Es schreibt: Mirek Němec

(25. 3. 2020)

Václav Smyčka ist mit seiner an der Prager Germanistik verfassten Dissertation Das Gedächtnis der Vertreibung zweifellos ein großer Wurf gelungen. Bis heute hat sich so umfassend kein Wissenschaftler mit der literarischen und künstlerischen Reflexion und Verarbeitung der Vertreibung der Deutschen aus den böhmischen Ländern beschäftigt. In seine Synthese sind an die sechzig literarische Werke und Memoiren-Literatur, mehrere Filme und ein Fotoprojekt einbezogen. Smyčkas Arbeit ist aber nicht nur eine reine Bestandsaufnahme der Primartexte, sondern der Autor schlägt darüber hinaus ein universell brauchbares Raster vor, um weitere literarische Werke, die sich mit traumatisierenden Ereignissen der Vergangenheit auseinandersetzen, wissenschaftlich erforschen zu können.

 

In der Einleitung werden standardgemäß der Forschungsstand und die theoretischen Ansätze zur Verschränkung zwischen kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung und Literaturwissenschaft erörtert. Aus diesem methodischen Teil, der sich ergiebig mit den bisherigen weit ausgefächerten Erinnerungsforschungen beschäftigt, wird die logische Struktur des Bandes ersichtlich. Smyčka geht es um drei Schritte: zunächst um das Problematisieren des extrem umstrittenen Geschichtsthemas. Er betont, dass die Erinnerungsarbeit an dem Themenkomplex „Vertreibung“ stets für Aufsehen sorgte, weil sie zum einen mit vielen negativen Traumata verbunden war und zum anderen zu sehr mit dem politischen Diskurs zusammenhing. Den andauernden und komplexen Streit um die Deutung der geschichtlichen Ereignisse betrachtet er als sinnvoll und für die Kunst in den politisch freien Rahmenbedingungen als nachgerade ertragreich. Um die Pluralität der Ansichten, Perspektiven und Interpretationen geht es ihm im zweiten Schritt. Hier wird die Präsenz, Inszenierung und Repräsentanz des kontroversen Themas im deutsch(sprachig)en und tschechischen literarischen/künstlerischen Betrieb behandelt. Smyčka ermittelt vier Masternarrative über die Vertreibung: ein tschechisches agonales, ein sudetendeutsches revanchistisches, ein antikommunistisches und schließlich ein „transnationales“ oder auch „transhistorisches“. Sie sind alle mit dem sich in der Zeit wandelnden politischen Diskurs eng verwoben. Doch die Kategorie der Zeit ist noch aus einem anderen Grunde für seine Analyse entscheidend, denn während der Diskurs bis zur Jahrtausendwende überwiegend von den Zeitzeugen beherrscht wurde, setzen sich nach Jahrtausendwende immer mehr die Nachfolgegenerationen durch. Der Generationenwechsel markiert die Übergangsphase vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, in der die Kunst zu einem der formierenden Faktoren des kollektiven Gedächtnisses wird. Dieser Prozess, der in Anlehnung an die modernen kulturhistorischen Gedächtnisforschungen als „floating gap“ benannt wird, sorgt nach Smyčka für eine erhöhte und qualitativ sehr differenzierte Produktion von Texten. Somit ist er zum Schlüsselbegriff seiner Studie geworden.

 

Die Erscheinungswelle war in den Jahren 2004 und 2012 besonders stark. Die Statistik der ausgewählten Werke weist eine deutsch-tschechische Asymmetrie auf. Es gibt mehr deutschsprachige Texte, wobei sie den Scheitelpunkt der Produktion um die Mitte der Nulljahre erreichten. Die Anzahl der tschechischsprachigen Texte wird spiegelbildlich durch mehrere Übersetzungen aus dem Deutschen wettgemacht (S. 186). Zugleich scheint es aber, dass das Interesse bei den tschechischen Autoren mit einer Verspätung von drei bis fünf Jahren folgte. Smyčka geht es aber nicht um die Statistiken, die nicht eindeutig zu interpretieren sind und eher zu der stereotypischen deutsch-tschechischen Dichotomie beitragen könnten. Genau umgekehrt, diesen stark in nationalen Schemata verankerten Vertreibungsdiskurs, wie ihn bereits Michaela Peroutková (Literarische und mündliche Erzählungen über die Vertreibung. Berlin: Wiku, 2006 und Vyhnání. Praha: Libri, 2008) darlegte, überwindet Smyčka zum Glück. Er will im abschließenden Schritt untersuchen, ob es nicht eine Chance gibt, an die Gewaltereignisse transnational zu erinnern.

 

Die literarischen Texte werden in seiner Studie nicht mehr, wie in einigen Einzelstudien zum Thema, auf die historische Referenz reduziert, was aber wiederum nicht bedeutet, dass ihre pragmatische Funktion nicht erörtert wird. Damit reiht sich der Autor selbst in ein originelles Forschungsparadigma ein, welches „die literarischen Texte als Medien einer genuin literarischen Erinnerungs- und Posterinnerungsarbeit mit all ihren Ambivalenzen und Unzuverlässigkeiten“ (S. 19) begreift. Daraus ergibt sich ein ganzer Fragenkomplex, den der Autor folgendermaßen zusammenzufasst: Es sei das Ziel der Untersuchung aufzuweisen, „wie die Vertreibung in den tschechischen und deutschen Erinnerungskulturen literarisch und künstlerisch aufarbeitet [sic!], gedeutet und gespeichert wird und wie die unterschiedlichen literarisch vermittelten Perspektiven in Dialog treten“ (S. 13).

 

Nach dem ersten, theoretisch angelegten Kapitel, das die „floating gap“ und die Transformation(en) der nicht nur literarischen Narrative thematisieren, widmet Smyčka sein besonderes Augenmerk eben den Erinnerungsstrategien. Es kennzeichnet seine ganze Arbeit, dass er bemüht ist, seine Gedanken klar zu strukturieren und immer in ein theoretisches Konzept einzuordnen. Dabei ist er sich dessen bewusst, dass sich die Autorinnen und Autoren in ihren Werken mehrerer Erinnerungsstrategien bedienen können. Zugleich überschätzt er sein theoretisches Modell nicht und erkennt an, dass es in der Praxis wohl unmöglich ist, klare Grenzen der Typologie zu ziehen. Trotzdem stellt der Autor im zweiten und längsten Kapitel (S. 63-184) sieben solche Paradigmen der Erinnerungsarbeit vor und untermauert sie mit Analysen von konkreten Werken. Die sieben von ihm entworfenen Erinnerungsstrategien – Dokumentieren, Deuten, Ermitteln, zerlegte Erinnerungen ausstellen, Traum beschwören/inszenieren, Genealogien zeichnen und Landschaft lesen – sind eigentlich Organisationsmuster der künstlerischen Werke und/oder die Art und Weise, wie diese kultursemiotisch rezipiert werden können. Die Vertreibung entpuppt sich dabei als ein dankbarer Stoff, der viele Zugänge eröffnet und die Kreativität des Autors/der Autorin geradezu aufstacheln muss. Dazu verhelfen die umstrittene Auslegung der geschichtlichen Ereignisse, die Möglichkeit, die Rollen zwischen Opfern und Tätern hin und her zu tauschen bzw. beide Rollen einer einzigen literarischen Figur anzuvertrauen oder inflationär überall Opfer zu sehen (sieh. Matthias Lohre: Das Opfer ist der neue Held. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019). Weiterhin ist vom Belang, wie Gewalt und die daraus resultierenden Traumata, die auch generationenübergreifend wirken können, künstlerisch zu verarbeiten sind. Hier können ethische Prinzipien ausgelotet werden, die eigene Schuld und Verstrickung in Verbrechen thematisieren und letztendlich auch die Taktiken aufzeigen, wie ein Individuum in schwierigen politischen Bedingungen handeln mag. Zudem könnten die Spuren der Vergangenheit nicht nur in der Psyche sowohl eines Individuums als auch einer Gruppe, die auch in einer Landschaft zu finden seien, durch die Literatur neu erschlossen werden. Alle diese Motivationen und Komponenten bespricht Smyčka sehr überzeugend mit breitem theoretischem Wissen, einem überdurchschnittlichen Sinn fürs Detail bei den Analysen der Werke und handwerklicher Bravour.

 

Die von Smyčka gewählten Paradigmen von Erzählstrategien werden nicht chronologisch geordnet. Die Beispiele zu jeweiligen Erinnerungsstrategien decken praktisch immer den ganzen Zeitraum seiner Textauswahl ab, und manchmal gehen sie auch deutlich darüber. Ob und wie sich die Kategorien in der Zeit bzw. durch die „floating gap“ verändern, wird daher nicht ganz schlüssig erklärt. Es scheint, dass das Dokumentieren verbunden mit dem Tatsachenroman in der deutschsprachigen Literatur zu sehr mit der Zeitzeugengeneration verknüpft ist. Umgekehrt scheinen mir gerade die Strategien „Landschaft lesen“ zusammen mit dem mythologisierenden „Deuten“ für die Werke tschechischer Herkunft typisch. Anstatt sich mit der Vertreibung „an sich“ auseinander zu setzen, inszenieren sie mit Hilfe der geschichtlichen Spuren eine „Sudeten-Landschaft“ in ihren Werken, um die reale Gegend vor Ort neu zu vermessen und letztendlich vielleicht auch zu verstehen oder gar zu „besetzen“. Ein neuer Regionalismus wird diesbezüglich schon in den 1990er Jahren erfunden und hängt meines Erachtens nur bedingt mit dem Generationenwechsel und der Aufgabe des national kodierten Masternarrativs zusammen. Nur am Rande sei bemerkt, dass beide Erinnerungsstrategien bereits Siegfried Lenz‘ 1978 veröffentlichter Bestseller-Roman Heimatmuseum vereinigt. Dabei wurde seine polnische Erstübersetzung von 1990 sehr positiv aufgenommen. Seitens eines Kritikers wurde gar vorgeschlagen, diesen „Vertriebenen-Roman“ in der Wojewodschaft Ermland-Masuren zur Pflichtlektüre zu machen. Damit sollte eine moderne regionale Identität der Schülerinnen und Schüler gestiftet werden.

 

Doch gerade das gemeinsame Thema – Beschwörung einer verlorenen Mythenlandschaft – führt beispielhaft zum dritten Teil der Studie. Hier erkundet Smyčka, ob das Potential vorhanden ist, dass die ähnlichen oder gleichen Erinnerungsstrategien ein „interkulturelles Erinnern“ ermöglichen. Gefragt wird dementsprechend nach der semantischen Funktion der Texte im deutsch-tschechischen Diskurs und ihre damit verbundene (Un-)Übersetzbarkeit. Smyčka zeigt konkrete Beispiele der Übertragungen, wobei er das Konzept Schleiermachers einfallsreich nutzt. Neben der Kritik der klassischen Kategorien dem „Einbürgern“ einerseits und dem „Verfremden“ andererseits, kreiert er den Begriff der „einbürgernde[n] Verfremdung“ (S. 196). Er erweitert damit die These Gadamers, dass jede Übersetzung immer eine Art Überhellung sei, und fügt hinzu, dass es sich eher um eine „Dezentrierung der Beleuchtung“ handelt, die „sowohl einige Differenzen überhellt als auch ganz neue Schattierungen entdeckt“ (S. 202). So entstehen – manchmal manipulierend, manchmal ohne Absicht – neue Bedeutungen, die der Lesart der Zielgruppe entsprechen sollen. Manche solcher Strategien sind mit der sprachlichen Unübersetzbarkeit verbunden, andere damit, wie mit Sprachspielen und Doppeldeutigkeiten in der Übersetzung umgegangen wird, doch es geht auch um inhaltliche Beispiele. Der Befund untermauert seine These, dass der Generationenwechsel eine Pluralität von Perspektiven eröffnet hat.

 

Eine einfache bipolare Besetzung des Themas – sei es nach nationalen oder Opfer/Täter Kriterien – gebe es spätestens seit 2000 nicht mehr. Charakteristisch für den Wandel ist die sog. „dritte Figur“ (S. 211ff.), die immer stärker ins Zentrum der Werke der Gegenwartsliteratur über die Vertreibungsthematik rückt. Sie dient zum einen als „Fokalisator der Handlung“ (S. 213), doch zum anderen ist sie dadurch gekennzeichnet, dass sie die Perspektive des Anderen vermittelt. Damit besitzt sie eine ambivalente Zwischenstellung ähnlich einer Ausnahme und/oder marginalen Figur im Geschichtsdrama. Die agonalen nationalistischen Masternarrative werden zwar endgültig ausgeschaltet, doch die Werke appellieren nur bedingt an die moralische Katharsis, weil sie kein identifikationsstiftendes Potenzial aufweisen. Zugleich beobachtet Smyčka eine immer stärker beanspruchte Verschränkung des Vertreibungsthemas mit anderen Opferdiskursen. Neben der sog. „Holocaustisierung“ (nach Eva und Hans Henning Hahn) sind es die Hinweise auf die Opfer des Kommunismus, welche eine Opfersolidarität und das Gefühl des gemeinsamen Leidens fordern.

 

Diese Ausführungen und Befunde können zu der Annahme führen, dass es zu Verflechtungen und Annäherungen der Erinnerungskulturen kommt. Es ist aber erstaunlich, dass Smyčka in seiner Studie das Wort „Versöhnung“ kaum erwähnt, obwohl gerade dieser Begriff den politischen Diskurs seit den 1990er Jahre dominierte, wie er in der Unterzeichnung der Deutsch-tschechischen Erklärung (im Januar 1997) kulminierte. Relevant wäre dann die Frage, ob die politische Praxis auch die Kunst in einer bestimmten Art und Weise beeinflussen konnte. Klaus Bachmann sprach bereits 1994 in diesem Kontext über den „Versöhnungskitsch“. (Die Versöhnung muss von Polen ausgehen. In: taz, 5. 8. 1994)

 

Smyčkas Studie zeigt unmissverständlich, dass sich vor allem die neuen tschechischen Darstellungen des Themas vom tschechischnationalen Narrativ der Normalisierungszeit abgewandt haben. Dabei wurden die gravierenden Unterschiede zwischen den Masternarrativen oft nivelliert, die klare Opfer-Täter Dichotomie verabschiedet und letztendlich die Schuldfrage vom politischen Diskurs abgekoppelt. Doch gerade die Vorstellung einer möglichen relativierenden Entwicklung verneint Smyčka auf den abschließenden Seiten mit modernen theoretischen Ansätzen vehement. Vor allem das dialogische Erinnern (Aleida Assmann) und die wechselseitige Anerkennung der Geschichtsnarrative verschiedener Gruppen wären letztendlich für das Vertreibungsthema sinnvoll, auch um sich der Gleichgültigkeit zu widersetzen und nicht dem passiven Vergessen anheim zu fallen.

 

Smyčkas Studie inspiriert in mehrfacher Hinsicht zu weiteren Fragen und vor allem Forschungen, wobei er die Latte, nach der sich weitere Arbeiten werden messen lassen müssen, hoch gelegt hat. Weil das Thema immer noch ein beliebtes Thema von verschiedenen Qualifizierungsarbeiten ist, wird ihre Auseinandersetzung mit Smyčkas Nachdenken zu einem wichtigen Bewertungskriterium eigener Bemühungen. An meiner positiven Beurteilung seiner Arbeit ändert auch die Tatsache nichts, dass das Lektorat des Buches nicht einwandfrei war. Im publizierten Text gibt es mehrere ärgerliche Tipp- und Flüchtigkeitsfehler. Besonders bei den Toponyma ist die ärgerlich. So wird einmal aus Tetschen (Děčín) durch die Auslassung von einem „t“ das schlesische Teschen (Těšín) gemacht (S. 66). Komplizierter ist es mit der Verwechslung von Dubá (Dauba) und Dubí (Eichwald), wobei der Autor wohl vom fiktiven Eichberg schreibt (S. 89). Auch die Titel verwirren: Wenn die Aussiger Ausstellung in Anlehnung an den Westernfilm Tenkrát na severozápadě im Tschechischen betitelt wurde, ist die Übersetzung im Text Damals im Nordosten schlicht falsch (S. 92). Unerklärlich ist auch, warum das Buch von Andreas Kossert im Text nicht im deutschen Originaltitel erwähnt wird, sondern in der tschechischen Übersetzung. Ein Personen- und Ortregister würde dem Leser helfen. Solche und ähnliche Ausrutscher sollten in der tschechischen Ausgabe, für die ich dringend plädiere, leicht getilgt werden können. Es handelt sich um ein Buch, dass das Potential hat, zum Standardwerk zu einem bedeutenden Thema zu werden.

 

 

Václav Smyčka: Das Gedächtnis der Vertreibung. Interkulturelle Perspektiven auf deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen. (Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft, Band 15) Bielefeld: transcript, 2019, 258 S.


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