Es schreibt: Steffen Höhne

(E*forum, 7. 10. 2020)

Die Korrespondenz zwischen dem Prager Germanisten August Sauer und dem Grazer Bernhard Seuffert eröffnet einen über die Geschichte der wissenschaftlichen Kommunikation hinaus wichtigen, auch kulturhistorisch relevanten Quellenfundus. Erfasst wurden über 1200 Briefe und Karten zwischen 1880 und 1926, davon ca. 300 abgedruckt, von zwei die Germanistik in entscheidender Weise prägenden Gelehrten, insbesondere was die Herausbildung und Profilierung einer eigenständigen Neuen Deutschen Literaturwissenschaft betrifft. Beide wirkten in Österreich, beide waren Schüler des einflussreichen Germanisten Wilhelm Scherer, beide erhielten im gleichen Jahr 1886 einen Lehrstuhl, Seuffert in Graz, Sauer, der zuvor in Graz wirkte, in Prag. Beide gehen von der ästhetischen Einzelfallanalyse literarischer Werke aus (S. 550). Ihre Hauptarbeitsgebiete lagen auf dem Gebiet der biographischen Grundlagenforschung, der Edition und Literaturgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts, bei Seuffert mit Schwerpunkt auf Christoph Martin Wieland, bei Sauer auf Franz Grillparzer, Adalbert Stifter und der Literaturgeschichte Österreichs. Beide erwarben aber auch Verdienste mit Fachzeitschriften wie Seuffert mit der Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte (1888–1893) und Sauer mit dem Euphorion (1893 bis heute).

 

Deutlich werden in dem Briefwechsel nicht nur zwei unterschiedliche Wissenschaftlerpersönlichkeiten, der extrovertierte Sauer, der eher introvertierte Seuffert, sondern auch die Entwicklung der akademischen Disziplin der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Deutlich werden darüber hinaus Aspekte der weiteren Wissenschafts- und Kulturpolitik, ein Feld, in dem sich beide positionieren (müssen). Bereits Sauers Ernennung in Prag war durch Intrigen im Vorfeld alles andere als sicher, wie der verärgerte Kandidat am 6. 1. 1886 an Seuffert berichtet: „Lieber Freund, der Prager Vorschlag [ist] unter diesen Umständen für mich mehr eine Schande als eine Ehre.“ (S. 159). Von welchen Unwägbarkeiten eine Berufung auf ein Ordinariat abhing, Sauer war ja schon längst Professor in Prag, wird aus einem Schreiben am 14. 10. 1889 deutlich: „Im Ministerium sagte man mir das Haupthindernis meiner Ernennung sei das geringe Erträgnis der Branntweinsteuer“ (S. 262). Ferner belegen die Briefe eine gewisse Abneigung Sauers gegen Prag: „ich trauere um das schöne, grüne, gesunde Graz in diesem Steinhaufen und vermisse wol auch gute Bekannte. Die Hörer (15 an der Zahl) sind reine Brotstudenten; sehr arm, ganz unwissend. Neue Litt. hat hier gar keine Tradition.“ (S. 177)

 

Solche Aversionen verstärken sich vor dem Hintergrund einer letztlich vergeblichen Berufung nach Wien, aber auch angesichts widriger Arbeitsbedingungen. Zur Ausstattung in Prag vermerkt Sauer: „Durch den unglaublichen Leichtsinn [Kelles] besitzt unser Seminar gar nichts. […] Wir sind in einem Loch untergebracht, in dem kaum 5 Leute athmen können. Bibliotheksdotation keine! Für Stipendien 180 fl. pro Semester, welche Summe wir unter uns theilen. Was wir davon ersparen, verwenden wir auf Bücherankauf. Der Bibliothekar versah bisher sein Amt umsonst; im vorigen Sommersemester verliehen wir ihm, da er auch sonst unsere Arbeitssäule ist, zum ersten Mal auf mein Andringen ein Stipendium von 30 fl. Das Bibliothekszimmer ist gesperrt, der Schlüssel ist beim Pedell u. Portier, Bibliotheksstunden dem Belieben des jeweiligen Bibliothekars überlassen;“ (27. 11. 1892; S. 304 f.; Herv. i. O.)

 

Dennoch gelang es Sauer, der mit der Absicht antrat, aus der Randlage in Prag „Verständnis für die Geschichte der deutschsprachigen Literatur Österreichs“ zu erwecken (S. 39), durch eine Vielzahl von institutionellen (Grillparzer-Gesellschaft, Litterarischem Verein, Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen) und editorischen Projekten (Grillparzer-Ausgabe, Stifter-Ausgabe, Goethe-Briefe, Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen) dem Institut ein überregionales Profil zu verleihen. Immer wieder kommt man im Briefwechsel auf den Euphorion zu sprechen, ein bis heute existierendes Periodikum, dessen Durchsetzung in den Anfangsjahren aber offenbar alles andere als selbstverständlich war. Dies betraf die rechtzeitige Einwerbung von Manuskripten, die Rolle von Besprechungen, aber auch verlegerische und finanzielle Fragen. Sauer nutzt offenbar seine Beziehungen zur Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen, um Druckkostenzuschüsse für das Periodikum zu erhalten (Brief vom 21. oder 22. 5. 1895) und „verknüpfte ganz arglos,“ so die Herausgeber des Bandes, „die wissenschaftlichen Ziele der österreichischen Germanistik mit seinen persönlichen Ambitionen“ (S. 51). Andererseits kommt es u. a. wegen der Kritik an der Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte von Johann Willibald Nagl und Jakob Zeidler zu Zerwürfnissen mit dem Verleger Fromme, der eine Besprechung im Euphorion erwartet, was Sauer verweigert (Briefe vom 6. 3. 1899, 1. 5. 1899, 6. 10. 1899). Ärger gibt es zudem wegen immer wieder erneut erhöhter Druckkostenzuschüsse durch Fromme, ein „Erzspitzbube“ bzw. „unzuverläßiger Cumpan“, wie Sauer am 1. 11. 1901 bzw. am 2. 6. 1902 berichtet (S. 482, 489). Die Sorgen um die Finanzierung des Euphorion ziehen sich durch fast den gesamten Briefwechsel. Berücksichtigt man noch den Ärger über Kollegen und Mitarbeiter, fehlgeschlagene Berufungen, Kollegen in Prag, die wie Johann Kelle ungeachtet ihres Alters nicht ans Aufhören denken (S. 411), so scheint Sauer zwischendurch die Freude am Beruf verloren zu haben, wie er resignativ in einem Brief vom 10. 10. 1889 äußert: „So drängt mich eigentlich alles dazu hin, mich vom publicistisch-betriebsam-litterarischen Leben ganz zurückzuziehen und wie Sie nur der Untersuchung zu leben und je früher dieser Tag, der mich mir selbst zurückgibt, einträte, desto besser wär es für mich, meine Gesundheit, meine Zukunft und mein Arbeiten. So bindet man sich selbst die Ruten, mit denen man todtgegeißelt wird.“ (S. 418)

 

Gravierend wird es dann, wenn sich Ärger und Sorgen auf Angelegenheiten erstrecken, die Sauer sehr viel bedeuten wie die von ihm betreute Stifter-Ausgabe im Rahmen der Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen, für die er 13 Bände ohne Honorar redigiert habe, ein Opfer, wie Sauer vermerkt, dass nur bei „Einblick in die hiesigen politischen Verhältnisse“ zu verstehen sei (27. 12. 1902; S. 502). Andererseits hält diese Arbeitsbelastung Sauer nicht davon ab, sich auch in der Herausgabe der Deutschen Arbeit zu engagieren (nach dem 21. 9. 1900; S. 465) oder sich 1907 zum Rektor der Universität wählen zu lassen. Tagespolitische Ereignisse finden bestenfalls am Rande Erwähnung, wenn z. B. über die Erfolge der Gesellschaft berichtet wird, durch deren Wirken „Parität in der Kunstgalerie“ durchgesetzt werden konnte (27. 12. 1902; S. 502), oder wenn Berufungsfragen auf der Agenda standen. So sieht Sauer angesichts der Badeni-Unruhen Probleme, bestimmte präferierte Kollegen an die Prager Universität ziehen zu können (S. 411f.), in einem anderen Fall wird eine unpolitische Einstellung als Vorteil herausgestellt: „Endlich habe ich ihn nie davon reden hören, dass er Prag für eine unerträgliche univ.-stadt hielte. Ich habe nie bemerkt, dass er aktiv politiker ist, habe auch m. erinnerns nie mit ihm politisiert, glaube mich aber doch seines deutschbekenntnisses als einer selbstverständlichen sache bestimmt zu erinnern.“ (6. 5. 1899; S. 436)

 

Der hier umworbene Konrad Zwierzina wechselte allerdings an die Universität Freiburg in der Schweiz. Andererseits, auch diese Überlegungen gehörten offenbar dazu, spielte die konfessionelle Zugehörigkeit durchaus eine Rolle, was Sauer gegen eine Bewerbung von Samuel Singer dokumentiert: „Aber ein Jude als Germanist ist hier grad so unmöglich wie in Graz oder Innsbruck. Der Studenten wegen.“ (8. 5. 1899; S. 435) Die nationale Polarisierung wird auch in der Verweigerung einer außerordentlichen Professur für Spiridion Wukadinović, deutlich, der laut Kollegen, wie Sauer vermerkt, an der „utraquistischen Technik-Bibliothek, die er leitet, nur tschechisch“ spreche. Er habe sich „dort ganz auf die Seite der Tschechen von Anfang an geschlagen“ (13. 6. 1911; S. 587). Reflektiert werden zudem die Unruhen im Umfeld von Sauers Rektorat, so gegen Ende 1908 nach einer Vertagung des böhmischen Landtags und sich daran anschließende Auseinandersetzungen seitens der Studenten, was am 2. 12. 1908 zur Verhängung von Standrecht und Farbenverbot in Prag führte.

 

Es ist daher wenig verwunderlich, dass auch scheinbar politikferne, philologische Editionsprojekte von Sauer durchaus in den Kontext der nationalen Auseinandersetzung in Prag gestellt werden. Die Goethe-Briefe werden zwar auch aufgrund des Umfangs zum Teil in der Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen ediert, wobei der Band Briefwechsel zwischen J. W. v. Goethe und Kaspar Graf v. von Sternberg auch als „politische That“ (S. 502) fungiere, als ein „Kampf um das kulturelle Erbe Böhmens“ (S. 48), was Sauer in einem Nachtrag vom 27. 12. 1902 gesondert hervorhebt: „Die Deutschen haben in Böhmen für gewisse Dinge das Gedächtnis u. das Interesse verloren. Die Čechen nehmen die Pflege der Vergangenheit ganz für sich in Anspruch. Sie bezeichnen die Periode der Litter. von 1750 ab als čechische Litt. In deutscher Sprache. Auch Sternberg fassen sie so auf und Bratranek war mehr Čeche als Deutscher und hat dem Rechnung getragen. Darum ist es wichtig, dass St.[ernberg] für unsere Bibliothek reclamiert wurde. Auch werden sich die Čechen darüber ärgern, dass sie sich haben diese Dinge entgehen lassen, dass die čech. Akademie diese Ausgabe nicht gemacht hat.“ (S. 503f.)

 

Auf der anderen Seite grenzt sich Sauer von den radikalisierten jüngeren Kollegen ab, wenn er Otokar Fischer gegen eine ungerechtfertigte Polemik von Wilhelm Kosch in Schutz nimmt (S. 599f.) oder er sich von Kollegen wie Herbert Cysarz distanziert (S. 624).

 

Ungeachtet aller Übereinstimmung in fachlichen und personellen Fragen zeigen sich aber auch Differenzen, was insbesondere Seufferts Vorbehalte gegen Stammescharakteristik und damit gegen Sauers Rektoratsrede 1907 belegen. Bereits 1891 äußert Seuffert Skepsis gegen den stammesgeschichtlichen Ansatz: „Ich stemme mich überhaupt gegen stammescharakteristik. Was wächst denn bei Weltrich aus der Schwäbelei für Schiller heraus? Karls regiment brauchen wir für Sch.[iller], wie Franzens für Gr.[illparzer] zum Verständnis. Aber auf das stämme zeichnen hab ich wenig, nein! kein wissenschaftliches vertrauen.“ (12. 3. 1891; S. 292)

 

Und zur Rektoratsrede schreibt er am 5. 3. 1908: „Ich habe Ihre rede mit grossem interesse gelesen. Aber Sie müssen verzeihen, dass ich mich zu ihrem ziel nicht bekenne. Die botschaft ist schön, allein mir fehlt der glaube. […] Kurz: ich verzweifle, dass die volkskunde leisten wird, was die voraussetzung für Ihre stammeslitteraturgeschichte ist.“ (http://sauer-seufert.onb.at)

 

Dagegen weiß sich Sauer nur schwach zu verteidigen: „Die höchsten ästhetischen Spitzen und künstlerischesten Leistungen werden vielleicht nicht berührt oder ändern sich wenigstens nicht nach meiner neuen Betrachtungsart; aber das Gesa[mm]tbild verschiebt sich. Und endlich will ich es nur als Korrektiv neben allen andern Betrachtungsarten; (nach dem 5. 3. 1908; S. 576; Herv. i. O.)

 

Was ansonsten im Briefwechsel auffällt ist, dass man keine Erwähnung der Prager Moderne findet, also von Autoren des Prager Kreises, die wie z. B. Rainer Maria Rilke mit Sauer persönlich bekannt waren, zu anderen bestand Kontakt über die Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen. Möglicherweise liegt dies an einem philologischen Verständnis, welches nur die kanonisierten Autoren einer akademischen Auseinandersetzung für würdig befindet.

 

Und auch der Weltkrieg sowie die Nachkriegsordnung finden nur in knappen Notaten Erwähnung. Am 2. 5. 1915 schreibt Sauer, er „habe einen vollen Hörsaal, aber wie es scheint, überwiegen die Damen.“ (http://sauer-seufert.onb.at) Nach den Weltkrieg berichtet ein resignativer Seufert am 22. 5. 1919: „Sie werden noch mehr unter den Verhältnissen leiden. Ob wir bessere Jahre noch erleben?“ Und am 29. 10. 1919: „Wir gehen dem Hungern und Frieren entgegen, versichern uns unsere Behörden. Auch gut; es ist so keine Freude zu leben.“ (http://sauer-seufert.onb.at) Sauer repliziert am 3. 11. 1919: „Was man sonst zu schreiben hätte, [ka]nn man dem Papier nicht anvertrauen. Ich habe mir mein Alter anders vorgestellt und nun weint man täglich blutigste Tränen.“ (https://edition.onb.ac.at/context:sauer-seuffert; diese Schreiben nur auf der Homepage) Ohnehin verläuft die Korrespondenz zwischen beiden zu diesem Zeitpunkt eher schleppend, der Höhepunkt des Austausches ist überschritten.

 

Ergänzt um einen ausführlichen editorischen Bericht zur Überlieferung der Korrespondenz, zum Verhältnis zwischen Druckausgabe, der digitalen Edition bzw. der Webplattform (http://sauer-seufert.onb.at), den Auswahlkriterien der etwa 300 Texte aus dem Gesamtbestand von über 1200, Hinweisen zu Ordnungsprinzipien, Textkonstitution und -darstellung sowie zu den Kommentaren erhält man einen hervorragend aufbereiteten Briefkorpus. Ein Anhang mit tabellarischem Gesamtverzeichnis der Korrespondenz, Zeittafeln zu Sauer und Seuffert, eine Bibliographie der von beiden verantworteten Neudruckreihen und ein kommentiertes Namensverzeichnis erleichtern zudem die Orientierung.

 

Wird man auch an der ein oder anderen Stelle ausführlichere Erläuterungen benötigen, die Probleme der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen, auf die Sauer im Brief vom 7. 4. 1910 zu sprechen kommt, resultieren gerade aus den erheblichen finanziellen Aufwendungen, die die Herausgabe der Deutschen Arbeit erforderte, so darf man uneingeschränkt von einer Meisterleistung sprechen, mit der diese wichtige Korrespondenz nun zur Verfügung steht. Deren Bedeutung sei abschließend mit den Worten August Sauers eindrücklich dokumentiert: „Fast scheue ich mich, Ihnen diesen Brief zu senden; aber Sie sind der einzige meiner Freunde, mit dem ich in einem wirklichen Briefwechsel stehe.“ (2. 6. 1902; S. 490)

 

 

Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Hrsg. von Mirko Nottscheid, Marcel Illetschko und Desiree Hebenstreit in Verbindung mit Bernhard Fetz und Hans-Harald-Müller. Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2020, 838 S.


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