Es schreibt: Daria Šemberová

(14. 10. 2020)

Die dreisprachige Anthologie „Die schönen Überbleibsel nach dem Ende der Welt.“ Sudeten, literarisch. „Piękne resztki po końcu świata.” Sudety literackie. „Krásné relikty po konci světa.“ Sudety literárně (Dresden: Thelem, 2017) enthält Beiträge der deutsch-, tschechisch- und polnischsprachigen AutorInnen, die sich 2015 im heutigen Wrocław (ehem. Breslau) getroffen haben, „um sich auf einer Tagung über den je eigenen Gehalt des Terminus Sudeten auszutauschen und um einander literarische Texte, die sich dezidiert diesem Raum zuwenden, zu präsentieren” (S. 9). Diesbezüglich sollen die Worte der Herausgeber Jörg Bernig, Wojciech Browarny und Christian Prunitsch hervorgehoben werden, die im Vorwort den „Eintritt der Sudeten in ihre postindustrielle, postnationale und vielleicht postkoloniale Phase“ (S. 7) betonen und das Hauptanliegen des Lesebuches folgendermaßen festsetzen: „Die Ideen für das Neu-Schreiben der Sudeten überschreiten die nationalen wie die Generationen- und Genregrenzen“ (S. 9). Dieser Satz rückt sowohl die Idee eines Neubeginns in der literarischen Herangehensweise an den Raum der Sudeten als auch den postulierten Transgressionscharakter des Sammelbandes in den Vordergrund.

 

Angesichts der Tatsache, dass sich die Potsdamer Konferenz, auf der die Staatschefs der drei alliierten Siegesmächteim Sommer 1945 über eine Neuordnung der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa verhandelt hatten, zum 75. Mal jährt, erscheint eine Lektüre der gesammelten Beiträge mit Blick auf das Potsdamer Abkommen plausibel. Auch der Titel der Anthologie legt eine solche Sichtweisenahe: „nach dem Ende der Welt“ kam eine Neuordnung der Welt, die sowohl eine politisch-wirtschaftliche als auch eine geografisch-territoriale Neuordnung in Gang brachte. Die drei Regierungschefs Stalin, Truman und Churchill/Attlee einigten sich damals unter anderem über „die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn“ (vgl. Potsdamer Konferenz 1945. Die Neuordnung der Welt. Hg. für die Generaldirektion der Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg von Jürgen Luh unter Mitarbeit von Truc Vu Minh und Jessica Korschanowski. Dresden: Sandstein Verlag, 2020, S. 14), was die Nachkriegsgeschichte der Region Sudeten wesentlich beeinflusste.

 

In Bezug auf die Komposition der 230-seitigen Anthologie soll auf eine gelungene und beinahe mustergültige Ausgewogenheit hingewiesen werden: Das Arrangement umfasst neun Texte der tschechischen, polnischen und deutschen AutorInnen, unter denen drei Frauen vertreten sind. Die Auslese ist erfreulicherweise nicht nur durch eine sprachliche bzw. nationale Balance und die Bemühung um Genderausgeglichenheit gekennzeichnet: Die SchriftstellerInnen, von denen die älteste 1928 und der jüngste 1982 geboren wurden, lassen sich in drei Altersgruppen aufteilen. Wenngleichsich die Ordnung der Anthologie an der alphabetischen Reihenfolge orientiert, stellt die im Folgenden dargebotene Besprechungder gesammelten Aufsätzeden Versuchin dergenerationellen Zuordnung der einzelnen AutorInnen dar.

 

Die umfangreichste Gruppe repräsentieren – was sich anhand der im Anhang beigefügten Kurzbiografien mühelos feststellen lässt – die SchriftstellerInnen, die in den 1950er, 1960er Jahren und Anfang der 1970er Jahre geboren wurden. Bestimmt man als gemeinsamen Bezugspunkt der literarischen Essays das Ende des Zweiten Weltkrieges sowie die darauffolgende Welle der Völkerwanderung in Mitteleuropa, zu der neben der Vertreibung der Deutschen, infolge deren schätzungsweise 14 Millionen Menschen ihr Zuhause verloren hatten,unter anderem auch die Westverschiebung der polnischen Staatsgrenze, die Zwangsumsiedlung ethnischer Lemken sowie der Zuzug der slowakischen Romain die tschechischen Grenzgebiete gehören, können die AutorInnen wie Peter Becher (*1952), Jörg Bernig (*1964), Radek Fridrich (*1968), Olga Tokarczuk (*1962) und Jaromír Typlt (*1973) der zweiten Generation resp. Generation der Kinder zugeordnet werden. Der ersten Generation, die die Barbareien der unmittelbaren Nachkriegszeit miterlebt hatte, gehören hingegen die deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin Gudrun Pausewang (1928–2020) sowie der polnische Maler, Grafiker und Schriftsteller Henryk Waniek (*1942) an. Die jüngste Generation wird in der Anthologie durch die tschechische Autorin Jakuba Katalpa (*1979) und den polnischen Reporter und Fotografen Filip Springer (*1982) vertreten.

 

Die Texte der AutorInnen der ersten Generation sind insbesondere durch das Thema der Suche gekennzeichnet. Pausewang befasst sich in ihrer Kurzgeschichte Erst bin ich Mensch mit dem Phänomen einer übernational definierten Menschlichkeit. Die mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Autorin, die sich in ihren früheren Werken unter anderem mit dem Problem der atomaren Bedrohung und den desaströsen Konsequenzen von Nuklearkatastrophen auseinandersetzte, thematisiert in ihrem Beitrag das Schicksal eines deutschen Geschwisterpaars, das nach dem Tod des Großvaters in der Zeit der Vertreibung Zuflucht bei einem polnischen Bauern findet und auf der Suche nach einer nationalen Identität ist. Wanieks stark autobiografisches Erinnerungsgewebe Das Hundedenkmal ist dagegen eine literarische Rekonstruktion der langjährigen und mühsamen Suche des Erzählers nach einem geheimnisvollen Ort in Niederschlesien, an dem er nach dem Kriegsende seine Kindheit im Schatten des Zobtenbergs (Ślęża) verbrachte.

 

Die Texte der zweiten AutorInnen-Generation lassen sich durch ein dialektisches Spannungsverhältnis von Präsenz und Abwesenheit kennzeichnen. Im Beitrag unter dem aussagekräftigen Titel Mein Sudetenland beschäftigt sich Becher mit einer subjektiven definitorischen Ermittlung des Raumes Sudeten. In der Adventsgeschichte Zurüstungen behandelt Bernig das Motiv einer rituellen Winterreise, während deren sich ein Vater und sein Sohn alljährlich auf den Weg ins Isergebirge (Jizerskéhory/Góry Izerskie) begeben, „um den besagten berühmten böhmischen Christbaum zu holen“ (S. 25). In der literarischen Montage Januskopflandschaft, die durch eine kombinierte Technik des Zerschneidens und Zusammenfügens des textuellen Materials freie Gedankenassoziationen mit dem bildrhetorischen Œuvre des in Prag und Berlin schaffenden Fotomontagekünstlers John Heartfield herbeiführt, stellt Fridrich sein eigenartiges Verfahren der „Frottagenherstellung in der Landschaft“ (S. 60) dar und erzählt von seinem Traum, „[e]ine Art sudetendeutsches Totenbuch“ (S. 72) zu Ende zu schreiben. Tokarczuk schildert in ihrem Prosastück Die unwilligen Eroberer Ausschnitte aus dem Leben der neuen Ansiedler, die 1945 aus den ehemaligen polnischen Gebieten in Osteuropa „in die neue Welt“ (S. 156) der niederschlesischen Gemeinde Nowa Ruda (Neurode) gekommen sind, in der die Autorin wohnt. Typlt, der letzte und jüngste Vertreter der zweiten Autorengeneration, setzt sich in seiner hochspannenden Kurzgeschichte Sie sind nicht gekommen. Sie sind aufgetaucht. (In Anlehnung an das Prosastück Feld über mir) mit den Alpträumen und Ängsten in der tschechischen Erinnerungskultur der Gegenwart auseinander.

 

In den Texten der dritten Generation wird hingegen die Anthropogeografie der Sudetenlandschaft besonders hervorgehoben. In ihrem Essay Geografie eines Verlustes fokussiert Katalpa in Form prägnanter Mikrokapitel die Geschichte und Gegenwart des Grenzgebietes. Der aus Poznań (Posen) stammende Autor Springer, der seine Erinnerungen an mehrere Reisen in die Sudetenlandschaft schildert, behandelt im literarischen Porträt Das Reich die Sudetenlandschaft mit großer Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, was auch für seine Reportagen-Sammlung Miasto-Archipelag symptomatisch ist.

 

Stille Helden der gesamten Anthologie sind zweifellos die ÜbersetzerInnen Jiří Karas, Bogumiła Patyk-Hirschberger, Jana Zoubková, Małgorzata Słabicka, Věra Koubová, Dorota Dobrew, Jana Krötzsch, Doris Kouba, Jana Kudělková, Eva Kaizarová, Markéta Pěluchová, Nikola Mizerová sowie der Herausgeber Christian Prunitsch, deren fundierte Kenntnisse und emsige Translationsarbeit das ambitionierte dreisprachige Vorhaben ermöglichten.

 

Alles in allem ist die dreisprachige Sudeten-Anthologie lesens- und empfehlenswert. Man würde in der Auswahl allerdings eine größere Anzahl von jüngeren literarischen Stimmen begrüßen. Es wäre interessant zu vergleichen, wie die in den 1980er und 1990er Jahren geborenen AutorInnen den geografischen, urban-architektonischen sowie kulturellen Raum der Sudeten heutzutage wahrnehmen, d. h. in den Zeiten der zunehmenden neoliberalen Ausbeutung (sowohl der Menschen als auch der Landschaften) und sich miteinander überlappenden Finanz-, Identitäts- und Flüchtlingskrisen, in denen nicht nur die ökonomische Migration, sondern auch die Flucht und Zwangsumsiedlung zur alltäglichen Realität geworden sind. Einige wenige konkrete Fragenvorschläge aus dem Bereich der von den Herausgebern genannten „Um-, Neu- und Andersschreibung im Sinne lokaler bzw. regionaler identitätsstiftender kultureller Praktiken“ (S. 7) wären zum Beispiel: Wie ist es, in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts im peripheren Raum Sudeten als Mitglied einer ethnischen / konfessionellen / sexuellen Minderheit, als eine alleinerziehende Mutter, Langzeitarbeitsloser oder eine pensionierte Alleinlebende zu wohnen?

 

 

Jörg Bernig / Wojciech Browarny / Christian Prunitsch (Hrsg.): „Die schönen Überbleibsel nach dem Ende der Welt.“ Sudeten, literarisch. „Piękne resztki po końcu świata.” Sudety literackie. „Krásné relikty po konci světa.“ Sudety literárně. Dresden: Thelem, 2017, 231 S.


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