Es schreibt Jana Dušek Pražáková

(8. 4. 2020)

Mit Unterstützung des Prager Literaturhauses deutschsprachiger Autoren veröffentlichte der Verlag Homunculus 2019 den „vergessenen Prag-Roman“ Der Tod des Löwen (1916). Die Autorin Auguste Hauschner (1850–1924) wurde 1850 als Auguste Sobotka in die Familie eines jüdischen Prager Fabrik- und Gutsbesitzers geboren. Im Jahr 1871 heiratete sie Bruno Hauschner, mit dem sie nach Berlin übersiedelte. Bekannt wurde sie durch Theaterstücke sowie durch ihre Romane Die Familie Lowositz (1908), die vom Leben einer jüdischen Prager Familie in der Zeit sich zuspitzender Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen handeln, und durch den Roman Rudolf und Camilla (1910), der daran anschließt und in dem sich neben der Thematisierung jüdischer Identität noch ein weiteres ihrer Interessengebiete niederschlägt, nämlich die Stellung der Frau in der Gesellschaft.

 

Die aktuelle Ausgabe des Romans Der Tod des Löwen wird von den elf Radierungen illustriert, die der bekannte Grafiker Hugo Steiner-Prag bereits für die erste Ausgabe im Verlag Egon Fleischel & Co in Berlin gefertigt hatte. Der Text folgt der zweiten Ausgabe von 1922. Die Handlung spielt in Prag zu Beginn des 17. Jahrhunderts und erzählt von den letzten Tagen des seelisch kranken Rudolf II. Dieser hatte 1583 wegen familiärer Intrigen und der Bedrohung durch das Osmanische Reich den kaiserlichen Hof nach Prag verlegt. Er ließ sich hier eine Residenz errichten und holte Botschafter, Gelehrte und Künstler herbei. Gerade das rudolfinische Prag ist ein bedeutender Topos in vielen deutschsprachigen literarischen Werken, die die jüdische Geschichte verarbeiten (Ingeborg Fiala-Fürst: Der produktive Mythos Prag: Die Mythen um das jüdische Prag. In: Almut Todorow / Manfred Weinberg (Hg.): Prag als Topos der Literatur. Olomouc: FF UPOL, 2011, S. 27; Peter Becher / Steffen Höhne / Jörg Krappmann / Manfred Weinberg (Hg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart: J. B. Metzler, 2017, S. 285). Die Prager deutschsprachigen Autorinnen und Autoren wählen besonders in den Jahren 1914 bis 1917 als Stoff häufig das historische oder zeitgenössische Prag, wobei die Stadt zu einem gewissen Grad als Hauptprotagonist fungiert, sei es im Golem (1915), dem berühmtesten Roman von Gustav Meyrink, oder in den Romanen Severins Gang in die Finsternis (1914) von Paul Leppin, Der Mädchenhirt (1914) von E. E. Kisch, Tycho Brahes Weg zu Gott (1915) von Max Brod, Der Kampf (1916, ab 1919 unter dem Titel Franziska) von Ernst Weiß oder Die Walpurgisnacht (1917) von Gustav Meyrink (Becher et al., 2017, S. 190 und 320).

 

Auch den Tod des Löwen können wir zu dieser Gruppe literarischer Werke zählen. Die Hauptfigur, Rudolf II., wird hier als Paranoiker gezeichnet, der sein Umfeld fortwährend verdächtigt, Intrigen zu spinnen. Der Arzt Mayer, der Kammerherr Rumpf und der Diener Rutzky versuchen ihn vergeblich dazu zu bringen, sich zu beruhigen. In Todesangst vor seinem Bruder, dem ungarischen König Matthias, begibt sich Rudolf Rat suchend zum Astronomen Tycho de Brahe und bittet ihn herauszufinden, was der am Himmel über der Stadt vorüberziehende Komet vorhersage. Weder der Astronom noch der Alchemist Renus Cysatus können ihm jedoch Rat geben. Im alchemistischen Laboratorium lernt Rudolf unter dramatischen Umständen den Rabbiner Ben Bezalelem kennen, auch bekannt als Rabbi Löw. Mutig fordert der Rabbi den Kaiser auf, den Juden, die im Ghetto leben, größere Freiheiten zu gewähren. Rudolf II. verwehrt ihm dies zwar, beschließt aber dennoch, ihn heimlich zu besuchen. Dort wird er von Golde, der fünfzehnjährigen, schwer erkrankten Tochter des Rabbi bezaubert. Der alte, geschwächte Kaiser verliebt sich in sie, und bei seinem nächsten Besuch gelingt es ihm, sie so zu manipulieren, dass sie bereit ist, sich ihm hinzugeben. Im letzten Moment jedoch hindert ihn Jacob daran – ein Diener des Ben Bezalelem, in dessen Figur das Golem-Motiv erkennbar wird. Rudolf flieht aus dem Ghetto mit blutenden Gliedmaßen. Er begibt sich sofort zum Laboratorium des Renus Cysatus ins alchemistische Gässchen, um zu erfahren, wer die Gebietsstreitigkeiten letztendlich gewinnen würde, er oder Matthias. Das überwältigende esoterische Ritual bringt Rudolf zu der Überzeugung, dass die Sache zu seinen Gunsten ausgehen werde – und trotz der leeren Kassen und der Spannungen zwischen dem katholischen und dem protestantischen Adel veranstaltet er ein opulentes Festgelage im Wenzelssaal. In eben dieser Nacht bricht im jüdischen Ghetto ein Feuer mit verheerenden Folgen aus. Rudolf aber, in dessen Macht es nun stünde und schon zuvor gestanden hätte, die elenden Bedingungen im Ghetto zu verbessern, wendet den Blick von den Flammen ab. Noch während der Festlichkeiten verfällt er in eine tiefe Depression. Die letzte Freude des Kaisers ist der Löwe, der zusammen mit anderen seltenen Tieren auf der Burg gehalten wird. Der Löwe stirbt und kurz darauf sein Herr.

 

Der Hof von Rudolf II. begann faktisch schon in den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts auseinanderzubrechen, als der Kaiser seelisch erkrankte, unter Depression und Syphilis litt und seinem Umfeld nicht mehr vertraute. Rumpf, der Kammerherr, verließ schon damals den Hof – Rudolf jagte ihn offenbar infolge seiner paranoiden Vorstellungen selbst aus der Stadt. Als Rudolf im Jahr 1612 starb, war Rabbi Löw schon drei Jahre tot – und es ließen sich weitere Ungenauigkeiten finden: Das Loretto, das weiter unten im Zitat aus dem Roman Erwähnung findet, stand erst zwei Jahrzehnte später auf dem Hradschin. Es ist jedoch gar nicht zielführend, die Verarbeitung der Figuren und Orte einer historischen Prüfung zu unterziehen; Auguste Hauschner ging es nicht um einen historischen Roman, sondern um eine neoromantische Darstellung des Niedergangs eines Herrschers und der ambivalenten Situation der jüdischen Bevölkerung, die nirgends mehr dazu gehörte.

 

Während Ingeborg Fiala-Fürst 2011 noch kritisierte, dass dem Werk von Auguste Hauschner nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt und die Bedeutung der Autorin für die Ausformung der Prager deutschsprachigen Literatur unterschätzt würde, beglich Veronika Jičínská durch ihre Arbeit mehr als mustergültig diese Schuld, setzte sich mit Hauschners Werk in ihrer Dissertation Böhmische Themen bei Fritz Mauthner und Auguste Hauschner (2014 als Buch erschienen) auseinander und schrieb auch das Vorwort zur Neuausgabe des Romans Der Tod des Löwen. In ihrer Monografie erläutert Jičínská Auguste Hauschners Umgang mit Themen, die für das damalige künstlerische Schaffen attraktiv waren: Geheimlehren waren unter den Neoromantikern in der Zeit des Ersten Weltkriegs sehr populär (S. 103–104). Laut Jičínská ist jedoch der Okkultismus für Hauschner im Gegensatz zu anderen Autoren nicht ein Thema für sich, sondern vielmehr ein ästhetisches Mittel um das absonderliche, durch Rudolfs erkranktes Gemüt gefilterte Bild von Prag zu zeichnen. Hauschner konzentriert sich hier laut Jičínská vor allem auf die Momente der Assimilation und auf ambivalente Prozesse, die für hybride Kulturen typisch sind (S. 111). In zeitgenössischen Kritiken schnitt Der Tod des Löwen schlechter ab als etwa Meyrinks Werk. Eine Ausnahme ist der Literaturhistoriker Rudolf Wolkan, der 1925 hervorhob, was für ein überwältigender und starker Roman es sei (Fiala-Fürst, 2003, S. 2); Max Brod widmete Hauschner dagegen in seinem Prager Kreis ganze fünfzehn Seiten, wobei er nur ihren zwei vorhergehenden Romanen Aufmerksamkeit schenkte (2016, S. 65–79).

 

„Jak lvové bijem o mříže, / jak lvové v kleci jatí, / my bychom vzhůru k nebesům, / a jsme zde Zemí / spjatí,“ (etwa: „Wie Löwen schlagen wir ans Gitter, / wie im Käfig gefangene Löwen / streben wir hinauf zum Himmel / und sind hier an der Erde / fest,“) – diese Verse aus Jan Nerudas Kosmischen Liedern (1878) handeln von der Sehnsucht des Menschen nach der Erweiterung seiner Erkenntnis. Wie Löwen des Geistes liefern sich auch Rabbi Löw und Rudolf im Roman einen heftigen Kampf; letzterer jedoch zieht sich daraus zurück und wendet sich einem faustischen Pakt mit einem Kometen und der Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse zu. Die Details der Erschaffung und Funktionsweise des Golems, auf den an anderer Stelle alle Aufmerksamkeit gerichtet wird, tauchen in diesem Text nur am Rande auf – die Magie rund um das künstliche Wesen verschleiert hier nämlich nicht die viel wichtigere Diskussion über die Gefahr des moralischen Versagens des Menschen.

 

Das Motto des Verlags Homunculus lautet „Literatur für alle Zeit“. Michal Topor wies in seiner Rezension (echo 27. 10. 2014) der Monografie von Veronika Jičínská bereits darauf hin, dass bislang keines der Werke von Auguste Hauschner ins Tschechische übersetzt wurde. An diesem unguten Zustand hat sich auch nach fünf Jahren nichts geändert. Der einhundertachtzig Seiten dicke Roman Der Tod des Löwen – ein „Thriller aus Prag über die Fangarme der Macht“ („thriller z Prahy o chapadlech moci“) für den anspruchsvollen Leser, wenn ich mir den Untertitel eines bestimmten tschechischen Romans bedienen darf, der diesen Frühling erscheint – verdiente es jedoch, übersetzt zu werden, sowohl in Hinblick auf die faszinierende Verarbeitung des Themas, individuelle Interessen über die Interessen der Unterdrückten zu stellen, als auch in Hinblick auf die sprachliche Monumentalität des Romans, die in der Schilderung der Gedankengänge der Hauptfiguren oder der Topografie des nächtlichen Prag sichtbar wird, der Stadt, die sich permanent in den Vordergrund drängt:

 

„[Rudolf] ließ sich eine kühlende Kompresse auf den heißen Schädel legen, goss einen Becher schweren Weins herunter. Er dachte nach. / Die Turmuhr des St.-Veits-Doms tat vier Schläge und dann noch zwölf. Mitternacht. Das Kapuzinerkloster der Santa Casa zu Loretto stimmte ein, die Teinkirche der Altstadt folgte, von Nord und Süd, von Osten und von Westen, aus Strahow, aus St. Johann in Skalka, über den Fluss hinweg, aus den fünfundvierzig Kirchen der Neustadt und der Altstadt drang durch die Luft der Ruf der Zeit, und in das Dröhnen, Klingen, Läuten lag die große Lautlosigkeit gebettet, in der Rudolf von Habsburgs Herrscherseele mit ihrer Ohnmacht rang. / Der Kaiser saß mit zugedrückten Augen, ein nervöses Zucken spielte über sein Gesicht und sehr leise, kaum vernehmbar trat der Wunsch aus ihm heraus, der wichtigste: seinem treuesten Kumpan, dem Herzog Julius von Braunschweig, kundzutun, er sei der Heirat mit Deroselben allerliebsten Jungfer Tochter, die er schon der Öfteren erwogen, nunmehr ernsthaft zugeneigt.“ (S. 136)

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Auguste Hauschner: Der Tod des Löwen. Erlangen: Homunculus Verlag, 2019, 180 S.


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