Man schrieb über das Ständetheater

(18. 11. 2020)

Am 16. November 2020 sind es 100 Jahre seit der Beschlagnahme des Ständetheaters durch tschechische Legionäre und Schauspieler, die sich im Solistenklub des Nationaltheaters [Klub sólistů Národního divadla] vereinigten. Nach einer gründlichen und sine ira et studio formulierten Analyse dieses Ereignisses, die Jitka Ludvová in ihrem Buch Až k hořkému konci: Pražské německé divadlo 1845–1945 [Bis zum bitteren Ende: das Prager deutsche Theater 1845–1945] (Praha: Divadelní ústav/Institut umění – Academia 2012, S. 313–323) liefert, wurde diese Beschlagnahme bereits lange vorab durch den o. g. Klub vorbereitet, der für diesen Zweck auch die tschechische Kulturöffentlichkeit mobilisierte. Vonseiten der deutschsprachigen Kulturgemeinde, des Theaterdirektors Leopold Kramer und der deutschen Intendanz, wurde diese Tat natürlich eindeutig abgelehnt, auch die resolute Missbilligung von Präsident Masaryk konnte nicht überhört werden, die angeblichen tschechischen, moralisch begründeten „Ansprüche“ bezweifelte anfangs sogar Premierminister Tusar. Einige tschechische Theaterleute versuchten, durch ein Memorandum die Bühne durch Verhandlungen zu gewinnen oder die Vorstellungen paritätisch realisieren. Diese Kompromisslösung wurde jedoch abgelehnt, die Vertreter der Landesverwaltung beharrten auf ihrem Standpunkt mit dem Argument der Finanzierung der Bühne, d. h. mit dem Recht, über das Theater frei zu verfügen, es also in die Verwaltung der Republik zu überführen, es also de facto der tschechischen Bühne zu übergeben. Nach den Wahlen 1920, als im Parlament zum ersten Mal auch die Vertreter der nationalen Minderheiten vertreten waren, spitzte die Lage sich zu, jedoch auch diesmal war die tschechische politische Repräsentanz nicht fähig, das Schicksal des Ständetheaters definitiv zu entscheiden. Den Vorwand zur Besetzung des Theaters lieferten die Zusammenstöße zwischen den Bürgern in Eger und der Armee im Zusammenhang mit der Vernichtung des Denkmals von Joseph II. und die nachfolgende Demolierung der tschechischen Minderheitsschule. Genauso wie im Dezember 1897 nach der Demision von Kasimir Badeni kam es auch diesmal zu Straßentumulten, die die Mitglieder des Solistenklubs zum Vorwand nahmen, um das Theater zu besetzen (zur detaillierten Beschreibung der Ereignisse und deren Rezeption in der tschechisch sowie deutschsprachigen Presse siehe die o. g. Publikation von Jitka Ludvová). Wie dem Echo aus dem Ausland zu entnehmen ist, setzten sich die Demonstrationen fort, genauso wie die Angriffe und das Plündern der mit deutschsprachiger Kultur verbundenen Stätten in der Hauptstadt. Beide deutsche Tagblätter in Prag berichteten am folgenden Tag nicht über die Geschehnisse, sie durften nämlich nicht erscheinen. Die symbolische Bedeutung dieser Gewalttaten gegen die Prager deutschsprachige Minderheit für das Renomee des neuen Staates thematisierte u. a. der Text eines unbekannten Autors im Neuen Wiener Journal vom 17. 11. 1920, den wir hier abdrucken. Auf eine höfliche, jedoch auch entschiedene Weise erinnerte er daran, dass es unmöglich sei, über die strittigen Angelegenheiten mit Gewalt zu entscheiden, und erwähnte die Unfähigkeit oder den Unwillen der lokalen und staatlichen Organe, die langandauernde, unerträgliche Situation zu lösen und dann auch bei der Theaterbesetzung dezidiert nach dem gültigen Strafrecht vorzugehen.

 

Für eine ganze Reihe von Persönlicheiten aus dem politischen und Kulturbreich auf beiden Seiten waren die Novemberereignisse des Jahres 1920 mit dem nachfolgenden antijüdischen Plündern der Synagoge in Vinohrady [Königliche Weinberge] oder die Unruhen in Josefsstadt, bei denen der Mob die Einrichtung des jüdischen Rathauses – zunächst beim Zuschauen der Polizei – demolierte, ein Schock, der den Eindruck von den gewaltigen Unruhen im Grenzgebiet im März 1919 nur noch unterstrich. Ohne Zweifel handelte es sich um einen weiteren Impuls, der die antitschechischen und gegen den Staat gerichteten Stimmungen nur nährte. Neben der nationalistisch geprägten Literatur (die Ereignisse verarbeitete u. a. Erwin Heine in seinem Roman Wlasta und ihr Student, der von den tschechoslowakischen Behörden konfisziert wurde) äußerte auch Ernst Weiß seine Desillusionierung in der Antwort auf die Umfrage Warum haben Sie Prag verlassen, die im Prager Tagblatt (Mai/Juni 1922) abgedruckt wurde und die von Kurt Krolop neu zugänglich gemacht und kommentiert wurde (Studien zur Prager deutschen Literatur, Wien: Ed. Praesens, 2005, S. 9496). Ähnlich äußerten sich Franz Carl Weiskopf in seinem Buch Das Slawenlied und auch Franz Kafka privat in den Briefen an Milena. Auch die tschechische Seite reagierte nicht nur zustimmend, zu erinnern sei an die Texte in Právo lidu, Tribuna oder Čas; belletristisch wurde allerdings erst der Generalstreik im Dezember 1920 (etwa von Ivan Olbracht in Anna proletářka [Anna, die Proletarierin]) reflektiert, der letzten Endes die unerfreulichen Ereignisse um das Ständetheater übertönte. Die Annäherung beider Standpunkte mit dem Ziel einer Versöhnung, die jedoch bereits für beide Seiten unakzeptabel war, skizzierte Otokar Fischer. Nachdem er den Unwillen hervorhob, die politische Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen, das Ständetheter dem Nationaltheater einzuverleiben und dafür eine Kompensation zu suchen, widmete er sich v. a. der politischen Instrumentalisierung des ganzen Problems. Sehr unangenehm, ja warnend, klingen Fischers Worte vom populistischen Entscheiden der Regierungsorgane gerade heutzutage, in der Zeit der Koronakrise, da damals die Vertreter der radikalen Lösungen von links und rechts sich auch im Falle scheinbar unbedeutsamer Ereignisse auf eine rührende Weise einig werden konnten, wie etwa im Falle „der Beschlagnahme des treuen Mahnmals, Zeugen und Wegweisers der Geschichte des eigenen zweisprachigen Landes“. „Auf das Theater haben die Künste beider Landesnationen Anrecht,“ fügt Fischer hinzu, „da die Deutschen hier an Lessings Erbe, an die Romantik, an Mozart-Feiern […] sowie an Weber, an die ausgezeichnete Liebich-Zeit und an den Anfang der wunderbaren Wirkungszeit von A. Neumann erinnert werden, und uns ist das Gebäude mit der Inschrift Patriae et Musis deshalb teuer, da dort 1786 das erste tschechische Stück aufgeführt wurde (Břetislav a Jitka von Thám), da dort im Jahre 1834 (im Stück Fidlovačka) das Lied ‚Kde domov můj‘ das erste Mal erklang, da dort der Dramaturg Tyl sowie der Schauspieler Kolár wirkten“ (Jeviště [Die Bühne] 1920, S. 185; O. Fischer a Národní divadlo [O. Fischer und das Nationaltheater], Praha: Divadelní ústav; 1983, S. 116).

 

vp

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Die Ereignisse in Prag

 

Jetzt sind sie nicht mehr die unterdrückten, sondern die siegreichen Tschechen, die gegen die Deutschen losgehen, und sie ihre Übermacht spüren lassen. Prag war gestern der Schauplatz von Szenen, die die leitenden Persönlichkeiten der tschecho-slowakischen Republik vielleicht noch mehr bedauern mögen als die betroffenen Deutschen selbst. Als man vernahm, daß an die Spitze des tschecho-slowakischen Staates ein Mann wie Masaryk gestellt wurde, hätte man dergleichen für nicht möglich gehalten. Der Aufstand wandte sich vornehmlich gegen Stätten deutscher Geistigkeit, gegen das Theater, die zwei großen Zeitungen in Prag, auch gegen das politische Zentrum der Prager Deutschen, das Kasino. Es war Pöbel, der gleichzeitig den Ausbruch seiner nationalen Gefühle dazu benutzte, um zu zerstören und zu plündern. Aber man kann der tschechischen Regierung den Vorwurf nicht ersparen, daß sie die Ereignisse kommen und wachsen gesehen hat, ohne sie rechtzeitig zu verhindern. Gewiß wollte sie es, weil sie selbst darauf achten muß, vor Europa bestehen zu können, das heute die Länder der früheren Monarchie schärfer beobachtet und mehr von ihnen weiß als früher. Aber hinter den dunklen Gestalten, die in der Deutschenhetze bequeme Möglichkeiten sehen, ihren wilden Instinkten freien Lauf zu lassen und sich zu bereichern, agieren Politiker, die in ihren ganzen politischen Physiognomie selbst ein Erbe des alten Österreich-Ungarn, die ganze Phraseologie von ehedem übernommen haben, obgleich die Verhältnisse doch so gründlich geändert sind. Diese Politiker zu entlarven, wäre die Pflicht und gleichzeitig die Rettung der tschechischen Regierung gewesen, deren Leiter sich gestern damit begnügen mußte, vor dem Senat die selbsverständlichen Worte des Bedauerns und der Mißbilligung auszusprechen. Das tschechische Beamtenministerium hätte auch sein Militär besser in der Hand haben müssen und durfte sich nicht die Blöße geben, seine Ohnmacht gegenüber den romantischen Erscheinungen in einer solchen Weise zu offenbaren, sondern hätte wenigstens Eigentum und Leben ihrer Bürger schützen müssen. Ein Volk, das in neuer Staatlichkeit in die Weltgeschichte eintreten will, hätte allen Grund, auf sein Dekorum zu achten. Eine Regierung, die aus Beamten besteht, hätte die Notwendigkeit gehabt, zu zeigen, daß sie nicht dilettantisch den Regierungsapparat zu handhaben und vorauszusehen hat. Alle Tschechen, mindestens diejenigen, die Verantwortlichkeitsgefühl in sich haben, müßten auf die Psychologie der Deutschen näher einzugehen trachten und sie zu gewinnen suchen. Das alles ist am gestrigen Tage mit oder ohne Absicht nicht geschehen. Das Unrecht, das gestern an den Deutschen begangen wurde, wird in seinem Folgen auch die tschechische Republik und ihre Führer nicht unberührt lassen können.


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