Es schreibt: Mirek Němec

(29. 7. 2020)

Am Anfang ein Rätsel: Was verbindet die Orte Duchcov, Legnica, Bolesławiec, Česká Skalice oder Hainichen? Um darauf eine Antwort zu liefern, können die Wikipedia-Seiten der Gemeinden nach- oder aber die Dresdner Dissertation von Eva Sturm aufgeschlagen werden. In Wikipedia würde man feststellen, dass in den Orten entweder Museen in Geburts- bzw. Wohnhäusern, Denkmäler oder Gedenktafel an SchriftstellerInnen zu finden sind. Sturm nimmt Bezug darauf und meint, dort ruhe literarisches und literaturhistorisches Wissen, das verdiene, in einem touristischen Projekt durch drei mitteleuropäische Regionen realisiert zu werden (274f.). In ihrem Buch versucht sie nun, eine Anleitung dazu zu entwerfen.

 

Ohne Zweifel kann ihr Vorhaben, die akademische, literaturwissenschaftliche Sphäre mit dem Alltag zu verbinden, nützlich sein. Doch ist es fraglich, ob das von der Dresdner Germanistin dargelegte touristische Konzept einer Literaturstraße durch drei historische Länder – Böhmen, Sachsen und Schlesien – überhaupt tragbar und damit sinnvoll sein kann. Sturm erwähnt zwei andere literarisch-touristische Projekte: die Deutsche Märchenstraße und den Rheinischen Sagenweg. Beide haben jeweils einen gemeinsamen thematischen Referenzpunkt. Sie verbinden Orte, die im ersten Beispiel mit den Märchen der Gebrüder Grimm oder im zweiten Beispiel der Sagenwelt des Mittelrheintales samt nächster Umgebung in Zusammenhang stehen. Eine solche Klammer, die die komplexen Literaturlandschaften der drei Länder verbinden würde, bietet die Arbeit von Sturm nicht. Somit fehlt sowohl für die wissenschaftliche Arbeit von Sturm als auch für das touristische Konzept das Wesentliche: ein klarer Fluchtpunkt, der den Leser und den bildungshungrigen Touristen überzeugen und begeistern könnte.

 

Die im Titel hervorgehobenen „Orte der Erinnerung“ machen dieses grundlegende Manko nicht wett. Zudem scheint es, als ob sich Sturm von dem zugegebenermaßen in der letzten Zeit deutlich überbeanspruchten Konzept „Erinnerungsorte“ von Pierre Nora absetzen wollte. Dies ist sicher schade, auch deswegen weil die Autorin – und das ist wirklich hervorzuheben – ältere Sekundärliteratur erwähnt, die vor dem Gedächtnisboom in den Kulturwissenschaften der 1990er Jahre erschien. Eine theoretische Auseinandersetzung in Form einer Gegenüberstellung zu den aktuellen Standardwerken wäre sicher spannend, doch sie wird nicht unternommen. Auch die bedeutendste thematische Frage danach, ob es überhaupt gemeinsame literarische Erinnerungsorte in den drei benachbarten, jedoch sehr komplexen Literaturlandschaften gibt und wie diese die kollektive Identität im Dreieck dieser drei Regionen prägen, wird nicht gestellt.

 

Anstatt mit literarisch definierten „Erinnerungsorten“, die als Kristallisationspunkte der kollektiven Identität dien(t)en, beschäftigt sich Sturm mit den „festen Objektivationen“ (S. 32). Die von ihr gewählten „Orte der Erinnerung“ sind damit unterschiedlich geartete Gedenkstätten. Obwohl Sturm bei ihrer dichten Beschreibung nicht ganz auf ihre symbolische Funktion verzichten kann, bleibt dieser Aspekt unterbelichtet. Zugleich sind die von ihr gewählten Beispiele kaum originell. Zwei prägnante Fälle von Konkurrenzerinnerungen sollen dies zeigen. Zum einen ist es das Beispiel des Erinnerns an Walther von der Vogelweide in Dux/ Duchcov (S. 75–79). Die Stadt wurde – wie bereits auch Bozen/Bolzano – von den deutschnationalen Kräften um 1900 zum Geburtsort des Minnesängers stilisiert. Doch dies ist bereits dank des äußerst populären, 1996 herausgegebenen Buches von Zdeněk Hojda und Jiří Pokorný gut bekannt. (Vgl. Hojda / Pokorný: Pomníky a zapomníky, Praha, 1996, S. 134–149). Ärgerlich, wenn die Autorin die bekannte Causa um den Leitmeritzer Dichter Josef Hilscher, der bereits im Máchas Jubiläumsjahr 1936 in einem Text des tschechischen Germanisten Arnošt Kraus als „Antimácha“ benannt wurde, anhand eines deutschsprachigen Aufsatzes von einem ehemaligen Leitmeritzer Archivar paraphrasiert (S. 239f.). (Die Studie erschien neuerdings in der Anthologie von Václav Petrbok (Hg.): Arnošt Vilém Kraus (1859–1943) a počátky české germanobohemistiky, Praha 2015, S. 184–205) Die Sprachbarriere hindert die Dresdner Germanistin wohl daran, originelle tschechisch- und polnischsprachige Forschung und relevante Quellentexten einzubeziehen. Sie erfährt deshalb zum Beispiel nicht, dass es auch einen Mácha-See, sogar eine Mácha-Region und darin einen Mácha-Wanderweg gibt. Das bereits Vorhandene wäre selbstverständlich in ihr Projekt einzubeziehen.

 

Es hätte gereicht, sich ausführlich einem literarischen Phänomen zu widmen. Es würde sich der deutschen Germanistin anbieten, die deutschen symbolischen Erinnerungsorte an die Weimarer Klassiker in allen drei Regionen gründlich zu untersuchen. Die vielfach gepflanzten Schiller-Eichen, die immer noch manche Parks schmücken, bemerkt sie jedoch gar nicht, genauso wenig Raum widmet sie den zahlreichen Goethe-Denkmälern und -Gedenktafeln, die im nordwestböhmischen Grenzgebiet bis heute vorhanden sind. Es hätten der Autorin auch viele deutschsprachige Studien von Bohemisten, Slavisten, Germanisten und Germanobohemisten weitere wertvolle Hinweise vermitteln können. Marek Nekulas Arbeiten zu dem Slavín und ähnlichen böhmischen/tschechischen Pantheon-Projekten hätte sie rezipieren müssen, wie auch viele Studien von Kurt Krolop zu der Rezeption der deutschen Klassiker in Böhmen. Warum verzichtet sie auf die Studien von Marek Hałub, der sich ausführlich mit den deutschsprachigen schlesischen Autoren beschäftigt? Warum ließ sie sich nicht von Beziehungsforschung inspirieren, die etwa Karol Sauerlands Kulturtransfer-Bände oder die von 2012 bis 2018 erschienen Bände der Deutsch-polnischen Erinnerungsorte von Hans Henning Hahn und Robert Traba vorstellen? Kurz und gut, nicht nur bei der Themenwahl, sondern auch bei der Literaturauswahl bleibt die Arbeit von Eva Sturm ein Rätsel.

 

Die wohl stärkste Seite von Sturms Studie ist die dichte Beschreibung von Gedenkstätten. Während ich bei der Schilderung ihrer Besuchseindrücke von Museen eine tiefere Analyse bevorzugen würde, passt ihr Arbeitsstil doch zu anderen Gedenkstätten. Gerade die ästhetische Funktion und die künstlerische Ausgestaltung von Denkmälern, Gedenktafeln und ihre Positionierung im öffentlichen Raum, ist in den bisherigen Studien zur Erinnerungskultur oft vernachlässigt worden. Doch auch hier zeigt sich negativ ihre Willkür bei der Auswahl von Objekten. Warum soll eine Literaturstraße die z. B. von Duchcov/Dux nach Litoměřice/Leitmeritz geplant ist, ohne Zwischenstopp an Teplice/Teplitz, Třebívlice/Trieblitz und Terezín/Theresienstadt vorbei gehen und die zahlreichen hier vorhandenen literarischen Stätten verschweigen? Warum ist die sorbische Literatur, die gerade ein paradigmatisches Potential aufwies, transnational in allen drei gewählten Regionen betrachtet zu werden, äußerst stiefmütterlich behandelt? Und so kehrt die anfangs gestellte Frage immer wieder zurück: Was sollte dann das Ziel einer Tour durch Böhmen, Schlesien und Sachsen sein? Was soll der Bildungsbürger, der mit Sturm die von ihr gewählten Orte abklappert, lernen?

 

Neben den unklaren Auswahlkriterien für Orte, Gedenkstätte und letztendlich auch für Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die im Text behandelt wurden, trägt zur Irritation noch die Gliederung bei. Nicht nur, dass nach der Einleitung und dem Kapitel II Literaturtourismus. Grundlagen einer literaturtouristischen Destination kein Kapitel III folgt, sondern es weisen auch die nächsten zwei Teile – Kapitel IV Literaturstraße durch Sachsen, Böhmen und Schlesien: Orte und Kapitel V Literaturstraße durch Sachsen, Böhmen und Schlesien: Geschichten – keinen entscheidenden Unterschied in der Fragestellung, Methode oder dem Narrativ auf. Die Deskription ohne spezifische Pointierung, kaum zufriedenstellender Umgang mit den Semantiken und keine originellen Ergebnisse (deutlich im abschließenden Kapitel VI Literaturstraße durch Sachsen, Böhmen und Schlesien: Ein touristisches Leitbild) entsprechen dem Stil eines Reiseführers. Diesen Eindruck untermauern noch die vielen, allerdings in der Regel gelungenen und hochwertigen Farbbilder im Buch.

 

Weil ich die Dissertation wegen der oben festgestellten Mängel keineswegs als einen originellen wissenschaftlichen Beitrag betrachten kann, und weil die Willkür der Auswahl von besprochenen Objekten auch nicht einem gedruckten Reiseführer entspricht, gibt das schön gedruckte, durch die Farbbilder und die Reisedokumentation sicher kostspielige grenzüberschreitende Projekt, das aus Mitteln der ESF und des Freistaates Sachsen sowie der Graduiertenakademie der TU Dresden gefördert wurde, weitere Rätsel auf.

 

 

Eva Sturm: Orte der Erinnerung. Eine Literaturstraße durch Sachsen, Böhmen und Schlesien. Dresden: Thelem, 2019, 350 S.


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