ernennung zum ordentlichen Professor der deutschen Literatur an der Prager tschechischen philosophischen Fakultät.

 

Dank der relativ günstigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umstände Ende der 1920er Jahre konnten – für eine bestimmte Zeit – sowohl damals als auch heutzutage schwer realisierbare wissenschaftliche und Publikationsunternehmen realisiert werden, bei denen tschechische sowie deutsche Forscher, Germanisten, Bohemisten, Slawisten, Historiker, Ethnografen oder Übersetzer zusammenarbeiteten. Die Studien von Klaas Hinrich Ehlers und Martin Bernátek informieren uns detailliert über den Hintergrund der Entstehung der Zeitschrift Germanoslavica, in der WissenschaftlerInnen aus ganz Europa (nicht nur aus dem slawischen Europa) ihre Studien veröffentlichten, wir wissen jedoch ebenfalls über die Hintergründe des kulturpolitisch ausgerichteten Periodikums Prager Rundschau Bescheid sowie über die nicht zu unterschätzende Profilierung des Prager linguistischen Zirkels durch dessen deutschsprachige Mitglieder, an der zum großen Teil Antonín S. Mágr beteiligt war. Fischers Notiz zu der Programmschrift des Leipziger Slawisten Reinhold Trautmann (der kurz davor auch in Prag an der deutschen Universität wirkte) und dessen Berliner Kollegen Heinrich Felix Schmid (Wesen und Aufgaben der deutschen Slavistik. Ein Programm. Slavisch-Baltische Quellen und Forschungen, Heft 1, Leipzig: H. Haessel, 1927) – abgedruckt in der Prager Presse am 29. 3. 1929, genauso wie Fischers auf Tschechisch publizierter Beitrag Germanicoslavika [sic!] in Lidové noviny am 24. November 1929 (zu finden auch in Literární studie a stati I. Praha: FF UK, 2015, S. 568–570) waren ein Vorzeichen für Fischers nachfolgende Betätigung. Fischer betonte hier die Relevanz beider Fachbereiche – dies nicht nur anhand einer unanfechtbaren kulturpolitischen Argumentation – und skizzierte auch zukünftige Aufgaben und Pläne. Diese war allerdings bereits beim Blick auf mehrere Studien im Sammelband Xenia Pragensia (1929) offenkundig, der zum Lebensjubiläum zweier Pioniere der tschechischen Germanobohemistik, Josef Janko und Arnošt Kraus, erschien, genauso wie beim Blick auf die im selben Jahr publizierte Festschrift Slavistische Studien Franz Spina zum sechzigsten Geburtstag von seinen Schülern, die die Arbeiten von Schülern des ersten Universitätsprofessors der Bohemistik an der Prager deutschen Universität zusammenbrachte.

 

Wenn das Institut für Literaturstudium (Institut pro studium literatury) – dieses Jahr zum ersten Mal in Zusammenarbeit mit dem Adalbert Stifter Verein in München – den Otakar Fischer Preis für ausgezeichnete Publikationen im Bereich der Germanobohemistik verleiht, soll dies eine Erinnerung an einen, auf den ersten Blick weniger beeindruckenden, jedoch wichtigen – und das Persönlichkeitsprofil bezeichnend abrundenden – Bestandteil von Fischers Betätigung sein, einen im besten Sinne des Wortes aktivistischen Bestandteil: Nach der Übertragung und Deutung von Faust (1928) begründete und verteidigte er auf diese Weise öffentlich sein Bedürfnis, das Werk „seines“ Dichters auch mittels dessen Bewunderer und Kritiker im tschechischen Milieu zu erforschen und dem tschechischen Publikum nahe zu bringen. Genauso wie im Falle seiner Nietzsche-Studien, und auch bei Goethe, verloren Fischers Arbeiten über Čelakovskýs, Erbens und Kollárs Verhältnis zum bewunderten deutschen Dichter – weder in methodologischer noch in inhaltlicher Hinsicht – an Bedeutung. In unserer methodologisch übersättigten und mitunter das Rad neu erfindenden Zeit ist es dann ein Vergnügen, Fischers spannenden textimmanenten und interpretativen Ausführungen zu folgen, die die verborgenen interkulturellen Bezüge zwischen den Literaturen beider Sprachen auf eine überzeugende, nicht überlaute, jedoch trotzdem leidenschaftliche Weise lüften und somit eine aktuelle Botschaft auch für unsere Zeit liefern.

 

vp

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Deutsche Slavistik und tschechische Germanistik

 

Die Lektüre der in der Prager Presse mehrmals zur Sprache gelangten Programmschrift zweier deutscher Slavisten, Heinrich Felix Schmid und Reinhold Trautmann, kann in einem tschechischen Germanisten mancherlei Gedankenreihen hervorrufen, die, zum Teil laienhafter Natur, zum Teil auf wesentliche Übereinstimmungen und Differenzen zwischen zwei philologischen „Grenzdisziplinen“ eingehen.

 

In gewisser Beziehung sind ja sowohl die deutschen Slavisten als die slavischen Germanisten den Vertretern der Vermittlungs- oder Grenzwissenschaften zuzuzählen, und so verschiedenartig die hier und dort aufzusteckenden Forschungsziele sein mögen, so ist doch, gefühlsmäßig, eine Analogie hervorzuheben; die besteht darin, daß Muttersprache und Milieu des Forschers gegen das Objekt seiner Untersuchungen scharf abgegrenzt erscheinen, daß er also einen gewissermaßen fremden Gegenstand zu behandeln sich berufen fühlt. Daher mögen beiderseits zunächst bestimmte Hemmungen zu erklären sein: Ein deutscher Slavist wird, ebenso wie ein Germanist nichtgermanischer Abstammung, zwischen sich und seinem Wissensgebiet eine Art Barriere aufgerichtet sehen, die es ihm nicht gestattet, in seinem Lehr- und Lerneifer so völlig aufzugehen wie den mit ihrer Aufgabe auch völkisch sich eins wissenden Gelehrten, die unter den Nacheiferern dort eines Jacob Grimm, hier eines Jungmann zu suchen sind. Doch wird dies Gefühlsmanko durch ein nicht zu unterschätzendes Plus an wissenschaftlicher Distanz, Kühle, Objektivität ersetzt; unnötig zu sagen, daß diejenigen, die eine Nachbarsprache und -Literatur von dem Rain ihrer Heimat aus beurteilen, gegen eventuelle Vorurteile einer autochthon nationalen Betrachtung gefeit sind und eben kraft ihrer unterschiedlichen, von Haus mitgebrachten Erziehung und Tradition die Fähigkeit, ja die Pflicht besitzen, ihre Arbeiten von neuen und fruchtbaren Gesichtspunkten durchleuchten zu lassen. Das bereits oft betonte Prinzip „wechselseitiger Erhellung“ findet durch die Pflege deutscher Slavistik und slavischer Germanistik mancherlei konkrete Bestätigung.

 

„Wesen und Aufgaben“ der deutschen Slavistik werden von Schmid und Trautmann klar und zukunftsverheißend umrissen – für die tschechische Germanistik bleibt ein analoges Programm noch aufzustellen; Ansätze zu ihm liegen verstreut vor, auch ist für die nächsten Tage ein eben dies Thema behandelnder Vortrag des Brünner Literarhistorikers Jan Krejčí angekündigt, der eine ersprießliche Diskussion eröffnen dürfte. Ohne vorläufig auf das Meritum des Problems einzugehen, sei – wiederum im Hinblick auf deutsche Slavistik – ein Charaktermerkmal gestreift, durch welches die im Titel unseres Aufsatzes nebeneinander gesetzten Disziplinen sich scharf voneinander abheben.

 

Es ist Sache der Gerechtigkeit und der historischen Einsicht, bei jeglicher Konfrontierung deutscher Slavistik mit slavischer Germanistik jener den natürlichen Vorrang vor dieser einzuräumen. Nicht nur daß es deutsche Gelehrte waren, die an der Wiege der slavischen Wissenschaften Pate gestanden haben: aber auch heute bleibt, wie der flüchtigste Blick auf Zeitschriftenorganisation und Bücherproduktion lehrt, jene Überlieferung aufrecht, auch heute ist es die deutsche Sprache und die deutsche Fachliteratur, die den einzelnen slavischen Völkern gelegentlich zum Sammelpunkt dient, auch heute ist der Anteil des forschenden Deutschland aus den slavistischen Bemühungen einfach nicht wegzudenken: Slavische Germanistik hingegen hat – bisher wenigstens – nicht nur die Rolle eines Grenzgebietes innegehabt, sondern kam, vom germanistischen Zentrum aus gesehen, einer Art interessanten Randdistriktes gleich. Ob sich diese Verhältnisse in absehbarer Zeit werden ändern können, ist fraglich, hängt wohl in erster Reihe von der Pflege der germanistischen Gebiete in Rußland als dem größten slavischen Kulturzentrum ab. Daß man, der Germanistik kleinerer slavischer Völker zuliebe, in Deutschland diese Sprachen wird treiben wollen, steht natürlich nicht zu erwarten.

 

Doch sobald die für jegliche kleine Nation in wissenschaftlichen Dingen brennende Sprachenfrage angeschnitten wird, kann auch hier, der Minusseite gegenüber, ein erfreulicher Posten gebucht werden. Während die deutsch getriebene Slavistik – auch sonstigen Gepflogenheiten der deutschen Wissenschaft gemäß – auf das Fachliche begrenzt zu sein pflegt und daher vom allgemeinen deutschen Kulturgetriebe etwas abseits steht, kann bei uns auch wissenschaftliche Spezialistik, konkret: auch tschechische Germanistik, den Haupttendenzen der nationalen Ideenentwicklung und Arbeitsteilung eingegliedert werden. Zu verzeichnen ist jedenfalls die Tatsache, daß so gut wie alle Germanisten bei uns (von Anglisten, Romanisten usw. wäre ähnliches auszusagen) neben ihren eigentlichen „Facharbeiten“ auch solche zu leisten sich bemüssigt fühlen, die mit Sprache und Literatur ihres eigenen Volkes, mit wissenschaftlicher Organisation ihres heimischen Milieus und mit sonstigen Erfordernissen des tschechischen Geisteslebens sich beschäftigen. Daß ein Vertreter der tschechischen Germanistik vollends zur Bohemistik übergeht, bleibt zwar exzeptionell, doch ist in einem solchen Ausnahmefall dasjenige typisiert, was auch andere seiner Kollegen immer und immer wieder zu den Problemen ihrer Muttersprache mit geradezu unentrinnbarer Kraft hintreibt und was eine grundlegende Divergenz in der Wesensbestimmung deutscher Slavistik und tschechischer Germanistik ausmachen dürfte.


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