Es schreibt: Václav Maidl

(11. 3. 2020)

Das „Kleinere Büchlein über deutsche Schriftsteller aus Böhmen und Mähren“ Menší knížka o německých spisovatelích z Čech a Moravy  von Pavel Kosatík war mir aufgrund seines synthetisierenden Charakters und seiner Aufklärungsfunktion schon in der ersten Ausgabe 2001 im Franz-Kafka-Verlag positiv aufgefallen und aus eben diesen Gründen möchte ich nun, etwas verspätet, auch die zweite, veränderte und erweiterte Auflage lobend erwähnen, die 2017 von der Euromedia Group a. s. / Knižní klub in der Edition Universum erschienen ist. Während dieser mehr als fünfzehn Jahre blieb es nämlich die einzige populärwissenschaftliche Publikation, die durch einen vollständigen chronologischen Überblick ein Bild von der deutschsprachigen Literatur in den Ländern der böhmischen Krone bzw. Tschechiens, von den Anfängen bis zum beginnenden 21. Jahrhundert vermittelt. Und da Veränderung und Erweiterung schon auf dem Buchdeckel angekündigt sind, interessierte mich insbesondere, an welchen Stellen und auf welche Art sich die beiden Ausgaben unterscheiden.

 

Auf den (buchstäblich) ersten Blick fällt die Wahl des unterschiedlichen Bildmaterials auf: Während dieses in der ersten Ausgabe von Kurt Krolop bereitgestellt wurde, handelt es sich bei der zweiten Ausgabe mit Ausnahme von zwei Posten um Materialien aus dem Archiv des Autors. Worin besteht nun die Veränderung und Erweiterung des Textes? Ein Vergleich der Inhaltsverzeichnisse verrät nicht viel – die Anzahl und Überschriften der Kapitel sind gleichgeblieben, zwar bleibt die Anlage Weitere Quellen zur deutschen Literatur aus den Ländern Tschechiens im Verzeichnis der neuen Ausgabe unerwähnt, sie ist aber auf S. 272 dennoch zu finden.

 

Konkretere Erkenntnisse liefert erst der detaillierte Vergleich der Texte. Er zeigt, dass man bei den Veränderungen im Grunde zwischen zwei Typen unterscheiden kann: kleineren stilistischen Verbesserungen des Ursprungstextes und Erweiterungen des bestehenden Textes um Informationen, die einen oder zwei Sätze umfassen.

 

Als Beispiele gelungener stilistischer Korrekturen lassen sich die Streichung des sich wiederholenden Adjektivs „ganz“ („celý“) im Satz über P. Leppin („celé dílo tohoto prozaika, který prožil celý život v Praze, S. 92) und die Berichtigung der Wortverbindung „die Leute anherrschen“ („obořit se na lidi“, S. 183, gegenüber dem ursprünglichen „obořit se proti lidem“) anführen; mancherorts kommt es jedoch durch die stilistische Korrektur zu einer Bedeutungsverschiebung (z. B. wo die ursprüngliche Parataxe durch einen abhängigen Nebensatz ersetzt wurde, „Umgang mit tschechischen Intellektuellen, von denen ihn [K. Kraus, V. M.] Max Lobkowitz, tschechischer Adeliger und Diplomat, […] bei Präsident Masaryk einführte“, wo sich die Frage stellt, ob diese explizite Einreihung von Max Lobkowitz unter die intellektuelle Elite tatsächlich beabsichtigt war).

 

Die Frequenz der Veränderungen ist im ersten Drittel des Buchs verhältnismäßig niedrig und erhöht sich erst bei den Autoren, die ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert literarisch auftraten, besonders markant bei denjenigen, von deren Werken im Zeitraum 2001 bis 2016 neue tschechische Übersetzungen erschienen sind (Josef Mühlberger, Lenka Reinerová). Die den bestehenden Text ergänzenden Sätze haben einerseits informierenden (z. B. die Angabe zur Übersetzerin von Hašeks Švejk, Greta Reinerová, S. 135, oder Einzelheiten zu Fürnbergs Flucht nach Palästina im Jahr 1938, S. 245), andererseits wertenden Charakter (z. B. über Kraus: „Die Gnadenlosigkeit gehörte zu den Konstanten seines Schreibens.“ S. 117, oder über H. G. Adler: „Adlers Grundlagenwerk prägte die Parameter der Fachdebatte über den Holocaust in der westlichen Welt.“ S. 256). Einige Ergänzungen halte ich jedoch für irreführend (Chr. H. Spieß lebte im ländlichen Schlösschen in Bezděkov sicherlich kein „Einsiedlerleben“, S. 11, dieses imitierte er nur in den nahegelegenen Felsen von Tupadly, den „Tupadelské skály“) oder schlicht übertrieben („das Antikriegspamphlet [von Bertha von Suttner, V. M.] wurde ein weltweiter Bestseller“, S. 65, wo ich mit Blick auf den damaligen Stand der Kommunikationswege bei der ursprünglichen Fassung geblieben wäre, dass das „Antikriegspamphlet in ganz Europa Anklang fand“). Auch kam es bisweilen zu Streichungen: Die Bemerkung, Mühlberger habe sich die Position eines „Autors von regionaler Bedeutung“ erarbeitet, findet sich in der neuen Version nicht mehr.

 

Mit der Frequenz der Veränderungen erhöht sich auch die Frequenz der hinzugefügten Abschnitte. In den Kapiteln zur älteren Literatur bis zur Wende zum 20. Jahrhundert finden sich hier zusätzlich ein Porträt des mährischen Prosaisten Max Grünfeld, bei Leppin ein prägnantes Zitat aus seinem Werk in der tschechischen Übersetzung von Miloš Kučera, Karl Kraus wird einer kritischen Betrachtung durch Willy Haas unterzogen, zitiert nach der tschechischen Ausgabe von Mühlbergers Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900–1939 (Dějiny německé literatury v Čechách 1900–1939). Bei Franz Kafka sind mehr als drei Seiten hinzugekommen, in welchen die Forschungsergebnisse tschechischer Wissenschaftler und die nach 1989 besorgten Übersetzungen von Arbeiten ausländischer Fachleute zusammengefasst werden. In den zusätzlichen Passagen über Urzidil profitiert Kosatík von der tschechischen Ausgabe des Buchs Goethe in Böhmen (Goethe a Čechy), ebenso verhält es sich mit neuen Übersetzungen von Werken Hermann Ungars oder Josef Mühlbergers. Lobenswert ist, dass der Autor in der neuen Ausgabe an die Person und das Werk des Solitärs Georg Mannheimer erinnert, dessen Leistungen als Übersetzer schon Ladislav Nezdařil hervorgehoben hat (Česká poezie v německých překladech, 1985, [Tschechische Poesie in deutschen Übersetzungen]) sowie die Hinzufügung kurzer Porträts von Gustav Leutelt, Roman K. Scholz und Melchior Vischer. Die Porträts und Einordnungen der Arbeiten der Germanobohemisten Eduard Goldstücker, Kurt Krolop und Peter Demetz gehen über den ursprünglichen, vom Titel des Buches aufgespannten Rahmen hinaus (und vielen Dank dafür!), ebenso die Vorstellung der Tätigkeiten von Institutionen, die an die deutschsprachige Literatur aus den Ländern Tschechiens erinnern (Franz-Kafka-Gesellschaft, Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren, Goethe-Institut, Österreichisches Kulturforum), eine Aufzählung der daran interessierten tschechischen germanistischen Arbeitsstellen sowie der Verlage, die sich dieser Literatur widmen (z. B. Barrister & Principal, Albis International, Albert Boskovice, Vitalis), zudem wird für das digitale Zeitalter die Homepage Kohoutí kříž angeführt und kontextualisiert.

 

Ein Eingreifen in einen bestehenden Text bringt jedoch auch Risiken mit sich, deren größtes die Wiederholung von Informationen darstellt. So zu beobachten in den Passagen über Marie Ebner-Eschenbach, über deren Ehrendoktortitel der Wiener Universität man nun sowohl auf S. 56 als auch auf S. 60 informiert wird, ebenso wiederholt sich auf den S. 259 und 260 die Information über die Nachkriegsschicksale von Kisch, Fürnberg und Weiskopf. Auf engem Raum wird diese Unsitte z. B. in der Formulierung „Vítězná Čína, tschechisch 1950, ins Tschechische übersetzt im Jahr 1950“ („Vítězná Čína, česky 1950, přeložené v roce 1950 do češtiny“) offenkundig. Überraschend ist die neue und fehlerhafte Übersetzung des Titels der Anthologie Prager Frühling im Zeugnis der Dichter („Pražské jaro ve svědectví básníka“), obwohl in der 1. Ausgabe richtigerweise der Plural verwendet wurde („básníků“), oder die Verwendung der vorläufigen Arbeitsübersetzung „České vesnice“ für Serkes Buch Böhmische Dörfer, obwohl die tschechische Fassung aus dem Jahr 2001 im Anmerkungsapparat ganz korrekt angeführt wird. Werden Zitate neu eingefügt, kann dies bei Unachtsamkeit zu einem Durcheinander in der Reihenfolge und damit in den Informationen führen, wie es im Kapitel über Musil auf den S. 121–123 geschehen ist. Diese Versäumnisse gehen jedoch eher auf das Konto der redaktionellen Bearbeitung als zulasten des Autors.

 

Einer meiner Einwände richtet sich jedoch auch an Pavel Kosatík: Mehrmals verwechselt er den Autor mit einer literarischen Figur oder dem Erzähler und gibt dem Leser damit ein verzerrtes Bild des behandelten Werks, ja sogar irreführende Informationen: In Stifters Buch Die Mappe meines Urgrossvaters ist es nicht der Autor, sondern der Erzähler, der sich mit den Notizen seines Urgroßvaters, eines Arztes, beschäftigt (unter Stifters Vorwahren gab es keine Ärzte); der Sohn, der im Mai 1945 in Böhmen zu Tode gequält wurde, war nicht Mühlbergers Sohn (Mühlberger war kinderlos), sondern der seiner literarischen Figur aus der Erzählung Der Galgen im Weinberg; gleichermaßen erinnert sich Weiskopf im Roman Das Slawenlied nicht selbst (es ist keine Autobiographie), sondern der Erzähler in der ersten Person.

 

Trotz dieser Vorbehalte halte ich das „Kleinere Büchlein über deutsche Schriftsteller aus Böhmen und Mähren“ für ein gutes Buch, so notwendig wie aktuell, und zwar aus mehreren Gründen: Zuerst stellt der Autor durch seine Fähigkeit, die wesentlichen Autoren und ihre Werke zu erfassen und in den Gesamtkontext und den zeitlichen Zusammenhang einzuordnen, ein Raster bereit, das für den weniger belesenen, aber informationshungrigen Leser ein erstes Werkzeug zur Orientierung im unwegsamen Gelände der deutschsprachigen Literatur in den Ländern Tschechiens sein kann. Weiter: Es ist zugänglich geschrieben und auf Tschechisch, was die Möglichkeit bietet, einen größeren Leserkreis anzusprechen, denn bekanntermaßen sinken die Kenntnisse der zweiten Landessprache in der Tschechischen Republik, während das Interesse für die Kultur (im breitesten Sinne des Wortes) der ehemaligen deutschen Ethnie im Gegenteil Stück für Stück ansteigt. Und schließlich dokumentiert es hierdurch auch, was aus dieser Literatur bis zum Jahr 2016 ins Tschechische übersetzt wurde, und es erfasst teilweise auch die Ergebnisse der Arbeiten tschechischer Germanobohemisten. Der Autor ist hier auf ihre Erzeugnisse in tschechischer Sprache angewiesen. Es ist schade, dass die tschechischen Germanobohemisten, der Beschaffenheit ihrer Arbeit geschuldet und durch die Zusammenarbeit mit ausländischen Kollegen, vor allem auf Publikationen auf Deutsch, manchmal auf Englisch, angewiesen sind. Wäre es Kosatík möglich, die Ergebnisse ihrer Arbeit in das „Kleinere Büchlein“ mit einzubeziehen, würde sich zeigen, was auf diesem Feld in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts bereits geleistet wurde, und das Bild der hier einheimischen deutschsprachigen Literatur würde noch plastischer.

 

Pavel Kosatík ist vor allem als Autor von Biografien bekannt, die er in einen breiteren geschichtspolitischen und gesellschaftlichen Kontext einbindet. Für ein Buch über ein ganzes literarisches Gebiet (in thematischem und geografischem Sinne) musste er einen besonderen Grund haben. Dieser erwächst aus der Erkenntnis, dass die tschechische Gesellschaft trotz ihres steigenden Interesses in ihrer Gesamtheit – sei es bewusst oder unbewusst – die Existenz der einheimischen deutsch geschriebenen Literatur (beziehungsweise Kultur) nicht zu schätzen weiß. Kosatík empfindet dies als eine Schuld, die „beglichen werden muss“, und beobachtet hier während fünfzehn Jahren keinen großen Wandel (das Vorwort zur 2. Ausgabe ist wortwörtlich aus der 1. Ausgabe übernommen), obwohl aus der Erweiterung des Textes und der Bereicherung der Literaturliste um weitere Titel deutlich wird, dass in der Tschechischen Republik auf diesem Gebiet in den 10er Jahren des 21. Jahrhunderts auch etwas geschehen ist und er nicht der einzige ist, der diese Schuld begleicht. Übrigens betrifft dies nicht nur die Literatur: Erinnern wir uns an das Projekt „Junge Löwen im Käfig“ (Mladí lvi v kleci) von Anna und Ivo Habán, in welchem die deutschsprachige Szene der bildenden Kunst in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit erkundet wird, das einzigartige Werk „Bis zum bitteren Ende. Das Prager deutsche Theater 1845–1945“ (Až k hořkému konci. Pražské německé divadlo 1845–1945) von Jitka Ludvová, oder die schon in den nuller Jahren erschienene Publikation „Die verschwundenen Sudeten“ (Zmizelé Sudety), initiiert durch den Verein Antikomplex sowie die Bücher des Kulturwissenschaftlers Petr Mikšíček, „Neuentdecktes Erzgebirge“ (Znovuobjevené Krušnohoří) und „Sudetenwanderung oder der Waldgang“ (Sudetská pouť aneb Waldgang) und die des ähnlich arbeitenden Zdeněk Procházka mit seinem Projekt „Rundwanderung auf den Spuren der verschwundenen Dörfer in Westböhmen“ (Putování po zaniklých místech v západních Čechách). Die Liste ließe sich sicherlich fortführen, zahlreiche lokale Initiativen haben gar kein Interesse an großer Bekanntheit, ihnen geht es vor allem um die Sache – etwa Jungbauers heimatkundlicher Verein Šumava (Böhmerwald), die Produktionen des kleinen Verlags Srdce Vltavy in Horní Planá oder die Firma Kitl in Jablonec, die im vergangenen Jahr auf den aus den Jizerské hory, dem Isergebirge stammenden Gustav Leutelt aufmerksam machte, und zwar durch eine tschechische Ausgabe seines Buchs Doktor Kittel. Diese oberflächliche Aufzählung macht Hoffnung für die Zukunft und legt nahe, dass wir uns in weiteren zehn Jahren vielleicht auf eine neue und wiederum erweiterte Ausgabe des „Kleineren Büchleins“ freuen dürfen.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Pavel Kosatík: Menší knížka o německých spisovatelích z Čech a Moravy. Praha: Euromedia Group, a. s. / Knižní klub, 2017, 288 S.


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