Es schreibt: Sabine Eschgfäller

(12. 8. 2020)

Die in der Reihe Bochumer Quellen und Forschungen zum 18. Jahrhundert erschienene, überarbeitete Version der in Konstanz verteidigten Dissertation Erfunden von mir selbst ist keine einzige dieser Geschichten“. August Gottlieb Meißners Fallgeschichten zwischen Exempel und Novelle (Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018) von Sarah Seidel stellt, um das Fazit gleich vorwegzunehmen, einen unbestreitbar wichtigen Beitrag zur (Wieder-)Entdeckung – nicht „nur“ der Fallgeschichten – von August Gottlieb Meißner (1753–1807) dar und beweist eindringlich, wieviel der germanistischen Forschung bisher entgangen ist.

 

Dass es eine solche – wenn auch sehr schmale – gegeben hat, wird am Anfang der Monografie aufgezeigt: Seidel verweist auf die 1894 publizierte, aus ihrer Sicht sorgfältig recherchierte Arbeit zu Meißner des aus Prag stammenden, österreichischen Germanisten Rudolf Fürst. Dabei handelte es sich wohl um seine Dissertation, die auf intensiven Quellenuntersuchungen aufbaute und deskriptiv ausgerichtet war. Nach Meißners Tod waren 1814/1815 von Christoph Kuffner Sämmtliche Werke herausgegeben worden; zwischen der Werkausgabe und der wissenschaftlichen Aufarbeitung von Meißners Leben und Werk durch Fürst scheint dann wenig bis nichts passiert zu sein. Zu einem wesentlichen und neuen Impuls, sich mit Meißner zu beschäftigen, kam es anscheinend erst rund zweihundert Jahre nach dessen Tod: Seidel unterstreicht die Bedeutung der Forschungen von Alexander Košenina, seit 1998 Mitherausgeber der Zeitschrift für Germanistik, und macht klar, dass die germanistische Betrachtung des schriftstellerischen Multitalents hauptsächlich in Zusammenhang mit dem Bemühen steht, ihn in ein Verhältnis zur Entwicklung der Kriminalliteratur zu stellen. Dazu wurden zunächst einige seiner Fallgeschichten neu publiziert (s. August Gottlieb Meißner: Ausgewählte Kriminalgeschichten. Mit einem Nachwort herausgegeben von Alexander Košenina. Kleines Archiv des 18. Jahrhunderts. St. Ingbert: Röhrig Verlag, 2004), worauf weitere, eingehendere Studien folgten. Keine jedoch war bislang, was seine Fallgeschichten angeht, derart umfangreich wie die hier vorgestellte Arbeit.

 

Stringent analysierend entfalten sich die Fallgeschichten in der Argumentation Seidels als unterhaltende, belehrende und dabei stets moralisierende Texte. (Auf S. 37 stellt die Autorin übrigens Vermutungen darüber an, ob vielleicht gerade der Umstand, dass Meißner poetologisch so stark der Spätaufklärung verbunden war, dazu beigetragen habe, ihn so schnell obsolet werden zu lassen – was durchaus einleuchtet.) Dabei oszillieren sie zwischen Singularität und Exemplarität sowie zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung und lassen Seidel die diskussionswürdige, epochenübergreifende Frage aufwerfen, wie es eigentlich insgesamt um die Erforschung der Faktizität literarischer Texte bestellt sei.

 

Seidel deckt im Zuge ihrer komplexen Auseinandersetzung mit dem Thema die diskursive Vielschichtigkeit der Entstehungsbedingungen und der inneren Mechanismen von Meißners Kriminalgeschichten auf, die ja nur ein verhältnismäßig begrenztes Segment seines enorm umfangreichen Oeuvres von 36 Bänden darstellen. Meißner, der „Textarbeiter“, nimmt dadurch – noch bevor es im dritten Kapitel zur Besprechung der Fallgeschichten kommt – sowohl als Akteur seiner Epoche als auch als in seinem persönlichen Schriftstellerschicksal allmählich Gestalt an. Dies macht es Seidel möglich, sowohl die Dynamiken seines Erfolgs zu Lebzeiten zu erklären als auch die Umstände seines frühen Endes in der Schublade für vergessene Schriftsteller. Die Komplexität seines Schaffens und die speziellen Merkmale der Kriminalgeschichten werden greifbar gemacht, indem der Einfluss seiner Vorlesungstätigkeit aufgezeigt wird; weiterhin seine rhetorischen und ästhetischen Referenzpunkte, die sich (entsprechend der Vorstellungen des Wiener Hofes) in einer Abwendung von Gottscheds und Gellerts Literaturkonzeption und einer Hinwendung zu Johann Joachim Eschenburgs Entwurf einer Literaturtheorie äußerten. Die sich daraus ergebenden, konkreten Implikationen bezüglich seiner Arbeit werden, zugunsten einer Fokussierung auf Erläuterungen von Meißners ästhetischen Vorstellungen, nicht näher ausgeführt. Die ästhetischen Grundlagen wurden jedoch – im Unterschied zu einer intensiveren Erforschung des literarischen Werkes – von den tschechischen Geisteswissenschaften, genauer durch den in Olmütz wirkenden Professor für Ästhetik, Tomáš Hlobil, bereits eingehend beschrieben und werden in der Monografie mehrfach thematisiert.

 

Dass Meißner posthum als Autor zweiten Ranges (oder eben als „vergessener“ Autor) entsorgt wurde, ist ein Problem, dass in den Forschungen zu vielen Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Literatur aus den böhmischen Ländern auftaucht. Meißner jedoch gehört zu der etwas kleineren Teilgruppe von zurecht oder zu Unrecht Vergessenen, die zumindest zu Lebzeiten viel gelesen und auch kritisch (beispielsweise wegen mangelnder Originalität und einer angeblichen Relativierung von krimineller Schuld) besprochen wurden. Aufbauend auf den Forschungen von Michael Wögerbauer bzw. dessen Transkription des Meißnerschen Nachlasses verweist Seidel vor dem Hintergrund der verschleppten Rezeption auf die fast schon tragische Facette in Meißners Schriftstellerprofil, seine Außendarstellung und seine eigene Rezeption, mit welcher er offensichtlich rechnete, beeinflussen zu wollen.

 

Die Autorin macht außerdem deutlich, inwiefern es dem zwischen 1785 und 1805 als Professor für Ästhetik und klassische Literatur in Prag tätigen Mitglied der Freimaurerloge „Wahrheit und Einigkeit zu den drei gekrönten Säulen“ möglich war, unter anderem aktiv den Rührungs-Diskurs seiner Zeit mitzugestalten und durch sein Werk auch Stellung zum Umbruchsprozess im damaligen Strafsystem zu beziehen. In die Diskussion um das Problem der Urheberschaft des Autors stieg Meißner ebenfalls ein, wobei hier – vielleicht typischerweise – wiederum sein ästhetisches und weniger das ökonomische Interesse überwog.

 

Seine Fallgeschichten zeigen auf, wie sich das Zusammenspiel der Veränderungen in Anthropologie und Jurisprudenz im aufklärerischen Neuentwurf von Recht und Strafe niederschlägt; die Spiegelung des Rechtfalles in der Figur des Verbrechers ermöglicht es Meißner, wie Seidel belegt, die die Strafe betreffenden Asymmetrien zwischen Rechtsregeln und tatsächlichem Verbrechen bloßzulegen. Die ethische Komponente des Rechts- bzw. Strafdiskurses erscheint dazu als Komponente in einem unwillkürlichen (und impliziten) Plädoyer Seidels für die immer noch vorhandene Aktualität der Fallgeschichten.

 

Seidels „textimmanente Lektüren“ (Kapitel 3.3.) stellen eine der spannendsten Stellen der Arbeit dar und erlauben ihr aufschlussreiche Exkurse, in denen deutlich wird, inwieweit Meißner auch an „prominenten“ literarischen Diskussionen seiner Zeit partizipierte und diese in seinem Werk verarbeitete, wie etwa den Werther-Diskurs und in Zusammenhang damit seine Auseinandersetzung mit Emilia Galotti. Der Fall des Selbstmörders bzw. die Frage nach der Selbstbestimmungsmöglichkeit bezüglich des Todes passen, wie plausibel dargestellt wird, zu Meißners „ideologischem“ Anliegen hinsichtlich seiner Fallgeschichten und ermöglichen es ihm, seine Bedenken zu formulieren, wenn es beispielsweise um Phänomene wie Schwärmerei oder Lesesucht geht.

 

Die Strategie, den Leser zuerst mit den diskursiven Umgebungen Meißners und seiner Positionierung darin vertraut zu machen, macht sich vollends bezahlt, wenn klar wird, wie sehr der Autor sich mit akademischem Fleiß an seinen Texten abgearbeitet haben muss. Dabei erwies sich gerade sein rhetorisches Erbe als Ballast, wodurch er sich sozusagen selbst in die Ecke der epigonenhaften Schriftsteller stellte. Seidel vermag aber auch durchaus gewichtige Positiva aufzuzeigen: Vorgeblich stellt Meißner in seinen Fallgeschichten stets „wahre“ Krankheits- und Rechtsfälle vor, die er natürlich erzählstrategisch aufklärungstypisch aufbereitet; was ihn dabei jedoch in seiner speziellen Ausprägung der Gattung auszeichnet, ist, dass es darum geht, den ganzen Täter sichtbar bzw. lesbar zu machen (Seidel widmet diesem Thema ein ganzes Unterkapitel, s. I, 4 „Der ganze Täter“). Die Fallgeschichten dokumentieren seine (wiederum: nicht alleinige, aber konsequente) Suche nach Manifestationen dessen, was den Menschen letztlich zum Verbrecher macht, indem er – wie Seidel es treffend ausdrückt – dem „Delinquenten eine Stimme verleiht“ (S. 78), teilweise eben auch erzähltechnisch. Er verwendet dazu direkte Rede und erfindet Möglichkeiten, wie er in seinen Fallgeschichten, die das Exempel überwunden haben und sich in Richtung novellistischen Erzählens bewegen (s. Untertitel der Monografie), deviantes Verhalten markieren kann. Seidel zieht immer wieder Textbeispiele heran, um diese Thesen zu illustrieren, ergeht sich dabei aber nie in langwierigen Inhaltsangaben, sondern gibt sehr konkrete, kompakte Hinweise darauf, wo Textinhalte argumentativ relevant sind.

 

Die Autorin deckt systematisch Erzählstrategien auf, die Meißner für seine Erziehung zu mehr Mitleid und Menschlichkeit benutzt. Dabei wird bei seiner Anwendung von induktiver und deduktiver Erzählweise immer wieder deutlich, dass sein rhetorischer Hintergrund ebenfalls eine zentrale Rolle bei dem Versuch spielt, den Leser von seinem Standpunkt überzeugen kann. Die Autorin streicht in einem weiteren Unterkapitel zu „Meißners Fallgeschichten“ (s. II. Kapitel) heraus, wie sehr er um Einfachheit und die wiederholt postulierte Faktizität des Erzählens bemüht ist, wenn er einen Fall in einem Erzählstrang gestaltet. Es wird in diesem Zusammenhang des Weiteren festgestellt, dass dem strafferen und progressiveren Erzählen auch eine „ökonomische“ (S. 70) Überlegung innewohnt, die außerdem einen Vorteil gegenüber etwa juristischen Verfahrens- und Abbildungspraktiken darstellen konnte.

 

Die Monografie zeigt ausführlich, worin die Besonderheiten von Meißners Fallgeschichten liegen, ohne deren Schwächen auszublenden. Als besonders fruchtbar erweist sich ihre diskursanalytische Betrachtung der Texte, welche sie nicht nur als ein isoliertes, statisches und sensationalistisches literarisches Einwegprodukt greifbar machen; vielmehr erscheinen sie als Geschichten, die in ihrem Kern äußerst aktuelle Fragen anstoßen (einige wurden weiter oben angerissen) und auf Leserbedürfnisse reagieren, die auch in Zeiten von Überschwemmungen mit CSI-Serien und so genannten Real Crime-Sendungen immer noch sehr manifest sind. Meißner zumindest scheint nun wirklich der Schublade der zweitrangigen und vergessenen Autoren entkommen und in eine neue eingeordnet worden zu sein – der des „aufgeklärten Bestseller-Autors“ (s. https://www.saechsische.de/der-aufgeklaerte-bestseller-autor-3785593.html, aufgerufen am 25. 5. 2020). Man kann über Schubladen und Kanones schimpfen, wie man will: Aber was, wenn ein Aufräumen darin einen Autor wieder in die Buchhandlungen, Bibliotheken und in die Forschungsinstitutionen bringt, der es verdient? Und wenn ein neues Etikett dabei helfen kann, sein Werk dort zu halten?

 

Man kann auch von einer Art Fortsetzung von Meißners Erbe durch den „Dichterjuristen“ Ferdinand von Schirach lesen (s. Alexander Košenina: „Verbrechen“. In: Susanne Düwell / Andrea Bartl / Christof Hamann / Oliver Ruf (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur: Theorien, Geschichte, Medien. Stuttgart: Metzler Verlag, 2018) – Meißner, der so lange unsichtbar geblieben war, scheint nun sogar direkte Erben bekommen zu haben.

 

 

Sarah Seidel: „Erfunden von mir selbst ist keine einzige dieser Geschichten“. August Gottlieb Meißners Fallgeschichten zwischen Exempel und Novelle. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, (Bochumer Quellen und Forschungen zum 18. Jahrhundert; hrsg. von Carsten Zelle, Bd. 10) 311 S.


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