Es schreibt: Franz Adam

(26. 8. 2020)

Der Germanist, Bohemist und Übersetzer Lukáš Motyčka, Jahrgang 1979, ist ein ausgewiesener Kenner der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens. Als Mitarbeiter des Handbuchs der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder (2017) verfasste er den Beitrag zum Stichwort „Landschaft“, in dem er am Ende die Funktion der Landschaftsdarstellung im Werk Josef Mühlbergers knapp skizziert. Dem sudetendeutschen Schriftsteller hatte er sein im Jahr zuvor veröffentlichtes (und für die Veröffentlichung umfänglich überarbeitetes) Dissertationsprojekt Die homoerotische Camouflage im literarischen Werk Josef Mühlbergers gewidmet, mit dem er 2010 an der Palacký-Universität Olmütz/Olomouc promoviert worden war. Um es vorwegzunehmen: Motyčka hat damit ein Standardwerk vorgelegt, das sein Objekt zwar aus einer scheinbar engen Perspektive (eben beschränkt auf das Thema Homosexualität) in den Blick nimmt, das aber tatsächlich ein ungewöhnlich tiefenscharfes Panorama der Erzählstrategien Mühlbergers entwirft. Homoerotische Figurenkonstellationen und die damit verbundenen Probleme bilden den Subtext der Mühlberger’schen Sujets, so ließe sich Motyčkas These zusammenfassen. Obwohl bereits 2016 erschienen, setzt Motyčkas Untersuchung mit ihrem textanalytischen Niveau den nach wie vor aktuellen Maßstab, an dem sich die Mühlberger-Forschung auch künftig wird messen lassen müssen.

 

Josef Mühlberger, 1903 im böhmischen Trautenau/Trutnov geboren, 1985 im schwäbischen Eislingen gestorben, war Mitherausgeber der 1928 bis 1931 erschienenen Kunst- und Literaturzeitschrift Witiko, die sich um die deutsch-tschechische Verständigung bemühte und „den letzten großen Versuch im Bereich der Literatur darstellte, die auseinanderstrebenden Kräfte des Landes zusammenzuhalten“ (Peter Becher, in: ders. (Hrsg.): Josef Mühlberger. Beiträge des Münchner Kolloquiums. München, 1989, S. 6). Mühlbergers Versuch, der fatalen politischen Entwicklung mit humanistischer Haltung und ästhetischen Bekenntnissen zu begegnen, scheiterte schon wenige Jahre später, nicht zuletzt aufgrund der Denunziationen seines sudetendeutschen Schriftstellerkollegen Wilhelm Pleyer. Dieser ereiferte sich in stramm nationalsozialistischer Manier über den „Freund Prager jüdisch-literarischer Kreise“ und diffamierte dessen Beschreibung einer Knabenfreundschaft in der Erzählung Die Knaben und der Fluß als „widerlich“ und „pervers“ (in: Die Neue Literatur 2/1935, S. 109). Mühlbergers vermutlich panische Anbiederungsversuche an die neuen Machthaber schlugen fehl, wie nicht anders zu erwarten. Der wegen des Vorwurfs der Homosexualität drangsalierte und mit Haft bestrafte Dichter überlebte die NS-Zeit als Soldat; nach Kriegsende und Aussiedlung (vor der Vertreibung bewahrte ihn der Umstand, dass seine Mutter Tschechin war) konnte er nicht mehr an seine ersten literarischen Erfolge anknüpfen, trotz nach wie vor reger Produktivität, zahlreicher Ehrungen und bedeutender Fürsprecher wie Max Brod und Hermann Hesse. Der Literaturbetrieb in der jungen BRD ignorierte ihn weitgehend; ein Schicksal, das er übrigens mit den meisten deutschen Exilautoren teilte, die aus Hitlerdeutschland emigriert waren.

 

Mühlberger hinterließ neben verdienstvollen Neuübersetzungen tschechischer Klassiker ein umfangreiches Werk von Romanen, Gedichten, Essays und Sachbüchern, darunter eine problematische, aber lange Zeit konkurrenzlose Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900–1939. Motyčkas untersuchtes Textkorpus umfasst eine repräsentative Auswahl von rund 30 Titeln. Im einleitenden Forschungsbericht formuliert er die Defizite der bisherigen Mühlberger-Philologie anhand dreier „Mythen“, die diese Forschung bislang kennzeichneten: zum einen der Mythos vom „politischen Autor“ und seiner Vermittlungstätigkeit, zum anderen der „poetologische Mythos“ von der unumstrittenen literarischen Qualität seiner Texte und drittens der „neuralgische Punkt“: die „Homosexualität des Autors und ihre Auswirkung auf sein Werk“ (S. 12 f.). Dass Motyčka da grundsätzlich viele Defizite benennt und für eine kritische Neubewertung Mühlbergers plädiert, liegt auf der Hand, bleibt aber Randthema, auch kann er sich auf berühmte Kronzeugen berufen, wenn er zum Beispiel unter dem zweiten Punkt Thomas Manns Tagebuchnotiz zu Mühlbergers Tschaikowsky-Roman Im Schatten des Schicksals (1950) zitiert („miserabel und wirr geschrieben“, S. 13, zitiert aus Th. Mann: Tagebücher 1949–1950. Frankfurt a. M., 1991, S. 263). Doch gilt sein Hauptinteresse dem dritten „Mythos“, dem Thema Homosexualität, genauer: homoerotischen Strukturen im Werk.

 

„Sexualität“ im Allgemeinen und „Homosexualität“ im Besonderen sind in literarischen Texten kulturabhängige und mehr oder weniger tabuisierte Größen, die sich häufig in narrativen Verfahren der codierten Kommunikation – der Verschleierung, der uneigentlichen Rede, der Camouflage – manifestieren. Motyčka untersucht ihre Spuren bei Mühlberger mit einem textanalytischen Ansatz, dem er präzise methodologische Vorüberlegungen voranstellt. Dabei legt er Heinrich Deterings Begriff der „homoerotischen Camouflage“ zugrunde. Detering definiert sie als „intentionale Differenz zwischen (unanstößigem) Oberflächentext und (hier: homoerotischem) Subtext“ (S. 47). Damit verknüpft ist das „unabdingbare Vorkommen von Signalen“ im Text (S. 50, beide Zitate aus H. Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen, 2002, S. 30), und diese aufzuspüren und zu interpretieren unternimmt der Autor im Folgenden ausführlich. Der erste textanalytische Teil gilt den textübergreifenden Strategien dieses homoerotischen Geheimcodes, wobei die Konturen einer Sublimierung von Homoerotik deutlich werden, deren gelingender sexueller Vollzug in den dargestellten Welten Mühlbergers tabu ist und widrigenfalls bis zum Tod der Figuren führt: „Im Falle der Verzichtsunfähigkeit sterben sie […] oder aber sie finden zur offiziellen Sexualität und führen mehr oder weniger ein Doppelleben“ (S. 129). Wiederkehrende Motive werden detailliert beschrieben, etwa die häufigen pubertären Knabenfreundschaften (wie schon in den Adoleszenzromanen der Jahrhundertwende modelliert), Rekurse auf antike Mythologie und androgyne Ästhetik, Engel, platonische und Vater-Sohn-Liebe, Utopien wie das „Modell eines intimen Raumes für zwei einander liebende Männer“ (S. 78), Wasser und Wälder in ihrer entgrenzenden, verschmelzenden Semantik (nicht zufällig war Mühlberger passionierter Stifter-Leser), Landschaften und Gärten mitsamt dem damit verbundenen Locus-amoenus-Komplex (im Kontrast zu den „Gefahr“ signalisierenden Treibhäusern), Bäume, Brücken, Farben, Musik, Essensrituale: Minutiös rekonstruiert Motyčka ihre Funktionalisierung in homoerotischen Kontexten. Im zweiten textanalytischen Teil wird dieses Beschreibungsinventar dann zur Modellanalyse der Erzählung Die Knaben und der Fluß (1934) und des Romans Bogumil. Das schuldlose Leben und schlimme Ende des Edvard Klíma (1980) herangezogen, deren narrative Mechanismen der Verdrängung und Sublimierung Motyčka exemplarisch herausstellt. Im späten Roman ist dieser figurenspezifische Verdrängungskomplex – manifest in der expliziten Naivität des Protagonisten – um ideologische Implikationen erweitert, die neben einer misogynen Komponente eine höchst fragwürdige ahistorische offenbaren. Vor dem erzählten NS-Hintergrund wären sie als „Zeichen des Eskapismus“ zu deuten, so Motyčkas Resümee: „Das Politische erliegt in der Perspektive des Mühlbergerschen Erzählers der gravierendsten Banalisierung. […] Bogumils allzu lange Exkurse über seine weltanschauliche und religiöse Selbstpositionierung legen die Absenz jeglicher politischer Diskurse als eine Verdrängung bloß.“ (S. 344f.)

 

Das tiefenscharfe Panorama, das Lukáš Motyčka mit dieser vorbildlich textnahen Untersuchung eröffnet und von dem eingangs schon die Rede war, bleibt nicht auf Mühlberger beschränkt, sondern erweitert sich in zahlreichen Exkursen zu einer Kulturgeschichte der Homoerotik von der griechischen Antike bis zur Gegenwart. So anregend dies oft auch ist, wäre eine Fokussierung aufs Thema angesichts eines 40-seitigen Literaturverzeichnisses doch hier und da sinnvoll gewesen. Aber das ändert nichts an den innovativen Ergebnissen der – im Übrigen erfreulich gut lesbaren – Arbeit, an der niemand vorbeikommen wird, der sich künftig mit Josef Mühlberger befasst.

 

 

Lukáš Motyčka: Die homoerotische Camouflage im literarischen Werk Josef Mühlbergers. Wien: Lit (Erträge Böhmisch-Mährischer Forschungen, Band 9), 2016, 395 S.


zurück | PDF