Es schreibt: Filip Charvát

(E*forum, 23. 9. 2020)

Anthologien über das literarische Prag (oder Prag als literarischen Topos) gibt es eine ganze Reihe. Eine chronologisch geordnete kleine Auswahl ist etwa die folgende: 1969, das heißt unmittelbar nach dem politischen Prager Frühling von 1967/68, veröffentlicht Josef Mühlberger Das hunderttürmige Prag. Im Spiegel deutscher Dichtung und Urkunden. Nach der samtenen Revolution von 1989 kommt es zu einer regelrechten Welle an Prager Blütenlesen: Die unheimliche Stadt (1992) von Hellmuth G. Haasis präsentiert Prag genauso wie Mühlberger ausschließlich durch deutschsprachige Quellen, wobei das Leitmotiv des Unheimlichen sich einmal auf die vielen gespenstischen Geschichten bezieht, das sogenannte „mystische“ Prag, dann wieder darauf, dass es sich bei dem Buch nach der Ermordung der Juden und nach der Vertreibung der Deutschen aus Land und Stadt eigentlich um ein Totenbuch handelt, das sich allerdings dem „zweiten Tod“, dem des Vergessens, durch die literarische Erinnerung entgegenstemmen möchte; so jedenfalls der Herausgeber. Auch in der Folge steht in Anthologien die Erinnerung an das Panorama der Prager deutschen Literatur und ihre sehr häufig jüdische Prägung im Vordergrund, etwa in den von Dieter Sudhoff und Michael M. Schardt herausgegebenen Prager deutschen Erzählungen (1992), Christian Grünys Jüdischen Erzählungen aus Prag (1997) oder den von Jiří und Gabriela Veselý besorgten Prager Geschichten deutschböhmischer und deutschmährischer Autoren, die 1998 unter dem Titel Das Herz Europas publiziert wurden. Im selben Jahr wird in einem anderen Band dann auch eine der Region deutlich weniger verpflichtete Perspektive eröffnet, nämlich in der von Helmuth A. Niederle edierten Textsammlung Europa erlesen. Prag. Zwar finden wir hier ebenfalls Texte von Kafka oder Werfel, gleichwertig daneben aber auch klassische Vertreter der tschechischen Literatur wie Kundera oder Hrabal, ferner deutschsprachige Autoren, die sich zeitweilig Prager und böhmischen Themen in ihrem Werk angenommen haben, wie Mörike oder Grillparzer, oder überhaupt Vertreter der Weltliteratur, sei es Majakowski oder Claudel, die sich einmal marginal zu Prag geäußert haben mochten. Einen ganz anderen Zugang präsentieren schließlich Marek Nekula und Andrea Fischerová, wenn sie in ihrer Prag-Anthologie von 2012 ausschließlich Originaltexte deutschschreibender Autoren tschechischer Herkunft, wie Katja Fussek, Jiří Gruša oder Maxim Biller, unter dem Titel bzw. Motto Ich träume von Prag. Deutsch-tschechische literarische Grenzgänge veröffentlichen.

 

In diese Reihe (und ähnliche Reihen) stellt sich nun also das von Petra Knápková herausgegebene Büchlein Prag. Eine literarische Einladung. Es erschien 2019 im Berliner Verlag Klaus Wagenbach und ist 140 Seiten dick – oder dünn. Das Buch hat den für den Wagenbach-Verlag typischen intensiv-roten Einband, ist ein in die Höhe gezogenes Rechteck, das als Begleiter bei Stadtstreifzügen gut in die Innentasche des Sakkos passt. Handlich also im Format. Das Cover – dekoriert mit einem Bild, das einen Blick auf die Brücken der Moldau, das Nationaltheater und im Hintergrund den Wyschehrad freigibt, wohl vom Standpunkt der Villa Kramář auf dem Letná-Fels fotografiert.

 

Dieses Büchlein präsentiert literarische Einblicke in die Stadt Prag von insgesamt 23 tschechischen Literaten seit dem Krieg, die allesamt einen engen biographischen Bezug zur Stadt haben, mag man sich bei Lenka Reinerová auch über die nationale Zuordnung streiten können. Die Entscheidung sich nahezu ausschließlich auf die neuere tschechische Literatur zu beschränken, könnte in Bezug auf die oben skizzierte Genre- oder Reihengeschichte als Alleinstellungsmerkmal (und also als Rechtfertigung dieser neuesten Anthologie) aufgefasst werden, wird aber leider weder in Titel noch Untertitel zur Sprache gebracht.

 

Die Reihenfolge der Texte, die nicht weiter in Kapiteln geordnet werden, folgt einzig dem Datum ihrer Ersterscheinung. Damit ist klar, dass die erzählte Zeit zwischen den Geschichten eine wirre Chronologie ergeben muss. Unsere Lektüre beginnt mit Jiří Weils berühmter Anekdote aus der Protektoratszeit, Mendelssohn auf dem Dach, springt dann mit Petiška zum ewigen Juden ins Mittelalter, wir geistern, etwa von Kundera oder Ajvaz geleitet, durch verschiedene mehr oder weniger magische Welten des real existierenden Sozialismus, erhalten von Reinerová eine touristisch-etymologische Auskunft über die Zeltnergasse und enden postmodern-peripher, etwa mit ein paar Marginalien zum Massentourismus bei Rudiš, wobei mir – als immerhin lizensiertem Stadtführer – ein Rätsel ist, wo sich jener im letzten Text von Kantůrková beschriebene „rechteckige Platz“, schon „eher außerhalb der Stadt“ mit der „Brücke“, dem „kalten Fluss“, den „Zitterpappeln“ und der „nagelneuen Fabrik im kargen Gebirgsvorland“ wohl befinden könnte. Weiter verstehe ich nicht, warum dieses Buch gerade mit einer Einstellung auf die „rührend wirkenden knochigen Knie eines Knaben“ enden soll. – Aber gut. Nach Angabe der Herausgeberin in der kurzen Einleitung ist das so geplant: „Denn Blickwinkel und Ungleichzeitigkeiten sind entscheidend in dieser Stadt der Literatur.“ Keine Ordnung also. Keine pronominale Verbindung der einzelnen Texte durch Kernmotive, wie in Boccaccios Decamerone etwa, keine kartographische Präsentation der Stadt anhand von Zeit- oder Raumkoordinaten. Der etwas chaotische Charakter der Perspektive sei hier Programm. Auch die stark differierenden semantischen Gesten der verschiedenen Erzählungen verstärken den disparaten Zug des Lesebuchs. Es gibt hier in sich geschlossene Anekdoten (Weil), den Abriss der ganzen Lebens- und Leidensgeschichte eines Prager Juden (Pavel), surreale Filmsequenzen (Hrabal), impressionistische Parkbilder (Hakl), humoristische Texte (Šlitr/Suchý), Short-Stories (Topol) oder ganz erratische Beschreibungen (Kantůrková). Man kann das positiv oder kritisch werten, ganz nach Geschmack oder jenachdem, welche denn die eigentliche Zielgruppe dieses Büchleins sein soll. Knápková versammelt Autoren und Autorinnen, die heute als im tschechischen Literaturbetrieb – für diesen Literaturbetrieb – etabliert erscheinen und liefert also auch eine kleine Anthologie tschechischer Gegenwartsliteratur. Das ist immer brauchbar – und gerade in dieser Hinsicht hat das Buch mir selbst am ehesten Nutzen gebracht. Ob dies für Durchreisende, die große Masse der Prag-Besucher, die im besseren Fall Kundera plus (vielleicht) einen Autor kennen, auch der Fall ist, ist zu bezweifeln. So wendet sich dieses Buch also an diejenigen, die mit Geschichte und Topographie der Stadt bereits ganz gut vertraut sind – wer sonst auch, sollte mit Lanka aus Wrschowitz, dem „besten Hagiborschen Balljungen“ der „ersten Republik zwischen den beiden Weltkriegen“ etwas anfangen können? – Alternativ, sollte sich das Buch doch an ein breiteres fremdländisches Publikum wenden, wäre es sicher eine Überlegung wert gewesen, immerhin eine Zusammenstellung der Texte nach geschichtlichen, inhaltlichen oder dem Stadtplan angepassten Gesichtspunkten zu überlegen.

 

Neben diesen chronotopischen und intertextuellen Bedenken kann hier noch eine andere Frage gestellt werden: Gibt es womöglich einen oder einige thematische Schwerpunkt(e) in dieser Textsammlung? Und hier wird man eine überraschende Feststellung machen: Ja, einen solchen gibt es, und es ist der sozusagen trivialste: Gut die Hälfte der Geschichten könnte dem Genre einer weiter gefassten phantastischen Literatur zugeordnet werden. Geister- und andere magische Geschichten sind auffällig häufig vertreten. Ob sich die Herausgeberin oder eher: die Autoren selbst dem Topos vom „sagenumwitterten Prag“ anbiedern, ob sie sich diesem – geschichtsbewusst – stellen oder ob wir es mit einem satirischen Umgang mit dem Stereotyp zu tun haben, kann an dieser Stelleoffen gelassen werden. Jedenfalls ist es auffällig. Zwar gibt es auch andere Blickwinkel, wie etwa den schon erwähnten, wenig sentimentalen von Jaroslav Rudiš, sehr häufig aber hat es den Anschein, die tschechischen Autoren würden mit jenem Geist polemisieren wollen, den Anfang des 20. Jahrhunderts Arne Novák herbei geschworen hatte, um seine Idee von der eigentlich heimischen, das hieß nicht-deutschen, das hieß tschechischen Perspektive auf Prag zu erklären, als er sich in einer Rezension gegen Gustav Meyrink mit den Worten ereiferte: „Vom wirklichen Prager Leben kennt der Autor des Golem überhaupt nichts oder will es zumindest nicht kennen. Absichtlich verschweigt er, dass außer dem grotesken Prager Inselchen, wie es das hiesige Ghetto darstellt, ein reger Industrie- und Handelsverkehr braust und fließt, ein wissenschaftliches und künstlerisches Streben, die fröhliche und junge Strömung einer befähigten Nation.“ (Kurt Krolop: Die tschechisch-deutschen Auseinandersetzungen über den „Prager Roman“ [1914–1918]. In: Praha – Prag 1900–1945. Literaturstadt zweier Sprachen. Hrsg. v. Peter Becher / Anna Knechtel. Passau: Stutz, 2010, S. 175–182, hier S. 176)

 

 

Petra Knápková (Hg.): Prag. Eine literarische Einladung. Berlin: Wagenbach Klaus GmbH (Salto), 2019, 144 S.


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