Es schreibt: Marie Krappmann

(28. 10. 2020)

Jiří Levý ist unbestritten eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Übersetzungstheorie, und das nicht nur im tschechischen Kontext, sondern auch im internationalen Maßstab. Obwohl sein Name in wahrscheinlich jeder tschechischen Veröffentlichung, die ein Thema aus dem Bereich der künstlerischen Übersetzung behandelt, angeführt wird, ist bis jetzt keine eigenständige Monografie erschienen, die sein Werk auf komplexere Art analysieren und zusammenfassen würde. Letztes Jahr gab die Masaryk-Universität in Brno anlässlich seines 50. Todestages eine kollektive Monografie heraus, die den Titel Jiří Levý: zakladatel československé translatologie [Jiří Levý: Begründer der tschechoslowakischen Translatologie] trägt. Darin schreiben zehn AutorInnen in einzelnen Kapiteln über die Person Jiří Levý und über die theoretischen Ausgangspunkte, die er in seinem Werk formulierte.

 

Im Einleitungskapitel Zur Einleitung: Kleine Ehrung für Jiří Levý beschreiben Zbyněk Fišer und Ivana Kupková das Konzept der Monografie. Schon hier schicken sie voraus, dass in den einzelnen Kapiteln, die auf Tschechisch und Slowakisch verfasst sind, auf Jiří Levý als Persönlichkeit und auf sein Werk unterschiedlich stark und auf verschiedene Arten eingegangen wird. Drei Themenfelder werden herausgehoben, denen die einzelnen Kapitel untergeordnet werden, und diese werden folgendermaßen umrissen: 1) Bewertung des Werks, der inspirierenden Thesen, der Konzepte, Ansätze und Gedanken von Jiří Levý im Kontakt mit anderen theoretischen Konzepten; 2) Kapitel, in denen die Bedeutung von Jiří Levý als Übersetzungstheoretiker beurteilt wird; 3) die didaktische Verwendung seiner Gedanken in der Ausbildung zukünftiger ÜbersetzerInnen (S. 7).

 

Obwohl alle drei erwähnten Felder in mehr oder weniger großem Ausmaß in der Monografie behandelt werden, kann man die Kapitel auch anhand der Frage unterscheiden, auf welche Art der/die AutorIn auf das Werk von Jiří Levý verweist, und zwar in zwei Kategorien: In der einen wird direkt Levýs wissenschaftliche Tätigkeit thematisiert und sein Beitrag zur Entwicklung der Translatologie analysiert, in der zweiten dient jeweils ein ausgewähltes theoretisches Konzept (z. B. die „semantische Dichte“ – oder die „Sprechbarkeit der Übersetzung“) als Ausgangspunkt oder Rahmen für die Analyse eines ausgewählten Phänomens aus der Übersetzungspraxis, bzw. werden von Levý vorgeschlagene Herangehensweisen auf einen konkreten Text angewendet. Zur ersten Kategorie gehören meiner Ansicht nach vier von neun Kapiteln (das Kapitel Zur Einleitung, das, wie bereits erwähnt, allgemein einführend das Konzept des Buches vorstellt, nicht mitgezählt).

 

Im Kapitel Wissenschaft, Philosophie, Literatur. Vor fünfzig Jahren starb Jiří Levý konfrontiert Milan Suchomel Thesen von Martin Heidegger mit Konzepten von Jiří Levý, wobei er als Schlüsselmoment des Vergleichs den Begriff der „Objektivierung“ verwendet. Suchomel erklärt die Unterschiede im Denken und in den Argumentationen der beiden Wissenschaftler vor allem durch die verschiedenen Funktionen und Ziele ihrer Arbeit: „Da ist eine Differenz zwischen dem Philosophen und dem Literaturtheoretiker, aber auch einen Unterschied oder eine Verschiebung zwischen allgemeiner Theorie und der Auslegung konkreter Texte.“ (S. 11). Obwohl sich Levýs Diktum des „exakter Werdens“ („zexaktňování) der Literaturwissenschaft und Heideggers Ablehnung der Objektivierung auf den ersten Blick auszuschließen scheinen, kommt Suchomel zu einem versöhnlichen Fazit: „Der Unterschied ist vielleicht unüberbrückbar, von der einen wie von der anderen Seite, strebt aber zur Überbrückung hin, insoweit wir uns die Unzulänglichkeit bewusst machen.“ (S. 14).

 

Zur ersten Kategorie gehört auch das Kapitel Der avantgardistische Beitrag von Jiří Levý und Anton Popovič im Kontext der zeitgenössischen translatologischen Entwicklung, geschrieben von Edita Gromová, Daniela Müglová und Daša Munková. Dieses Kapitel knüpft an das vorhergehende vor allem dadurch an, dass es sich unter anderem mit dem Beitrag Jiří Levýs zur Anwendung exakter Methoden in der Sprachwissenschaft und Translatologie befasst. Daneben behandeln die Autorinnen die Parallelen zwischen dem Werk von Jiří Levý und dem von Anton Popovič, vor allem im Bereich der Kommunikationsmodelle und der Übersetzungsdidaktik. Ziel dieses Kapitels ist es in erster Linie, diejenigen Aspekte zusammenzufassen, in denen Levý und Popovič ihrer Zeit voraus waren, und davon zeuge auch, „dass Levý und Popovič bis heute die Aufmerksamkeit der translatologischen wissenschaftlichen Gemeinschaft auf sich ziehen [...]“ (S. 24). Ein Grund dafür ist auch, dass Jiří Levý einer der ersten Übersetzungstheoretiker war, der sich intensiv mit der maschinellen Übersetzung beschäftigt hat. Auf diesen Aspekt in Levýs Werk macht Daša Munková im Resümee des Kapitels aufmerksam.

 

Ein weiteres Kapitel, dass sich direkt mit Levýs Werk beschäftigt, trägt den Titel Jiří Levý und die indirekte (portugiesische) Übersetzung. Petra Mračková Vavroušová setzt sich hier mit einem ganz bestimmten Konzept auseinander, und zwar mit der indirekten Übersetzung, wobei sie auch Levýs Haltung zu diesem Phänomen skizziert. Die Autorin demonstriert dieses Konzept direkt am Werk von Jiří Levý, indem sie die portugiesische indirekte Übersetzung seiner essentiellen Studie Umění překladu (1963, dt. Die literarische Übersetzung: Theorie einer Kunstgattung, 1969, übersetzt von Walter Schamschula) analysiert, die aus der deutschen Vorlage angefertigt wurde und unter dem Titel As trêsfases de trabalhotradutório: a apreensão, a interpretação e a transposição do modelo in einer zweisprachigen deutsch-portugiesischen Ausgabe erschien. In einzelnen und aneinander anknüpfenden Schritten wird die Übersetzung der Schlüsselbegriffe erörtert, und anhand von Beispielen werden die Prozesse der Substitution, Kompensation, Generalisierung, Konkretisierung und Auslassungen in der deutschen und portugiesischen Übersetzung im Vergleich zur tschechischen Version beschrieben. Für die portugiesische Übersetzung schlägt die Autorin die Klassifikation einer „indirekten Übersetzung ohne erhaltenes Original“ (S. 38) vor, da Levýs deutlich überarbeitete tschechische Version der Studie, die er in Zusammenarbeit mit dem deutschen Übersetzer Walter Schamschula als Grundlage für die Übersetzung ins Deutsche anfertigte, nicht erhalten geblieben ist.

 

Das letzte Kapitel, das sich direkt auf das Werk Jiří Levýs konzentriert, ist Das Vermächtnis von Jiří Levý in der zeitgenössischen slowakischen Kritik der künstlerischen Übersetzung. Im ersten Teil hebt Ivana Kupková hier diejenigen Stellen in seinem Werk hervor, an denen die Übersetzungskritik auf indirekte Weise zum Thema wird. Der Autorin zufolge können gerade diese indirekt zum Ausdruck kommenden Überlegungen als Stützpfeiler einer modernen Übersetzungskritik verstanden werden. Dazu gehören ihr zufolge Passagen, in denen sich Levý mit dem illusionistischen und realistischen Übersetzen, den Methoden der Exotisierung, den Möglichkeiten des Erhalts der ästhetischen Funktion des Ausdrucks u. ä. beschäftigt. Die Autorin geht zu Recht davon aus, dass das, „was der Übersetzer zum Erreichen des Ziels der Übersetzung einhalten muss, […] auch vom Kritiker wahrgenommen werden muss“ (S. 42). Im zweiten Teil wird die Rezeption von Levýs Denken in der slowakischen Übersetzungskritik reflektiert, etwa bei Anton Popovič und Ján Ferenčík. In diesem Zusammenhang nimmt sie auch die Unterschiede zwischen der Literaturkritik und der Übersetzungskritik in Augenschein, die sie an den Diskrepanzen in der Rezeption der neuesten slowakischen Übersetzung von Eugen Onegin demonstriert.

 

In den verbleibenden fünf Kapiteln wählen die Autoren jeweils ein bestimmtes Konzept, das Levý entwickelt hat, oder ein Teilthema, mit dem er sich beschäftigt hat, aus und wenden es auf einen ausgewählten Text oder eine Gruppe von Texten an. Da die Kapitel nur lose zusammenhängen, werde ich den Kommentar nicht nach etwa thematischen Einheiten oder theoretischen Fragen gliedern, sondern mich schlicht zu jedem Kapitel einzeln äußern.

 

Im Kapitel Die Zwölf oder Was würde Jiří Levý zur neuesten Übersetzung von Bloks gleichnamigem Poem sagen vergleicht Jana Kitzlerová zwei tschechische Übersetzungen der im Titel genannten Gedichte von A. A. Blok, und zwar von Bohumil Mathesius und Lubor Kasal. Dabei stellt sie die Frage, inwieweit der Beitrag von Jiří Levý zur Theorie der Übersetzung die Strategien von Kasals neuerer Übersetzung modifiziert hat. Der Schlüsselbegriff, auf den sich die Autorin hier bezieht, ist die von Levý definierte „semantische Dichte“. Von diesem Begriff ausgehend analysiert sie auf relativ klassische Art die formalen, semantischen und stilistischen Verschiebungen. Am Ende kommt sie zu dem Schluss, „Jiří Levý wäre wahrscheinlich, wenn ihm die neue Übertragung von Bloks Die zwölf ins Tschechische in die Hände käme, mit ihr bis auf wenige Ausnahmen zufrieden.“ (S. 61)

 

Im Kapitel Goethes Faust in einer neuen tschechischen Übersetzung (unter Berücksichtigung der Ansätze Jiří Levýs) befasst sich Radek Malý mit seiner eigenen Übersetzung eines Teils des Faust, die er für eine Inszenierung von Jan Frič im Prager Ständetheater (Stavovské divadlo) erstellt hat. In der Einleitung wird die Geschichte der Übersetzung dieses bedeutenden deutschen Theaterwerkes ins Tschechische zusammengefasst, woraufhin die spezifischen Bedingungen skizziert werden, in denen die Übersetzung für das Ständetheater entstand. Die dann folgenden chronologisch sortierten Ausschnitte aus früheren Übersetzungen bleiben unkommentiert, Malý rechnet aus nachvollziehbaren Gründen mit einer informierten Leserschaft, die selbst die Verschiebungen und Unterschiede der einzelnen Versionen bewerten kann. Im Fazit beruft sich Malý auf Levýs Analogie der Theaterübersetzung mit der Schauspielerei, die er bei seiner unkonventionellen Herangehensweise an den klassischen Text zugrunde gelegt hatte, als er den Text an die Bedürfnisse der konkreten Inszenierung anpasste.

 

Im darauffolgenden Kapitel mit der Überschrift Zu den Spezifika beim Übersetzen der Digesten bringt Radek Černoch dem Leser die Herausforderungen näher, denen sich ein Übersetzer bei der Arbeit an diesen mittelalterlichen rechtswissenschaftlichen Texten stellen muss. Als problematische Momente wertet er z. B. die Knappheit des Textes, die erhalten werden sollte (und das nicht zu Lasten der Verständlichkeit für Laien), die Uneinheitlichkeit des Textes, die ein für rechtsgelehrte Texte eher ungewöhnliches Merkmal ist, und schließlich die Gebundenheit des Textes an die Rechtsordnung. Bei der Analyse der konkreten Probleme, auf die der Übersetzer bei der Übertragung der Digesten aus dem Lateinischen ins Tschechische stößt (begriffliche Uneindeutigkeit, Fehlen eines Begriffs in der Zielsprache u. ä.), bezieht sich Černoch auf Lösungsvorschläge, die Levý vor allem in seiner Studie Umění překladu (1963; dt. Die Kunst der Übersetzung, 1969) formuliert hat.

 

Das Kapitel Kommunikationsstrategien in Parallelübersetzungen von Marketingtexten funktioniert im Großen und Ganzen nach demselben Prinzip. Das Textkorpus, auf das die von Jiří Levý vorgeschlagenen Methoden angewandt werden, ist diesmal allerdings ein Set von Marketingtexten. In der Einleitung des Kapitels erfolgt eine Zusammenfassung ihrer Typologien, wobei die Spezifika der Marketingkommunikation beschrieben werden. Der zweite Teil des Kapitels behandelt auf der Grundlage von Levýs Ausführungen zur Didaktik der Übersetzung die Frage, wie man Studierenden am effektivsten die Kompetenzen vermitteln kann, die für eine adäquate Übersetzung dieser Textsorte nötig sind. Der Autor führt dabei eine Reihe von Beispielen aus der Lehre an, die den Lesern die konkreten Probleme näherbringen und durch die sich das Kapitel sehr flüssig liest. Schlüsselbegriff dieses Abschnitts ist das Konzept der „Transkreation“ („transkreace), das mehr oder weniger direkt aus Levýs Theorie kommt.

 

Im Schlusskapitel mit dem umfangreichen Titel Olomouc als Etappe in Jiří Levýs Berufsleben. Jiří Levý als Inspiration für die zeitgenössische russistische Übersetzungspraxis beschäftigt sich Zdenka Vychodilová mit zwei lose zusammenhängenden Themen. Der erste Teil des Kapitels ist eine biografische Skizze der Olmützer Zeit in Jiří Levýs Biografie, angereichert mit persönlichen Erinnerungen an die damaligen Kollegen und Studenten. Im zweiten Teil des Kapitels beschreibt die Autorin zunächst detailliert, auf welche Art und Weise die Lehre in den russistischen Studiengängen am Institut für Slavistik an der Philosophischen Fakultät der Palacký-Universität in Olomouc abläuft, anschließend illustriert sie an konkreten Beispielen aus studentischen Übersetzungen die didaktische Verwendung von Levýs Theorie in der Praxis. Der Schlussfolgerung der Autorin, dass „die wesentlichen Elemente des Einflusses von Levýs Vermächtnis auf die übersetzerische Praxis […] sich längst in Axiome der modernen Wissenschaft des Übersetzens verwandelt“ (S. 106) haben, kann man nur zustimmen.

 

Abgerundet wird das Buch durch Zusammenfassungen auf Deutsch und Russisch, wobei die darin enthaltenen Informationen im Prinzip denjenigen aus der Einleitung von Zbyňek Fišer und Ivana Kupková entsprechen.

 

Die Monografie Jiří Levý: Begründer der tschechoslowakischen Translatologie ist vor allem dadurch eine gewinnbringende Lektüre, dass sie auf den axiomatischen Charakter von Levýs Vermächtnis verweist. Obwohl fünf von neun Kapiteln nicht direkt dem Werk und der Person Jiří Levýs gewidmet sind, sondern vielmehr belegen, dass man die von Levý beschriebenen Ansätze als Grundlage für die Analyse konkreter Texte verwenden kann, stimme ich der Bewertung von Marián Andričík zu, der diese Publikation als qualitativ hochwertige Informationsquelle für Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Studenten und alle, die sich für das Übersetzen interessieren, bewertet, wie auf Slowakisch auf der Umschlaginnenseite zu lesen ist.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Ivana Kupková / Zbyněk Fišer et al. (Hg.): Jiří Levý: zakladatel československé translatologie [Jiří Levý: Begründer der tschechoslowakischen Translatologie]. Brno: Masarykova univerzita, 2019, 132 S.


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