Es schrieb: August B. Wolf

(7. 5. 2020)

Im August 1931 und im November 1932 rezensierte August B. Wolf in der Prager Presse den zweiten und dritten Teil von Brochs Roman Die Schlafwandler (von den ersten beiden Teilen schrieb hier inzwischen auch Franz Blei /Hinweis auf fünf Bücher, PP 11, 1931, Nr. 236, 1. 9., S. 7 sowie von Musils Roman Mann ohne Eigenschaften/); Mitte Juni 1934 wählte Wolf einen anderen Modus – Brochs Profil (als generelles Dichterprofil) gestaltete er als gemeinsamen Spaziergang. Diese drei Texte veröffentlichen wir heute. Im Gegensatz zu Hermann Broch, der für die Prager Presse nur sporadisch beitrug (vgl. Hermann Broch: Der Schriftsteller Franz Blei /Zum fünfzigsten Geburtstag/, PP 1, 1921, Nr. 23, 20. 4., S. 3–4; ders.: Heinz Thieß: „Prometheus“, ebd., Nr. 207, 23. 10., S. 15; ders.: Ernst Weiß: „Stern der Dämonen“, ebd., Nr. 218, 3. 11., S. 7; ders.: Otto Flake: „Pandämonium“, ebd., Nr. 274, 30. 12., S. 7; ders.: Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Begriffes „Revolution“ und die Wiedererlebung der Hegelschen Dialektik, PP 2, 1922, Nr. 206, 30. 7., Dichtung und Welt, Nr. 31, S. III; ders.: Typus des Kritikers: Alfred Polgar, ebd., Nr. 248, 10. 9., Dichtung und Welt, S. II–III; ders.: Seghers: „[Auftand der Fischer von St. Barbara]“, PP 9, 1929, Nr. 112, 24. 4., S. 7; ders.: Ringende Frauen, PP 11, 1931, Nr. 229, 25. 8., S. 4, Redaktionseinleitung und eine Kostprobe aus dem zweiten Teil von Die Schlafwandler), verband der Wiener Prosaautor, Dichter und Theaterkritiker August B. Wolf seine literarische Existenz in hohem Maß gerade mit dem Prager Tagblatt (daneben lässt sich seine Spur Mitte der 1920er Jahre im Wiener Tagblatt Der Tag verfolgen).

 

Die bekannten Angaben zu seinen Lebensdaten sind spärlich. Ende 1932 schrieb Wolf an Arne Laurin: „Lieber, guter, alter Laurin! / (…) Freunde aus Franzensbad, wo ich, wie Du weißt, meine Jugend verbracht habe, indes mein Vater dort durch 27 Jahre das Theater leitete, und ich selbst 1912, 13 und 14 alleiniger Direktor war, Freunde von dort also, haben es mir brieflich nahe gelegt mich diesmal wieder um das Theater zu bewerben“ (Wien, 15. 12. 1932, LA PNP, f. A. Laurin). In der Festschrift zum 60jährigen Jubiläum des Franzensbader Stadttheaters (1928) liest man, dass Berthold Wolf die Theaterleitung 1888 antrat, nach seinem Tod (am 3. 1. 1914 in Ober St. Veit) übernahm sein Sohn Gustav die Leitung; „August B.“ kann also als Pseudonym verstanden werden, als Hinweis auf den Vornamen seines Vaters (im Teilhaberverzeichnis des Ronacher Theaters, das die Neue Freie Presse am 19. 4. 1914 /S. 55/ veröffentlichte, stand allerdings: „August Berthold Wolf genannt Gustav Wolf“). Im Teplitz-Schönauer Anzeiger (7. 1. 1914, S. 4) wurde Gustav als Bertholds Bruder und „stellvertretende[r] Direktor des Ronacher Theaters in Wien“ erwähnt, ein Monat später (am 18. 2. 1914, S. 7) schrieb dasselbe Tagblatt von Gustav als Sohn des verstorbenen Direktors (eine ähnliche Verwirrung gab es auch im Prager Tagblatt /6. 1. 1914, S. 5/). Das Wiener Tagblatt Illustrierte Kronen-Zeitung (4. 1. 1914, S. 6) erwähnte Gustavs Vater in einem kleinen Nachruf als „Direktor verschiedener Provinzbühnen und als Mitdirektor der Neuen Wiener Bühne, aus deren Verband er vor zwei Jahren schied“, es wurde ferner mitgeteilt, dass die Witwe (und somit wahrscheinlich auch Gustavs Mutter) die „einst sehr bekannte und beliebte Operettensängerin Wolf-Selecky“ sei (d. i. Adele Seletzky; 1881 war sie in Pressburg tätig /Wiener Theaterzeitung, 16. 9. 1881, S. 2/, 1885 gastierte sie im Stadttheater in Czernowitz /Bukowinaer Rundschau, 10. 9. 1885, S. 4/, beide Bühnen leitete damals B. Wolf), ferner wurden zwei Söhne als Hinterbliebene genannt. Lokalisieren nun die Erwähnung aus dem Brief an Laurin sowie die oben genannten Notizen in der Presse Wolfs erste Schritte und sein erstes Theaterengagement in der Vorkriegszeit im westböhmischen Kurort, bzw. In Wien (für die Wiener Zeitung schrieb er bereits 1906–1910 bildkunstkritische, die Gegend Venedigs thematisierende Skizzen), bleiben seine nachfolgenden Wege, die ihn letztendlich erneut und definitiv nach Wien führten, bisher unklar. Laut der Festschrift leitete Gustav Wolf das Stadttheater in Franzensbad nicht lange, er wurde bald zum Militär einberufen, in der Theaterleitung wurde er von Heinrich Edgar abgelöst. (Für die Hilfe bei den Theaterrecherchen bedanke ich mich bei Jitka Ludvová.)

 

Zeugnis von Wolfs Existenz in der Zwischenkrigszeit liefert uns sein Briefwechsel mit Arne Laurin (einen Teil bilden Briefe, die Wolfs Frau Paula an Laurin adressierte), die ersten Briefe datieren aus dem März 1931, die letzten aus dem Mai 1936. Diese Briefe sprechen von Not und von Plänen, von der Suche nach Gelegenheiten und Mitteln, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Noch Ende 1936 ließ Wolf seinen Essay Über die Mode des historischen Romans in der Sonntagsbeilage der Prager Presse abdrucken (26. 7., Die Welt am Sonntag, Nr. 30, S. 3), Mitte September publizierte er dann seine Prosa Der Galeriebesucher (17. 9., S. 4–5), Mitte Dezember dann sein Feuilleton Vom Zimmer aus (17. 12., S. 6). Im Mai 1937 (7. 5., S. 6) erschien hier sein Prosatext Ein großer Schauspieler stirbt auf der Szene, eine Woche später (15. 5., S. 6) ein Dialog zwischen zwei Freunden, noch im März 1938 (26. 3., S. 6) wurde die Prosa Gespielte Wahrheit, im September die Prosa Zwei in ein Schicksal, veröffentlicht (18. 9., Die Welt am Sonntag, Nr. 38, S. 4). Wolfs weiteres Schicksal ist unbekannt (Adele Wolf-Seletzky starb am 11. 4. 1941 in Wien /vgl. Paul S. Ulrich: Biographisches Verzeichnis für Theater, Tanz und Musik, I–II. Berlin 1997, S. 2057); in der Prager Presse standen ihm die Türe höchstwahrschienlich bis zum letzten Moment offen, ebenso, als er im April 1931 von Wien aus an Laurin schrieb: Von Broch ist, wie Du weißt, der zweite Band erschienen und es ist Dir sicherlich bekannt, welche Aufnahme der Erste gefunden hat. Ich frage nun bei Dir an, ob Du mir ein Feuilleton über Broch bringen würdest – das ich schreiben möchte – will aber nicht bei dieser Gelegenheit mit Pick in Kollision geraten. Soll ich nun Pick selbst schreiben oder willst Du so gut sein und diesbezüglich bei ihm anfragen? (…)“. – In der tschechischen Version zitieren wir aus Preisners Übersetzung von Brochs Roman (Náměsíčníci. Praha, Mladá fronta, 1966).

 

mt

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

Esch oder die Anarchie. Roman von Hermann Broch

[Prager Presse 11, 1931, Nr. 213, 8. 8., S. 7]

 

Solange sich Esch an die Buchhaltung hielt, hatte es seine Richtigkeit mit dem Gewissen. Es stimmte. Die conscientia vulgaris hatte da förmlich ihr System und diese Vorlage garantierte mit ihren Normen den moralischen Gehalt der Unternehmungen. Und eben weil Esch nur die ehrliche Buchhaltung gelten lassen wollte, flog er aus der Kölner Weinfirma. Der Nentwig aber, der Provisionen nahm, der blieb. Das war doch ganz gegen die Richtigkeit, wie sie ein gerades Gewissen verlangt. Mußte dem Esch solches passieren, der ohnedies eine Anlage hatte, an „Gewissensgeräuschen“ zu leiden. Den Nentwig der Polizei anzeigen, damit wäre die Gerechtigkeit wieder hergestellt. Bei einer Stelle mit mehr Bewegungsfreiheit wird sich der Esch viel wohler fühlen, denn er ist unruhig und in manchen Dingen ein Fanatiker. Die Mittelrheinische Reederei in Mannheim bietet ihm einen Posten, wo man nicht immer am selben Platz hockt, Speditionsmagazine zu durchwandern hat und dabei doch eine gewisse Verantwortung trägt. Nicht um sich damit gravitätisch aufzuputzen, sondern nur, weil einem rechtschaffenen Menschen sein Teil Verantwortung zukommt. Die Inhalte des Lebens sind ohnedies so karg. Aber der anarchische Zug, der immerzu das Gewissen revolutioniert, erzeugt diese Spannung, so daß es stets Konflikte mit den Nebengewissen gibt. Die Tatsachen an sich sind eine Bagatelle; aber wie sie in der Erinnerung geschehen, als variierte Wiederholung, das läßt sie weit furchtbarer werden. Dem rebellierenden Gewissen des Esch wird es zu eng in der Reederei und das kann doch nicht richtig sein, daß sein Freund, der Sozialist, eingesperrt wird, indes der Herr Präsident Bertrand in einer Wolke von Unnahbarkeit thront. Außerdem paßt Esch die Gesellschaft nicht, in der er leben muß. Die Lebensführung der Kölner Freunde war doch gesicherter und anständiger. Im Jahre 1903, zu welcher Zeit der Roman spielt, war ein Zollinspektor noch sehr stolz darauf, beim Militär gedient zu haben, und ein Luxemburger wie Esch, ohne Dienstzeit, den brauchte man nicht voll nehmen. Um für die Schwester Erna eine Heiratsspekulation abzugeben, dazu allerdings reichte es noch. Aber Esch, der eine gute Witterung für Menschen hat, verschafft der Erna den soliden Lohberg, der noch nichts von der Liebe weiß, und dem recht geschieht, wenn er hineingelegt wird. Und Ilona? Sie ist bestimmt nicht mehr lange die Geliebte des Zollinspektors Korn, sie wird ihn verlassen, und ein anderer wird nachfolgen. „Wäre Korn ihr untreu geworden, so hätte sie ihn nicht getötet, sondern mit Vitriol begossen. Ja, eine solche Verteilung dünkte ihr in der Eifersucht angemessen, denn wer besitzt, will vernichten, doch wer bloß benützt, kann sich begnügen, das Objekt unbrauchbar zu machen.“

 

Der Esch hat keine Zeit; was er denkt, muß auch unternommen werden, denn je länger damit gezögert wird, desto unheimlicher wird, daß Verhalten der Motive zueinander. Als Manager für Damenringkämpfe gelangt Esch zur Selbständigkeit und damit zu einer Verantwortung, die er sich gesetzt hat. Und wenn die Sache mit Mutter Hentjen in Ordnung ist, dann werden durch einen energischen Zugriff die Ereignisse einen Kurs nehmen, der den Begriffen von Gerechtigkeit entspricht. Denn diese Ordnung ist von höchstem Rang und schließt alle anderen ein. Und ob Esch bei einer oft gewaltsamen Durchführung im „Rechte“ war, darüber kann uns keine an ewigen Ordnungen orientierte Gewissenslehre aufklären. Er mußte immer von vorn anfangen, ein grübelnder Mensch sein, der sich aus eigenem durchkämpft. Auch er kann nicht darum herum, in manchen Augenblicken, die das „Differential“ seines inneren, geistigen Lebens und seiner lebendigen Geschichte darstellen, mit einem spontanen, schöpferischen Gewissen zu entscheiden. Besonders in der Erotik bildet sich ein spezifisches Zartgefühl heraus und es ergeben sich in dem Verhältnis zweier Liebenden Situationen, die allein dem erotischen Gewissen unterstehen, wo jede andere Entscheidung, etwa nach der Konvention, kläglich versagen muß. Denn nur die aus der eigenen Brust gewonnene „Richtigkeit“ kommt in Frage, und der Handelnde spielt nach einer üblen Rolle, die ihm falsche Eide und Beteuerungen vorschreibt, sobald er dem Inhalt angeblicher Gebote Glauben schenkt. „Denn der Mensch trägt vielerlei Möglichkeiten in sich, und je nach der logischen Kette, die er um die Dinge wirft, kann er sich beweisen, daß sie gut oder schlecht sind.“ Es gibt eben verschiedene „höhere“ Richtigkeiten. Solche, welche die Sittlichkeit zur Kenntnis nimmt, und dann jene, ungleich vitalere Richtigkeit, die dem spontanen Augenblick entspringt. Dieser entscheidende Unterschied ist von dem Dichter des Romanes stark empfunden worden und bis in die intimsten Regungen in der Figur des Esch gestaltet. Frank Wedekind formulierte diese Unterscheidung einmal als die zwischen Trapezkünstlern und Seilkünstlern. Jene haben den Schwerpunkt über sich, diese dagegen unter sich. Die einen hängen und turnen an der objektiven Weltordnung, die anderen balancieren auf ihrem subjektiven Erlebnis. Jedesmal ist eine seelische Gleichgewichtslage das Erstrebte. Ob es sich um das Psychische einer Frau oder eines Mannes handelt, beide Male ist von Broch der verborgenste Impuls erfaßt worden und im Gesamterleben mitgeführt. Auch in jenen magischen Passagen, wo die Vorstellungen der Phantasie weit wirklicher erlebt werden, als der konkrete Augenblick (fonction du réel). „Und wenn auch an keinem der Fenster dort droben Ilona im Flimmerkleide zu sehen war, der schönen Landschaft schönstes Widerspiel, sie selber schon am Ziele und lässig dort lehnend, ach, wenn man es auch sehr vermißte, unberührt blieb das Traumschloß, unberührt das Bild des Traumes, und es war, als ob das, was er leibhaftig vor sich sah, bloß eine sinnbildliche Stellvertretung wäre, errichtet für den augenblicklichen und praktischen Gebrauch, Traum im Traume.“

 

Aber auch die Szene selbst, die Gegenwart des Milieus mit seinen Requisiten, der Hausrat, ist mit einer Genauigkeit gesehen. die den Gegenständen ihre profane Schwerkraft beläßt. Wie an vielen Stellen das Requisit die Stimmung oder eine entscheidende Wendung interpunktiert, das ist mit einer Präzision eingefügt, die den Anlaß in eine unheimlich sachliche Nähe rückt. Gegenständliches ist dem Psychischen, und Psychisches dem Gegenständlichen mit einer verblüffenden Adhäsion verbunden. Schon in dem ersten Roman der Trilogie „Die Schlafwandler“ (Rhein-Verlag 1931), in „Pasenow oder die Romantik“ (dargestellte Zeit: 1888) zeigt Broch diese Meisterschaft im sachlichen Spuk.

 

Broch hat dem Roman eine Reflexivität erobert, die er vorher noch nicht besaß. Aus dem Hintergrund des Erlebten treten oft Gedanken hervor, die kein unmittelbares Stichwort kennen, die einer angesammelten Not Rede stehen, in einem Augenblick, den nur der Himmel für diese Gelegenheit ausgespart haben konnte. „Erst in der fürchterlichsten Uebersteigerung der Fremdheit, erst wenn die Fremdheit sozusagen ins Unendliche geführt ist, kann das aufblühen, was als unerreichbares Ziel der Liebe gelten darf und sie ausmacht: das Mysterium der Einheit … ja, so heißt es.“ Harry, ein Lustknabe, sagt es auf, wie einen Bibelvers.

 

 

1918 Huguenau oder die Sachlichkeit

[Prager Presse 12, 1932, Nr. 324, 27. 11., Dichtung und Welt, S. III]

 

Ein seltenes Phänomen eines Dichters –: parallel dem poetischen Trieb läuft der philosophische. Aber nicht um Räsonnements auszukosten bei gelegentlich abgestoppter Handlung, um ein bißchen Verhör anzustellen. Nein, was geschieht, bleibt als Ereignis unangetastet und die Personen handeln in ihrer Bestimmung. Die Kunst der Schilderung füllt den Lebensraum mit allen Schwebungen des Augenblicks und nichts passiert neben der Gegenwart. Das Gedankliche lebt mit dem Körperlichen der Person, gehört zu seiner Existenz bis in die unscheinbarste Verrichtung. Photographie, Sachlichkeit? Das wäre nachzuahmen. Aber hier ist das Mittel, die Technik der Schilderung in der Substanz des Romans lebend. Mit der Begeisterung für sein Handwerk läßt sich ein Roman nicht schreiben, mag diese auch anhaltend sein. Der Autor wäre stets von der Sympathie des Lesers abhängig und von der Laune, diese Art Begeisterung ausreichend zu finden. Die Bereitschaft, die Hermann Broch von seinem Leser beansprucht, führt über das bloß Interessante der Begebenheiten hinweg zu einer Deutung dieser Zeit, in der selbst wieder ein konstruktiver Wille den Aufbau vollzieht. Was schlafwandelnd den Impuls leitet, ist in einer Region des Denkens gedeutet, beides in seiner Intensität gleich geltend, so daß eines das andere durchdringt und eine Gleichzeitigkeit das Geschehnis umspielt, die den Augenblick über sein Momentanes erhellt. War es nicht die Meinung Aristoteles, daß die Poesie philosophischer sei als die Geschichte? Eine Figur, wie Huguenau, zeigt den kritischen Augenblick der Geschichte mit einer Deutlichkeit, wie sie keine Geschichtsphilosophie je erreichen könnte. Oder um es präzise mit den Worten des Autors zu sagen: „Die Person kann als solche höchst wertlos, ja wertfeindlich sein, ein Räuberhauptmann oder ein Deserteur zum Beispiel, aber als Wertzentrum mit dem ihm zugehörigen Wertkreis ist er trotzdem biographie- und geschichtsreif.“

 

Broch, der sich öfter als Schüler Platons bekennt, ist der Entwicklung dieser Schule innerhalb der deutschen Philosophie gefolgt und hat die Erkenntnismethode Heideggers um ein neues Forschungsprinzip bereichert. Mit „Huguenau oder die Sachlichkeit“ ist die Romantrilogie „Die Schlafwandler“ (Rhein-Verlag in Basel) beendet und eine Epoche darin geschildert worden, die von 1888 beginnend tief in unsere Zeit reicht. Wie einfältig waren noch die Spießer Gustave Flauberts gegen diesen ihren Nachkommen Huguenau, dessen luziferische Größe den Wahnsinn eines Krieges in sich aufnehmen konnte.

 

 

Spaziergang mir Hermann Broch

[Prager Presse 14, 1934, Nr. 165, 19. 6., S. 5]

 

In anderen Fällen ist es ganz leicht, einen Menschen ein Stück Weges zu begleiten. Einen Menschen, den man so obenhin kennt und wobei es sich nur darum handeln wird, die Unterhaltung am Gleichgültigen angenehm vorbeizuführen. Anders bei einem Dichter, bei einem Autor, der, wie er eben ist, auch weiter nicht auffallen würde, der aber, wie er da neben dir geht, einmal Anlaß gegeben hat für eine ganze Personage, die in seinem Roman ein Dasein bezogen. Du gehst neben ihm, aber da ist noch der Esch und dieser Herr Huguenau, beide sind in dem Roman so zu Wirklichkeit gekommen, daß sie ohne Umstände, ohne Belastung von dort dies bißchen Wegbegleitung mit aufnehmen könnten. Für den Verlauf des Romans mochten sie abgetan sein, aber jetzt, indes wir unter uns sind, Autor und Begleiter, dürften sie schon um die Ecke biegen, und sei es auch nur, damit wir sie befragen, wie sie das Wetter fänden. Diese Frage zu stellen ließe sich leicht an und sie konnte ebenso obenhin beantwortet werden, da doch alle Bedeutung, die diesen beiden zukommt, von anderswo reichlich zugewachsen. Aber diesem angeflogenen Wunsch, Wesen leibhaftig zu begegnen, die im Roman schon auf den simplen Anruf reagieren würden, diesem Wunsch heißt es nicht weiter nachspionieren, denn nun ist es der Autor selbst, dem du mit der erstbesten Alltäglichkeit aus der Verlegenheit helfen mußt, im Augenblick ein Einzelner zu sein, der diesen Weg nimmt, an deiner Seite, gut gekleidet, ein Mann, ein Herr, an dessen Aeußerem auch nicht ein Spänchen haftet, das ihm bei seiner Arbeit in der Werkstatt abgesplittert sein mochte. Er ist rein gebürstet, für den Ausgang gerüstet. Die Erledigungen, die er vorhat, könnte ein anderer ebenso ausführen.

 

Das eben ist die Verlegenheit.

 

Nie begegnest du einem Dichter bei aufgekrempelten Hemdärmeln werkend in seiner Berufsarbeit. Nur immer in den Pausen, bei nüchternen Hantierungen, an denen du nicht sein höheres Wesen ablesen kannst. Wie erʼs da kümmerlich schafft, das machst du auch nicht anders. Offenbar spart er gerade. Und immer nur bei dieser ausschaltenden Beschäftigung triffst du ihn an.

 

Aber wenn er sich für Drüben ausprobiert, findet er auch wirklich gleich die Bleistifte, die er eben bereitgelegt hatte? Gibt es eine häusliche Ordnung, die diesen Fall vorsieht? Mit irgend einem Zipfel weht er bei seinem Fluge heimischen Staub auf. Ein ehrfürchtiger Gedanke, der schon für das künftige Heimmuseum Stimmung macht. Sind wirklich alle Spuren zu verwischen, die seine Rüstigkeit außerhalb unserer Grenzen verraten könnten? Daß er sich so verstellt und die gleichgültigste Miene für das Alltagsleben bereit hat! Jede Arbeit hinterläßt doch Wunden, wo ist dieser blessiert?! Als ob nichts geschehen wäre. Da geht er nun neben mir, ganz heil. Und eine Anstandsregel verlangt von mir, es zu glauben. Ich gestehe, sie ist mir unbequem.

 

Warum trägt ein Dichter nicht eine Montur, eine Kleidung, die ihn als solchen kennzeichnet? Der außerordentliche Fall läge so offen zu Tage und man könnte seine Bewunderung mit der des schönen Aufzugs gelegentlich verbinden. Eine kleine Handhabe wäre einem geboten. In Zivil sieht jeder gleich aus, aber diese besondere Kleidung verlangte auch eine Haltung, die dem Anlaß entspricht. Er müßte endlich als Dichter spazieren gehen. Und warum soll er, wenn er Ausgang hat, nicht auch in seiner Würde stecken! Das künftige Denkmal hatte dadurch schon eine leichte Kontur, die in Stein oder Eisen dem Vergänglichen gern widerstünde.

 

Wie also schafft es ein gewöhnlicher Sterblicher, beschattet von so ehrender Begleitung, halb in der Zeit zu wandeln, die uns noch gemeinsam zu atmen verstattet und gleichzeitig auch dort Luft zu schöpfen, wo nur mehr der Geist des Ruhmes an der Erinnerung festhält? Ich schmarotze an einer Unsterblichkeit, die noch gar nicht zu Genuß steht, und was auch einst den Nachkommen zu denken belieben wird, mich kann es für diesen Augenblick nicht klüger machen. Ich muß ausharren als der, der ich bin. So wie mich die Zeit will, darf ich ihn begleiten, was darüber hinausführt, gehört ihm nicht mehr als mir, der ich mich nur in Marsch gesetzt habe, um für meinen Tod nicht zu spät zu kommen.

 

Er aber hat es leicht. Seine Uhr geht immer voraus, und wenn er sie aufzieht, schlägt er unbewußt eine Zeit dazu, die noch für die späte Nachwelt funktioniert. Mir ist bange um die Augenblicke, die sich so unter die Zeit einschleichen. Augenblicke, die nicht pünktlich sind, vagierendes Gesindel, das die fällige Stunde vom rechten Kurs abtreibt. Aber ein Dichter begreift das nicht; er kommt mit so viel oder so wenig aus, als ihm die Zeit vom Künftigen bevorschußt.


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