Es schreibt: David Sogel

(E*forum, 12. 2. 2020)

Zehn Jahre nach Gründung der „Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe“ (SKÖTH, in Tschechien SKČRH) erschien in Jahr 2019 eine Publikation – zunächst auf Deutsch, Anfang des Jahres 2020 dann auf Tschechisch –, die auf der Zusammenarbeit von insgesamt einundzwanzig Historikerinnen und Historikern aus Österreich und der Tschechischen Republik basiert. Das Buch trägt den Titel Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch und wurde in Österreich im Wiener Verlag Bibliothek der Provinz (auf Tschechisch Sousedé. Česko-rakouské dějiny, NLN) unter der Leitung der HerausgeberInnen Niklas Perzi, Hildegard Schmoller, Ota Konrád und Václav Šmidrkal publiziert. Auf mehr als vierhundert Seiten erkundet das Buch verschiedene Stränge der tschechischen und österreichischen Geschichte vornehmlich des 19. und 20. Jahrhunderts. Ziel der AutorInnen war es, die politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in einer chronologischen und vor allem kontrastiven Perspektive zu beleuchten. Das Werk ist vor allem für ein Fachpublikum bestimmt, aber auch Laien wie etwa LehrerInnen, StudentInnen und Geschichtsinteressierte werden den kenntnisreichen Einblick in die komplizierten historischen österreichisch-tschechischen Beziehungen unbedingt zu schätzen wissen. Parallel zum Buch wurden für didaktische Zwecke ergänzende Materialien für den Schulunterricht veröffentlicht (S. 16). Anders als bei anderen wissenschaftlichen Publikationen entschieden sich die AutorInnen dafür, vom übermäßigen Gebrauch von Fußnoten zugunsten der Aufrechterhaltung des Leseflusses abzusehen. Ebenso fehlt ein Anhang mit einem Überblick über die verwendeten primären und sekundären Quellen. Dieser Umstand könnte insbesondere von PädagogInnen und StudentInnen, die sich mit den beschriebenen Themen näher beschäftigen wollen, als negativ empfunden werden. Durch das Ortsregister wird die Orientierung in diesem umfangreichen Werk nicht sehr erleichtert, es mag jedoch für an Regionalgeschichte Interessierte nützlich sein. Ich persönlich würde auch mit Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der in den Texten enthaltenen Themen ein Sachregister bevorzugen.

 

Das Buch besteht aus dreizehn eigenständigen Einheiten, die von tschechischen und österreichischen AutorInnen gemeinsam verfasst wurden. Diese nicht nummerierten Kapitel sind thematisch und chronologisch geordnet und knüpfen im Großen und Ganzen an die Begriffe Nation und Staat an, wie sie in der Einleitung definiert werden (S. 11–13). Die AutorInnen sind sich laut eigener Darstellung der Problematik der Verwendung dieser Begriffe bewusst, die mit Blick auf die Staatsgebilde des 20. Jahrhunderts unterschiedlich verstanden werden und unterschiedliche Konnotationen haben können und gehen deshalb bei den Vergleichen von einer territorialen Auffassung von Staat und Nation aus (S. 12). Den Begriff Nation verstehen sie nicht als eine stabile Kategorie, denn vor 1918 gab es so etwas wie eine österreichische Nation noch nicht, im tschechischen Kontext wiederum handelt es sich um eine rein mit Sprache und historischem Gebiet verbundene Kategorie. Mit Verweis auf diesen Umstand wird in diesem Werk die Geschichte der heutigen Slowakei, Ungarn u. a. nicht herausgearbeitet, obwohl sie für eine gewisse Zeit zu einem der Staatsgebilde gehörten (S. 12).

 

Schon beim flüchtigen Durchblättern fällt die große Menge an Bildmaterial auf, das sowohl, was die grafische Verarbeitung, als auch die historische Relevanz und Gesamtkonzeption betrifft, im Vergleich mit ähnlichen Publikationen dieses Genres außergewöhnlich ist. Die AutorInnen präsentieren so nicht nur die wichtigsten Personen und Orte, sondern fangen vor allem das Erscheinungsbild des beschriebenen geschichtlichen Zeitraums ein. Zu den beigefügten Bildern gehören auch zeitgenössische Karten in Form von kleineren fotografischen Reproduktionen. Auf der einen Seite ist dies sicherlich nützlich als eine der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Primärquelle, auf der anderen Seite sind gerade die publizierten Karten ein Minuspunkt im Bildmaterial. Die Legenden sind auf diesen Karten schwer zu lesen oder tauchen überhaupt nicht auf (S. 48, 88, 91, 124 u. a.). Der Erörterung selbst wären im Gegenteil übersichtlich gestaltete zeitgenössische historische Karten zuträglich, die einen Einblick in die gegebene Problematik geben würden. Sie könnten die Orientierung erleichtern, sowohl in Bezug auf die Orte, als auch auf Ereignisse, die Städte, Infrastrukturen, Wirtschaft, Migration, unklare Grenzen, Flächenentwicklungen oder die Zusammensetzung der Bevölkerung betreffen.

 

Die einzelnen Kapitel sind klar konzeptuell gestaltet. Nach einer begleitenden, grafisch gestalteten Seite enthalten sie eine allgemeine Einführung, die oftmals in komparativer Perspektive die Mentalitätsentwicklung der Bevölkerung fokussiert (so beschäftigen sich etwa R. Kučera und R. Hufschmied auf Seite 67 mit der Loyalitätskrise gegenüber der Monarchie während des Ersten Weltkriegs). Nach diesem Einblick folgt entweder direkt die Einleitung (S. 167–169) oder schon ein konkretes Unterkapitel ohne vorhergehende allgemeine Einführung (z. B. S. 266). Die meisten Kapitel schließen mit einem Resümee ab. Eine Ausnahme bilden die Abschnitte zur Kulturgeschichte (z. B. S. 355–379), bei welchen eine Zusammenfassung sehr kompliziert und vereinfachend wäre, ähnlich ist es bei den Kapiteln zum Leben an der Grenze (Leben an der Grenze – Leben mit der Grenze I., II.) von N. Perzi, D. Kovařík und S. Kreissler. Die Autoren sind bei diesen Abschnitten (S. 123–135, S. 327–353) innovativ vorgegangen. Um die Kontinuität der Entwicklung in diesem Bereich darzustellen und hervorzuheben, gaben sie den Kapiteln die gleichen Titel und unterschieden sie nur in der Nummerierung, zudem verfassten sie für sie keine Einleitungen oder Resümees. Der Leser wird so besser in die Problematik einbezogen und erhält einen Raum für eigene Interpretationen.

 

Neben dem Erzählfluss des Haupttextes, der historischen Etappen folgt (z. B. die Weltkriege, die sogenannte Normalisierung, der Kalte Krieg), enthält das Buch eine beträchtliche Anzahl an grafisch abgesetzten Texten zu verschiedenen Einzelaspekten. Diese eingefügten Schlagwörter mit Erläuterungstexten erweitern nicht nur die zentrale narrative Linie, sondern beschreiben auch regional spezifische Themen, etwa biografische Skizzen der Herrscher (S. 26, 27, 31), Annäherungen an einzelne Ereignisse (S. 108), Angelegenheiten der österreichisch-tschechischen Beziehungen (S. 117–118), weniger bekannte Persönlichkeiten (S. 176) oder Skizzen zu Kultur (S. 147), Raum (S. 105) und bedeutenden historischen Rechtsdokumenten (S. 230-231). Gerade diese vom Umfang her sehr unterschiedlichen Einheiten haben einen großen Anteil an der Qualität des Buches. Das Einzige, was ihnen meiner Ansicht nach fehlt, ist eine ergänzende Sekundärliteratur, die nur in Ausnahmefällen unter den Texten angeführt ist (S. 80). Als Beispiel kann ich einen von H. Haas und S. Kříženecká geschriebenen Text mit dem Titel Libussa anführen, der zum Abschnitt Mit vereinten Künsten gehört und kurz und prägnant die mythische Figur der Libussa (Libuše) in beiden Kulturen am Beispiel des Werkes von Franz Grillparzer darstellt (S. 153). Nicht nur fehlen in diesem Artikel eher kürzeren Umfangs Angaben zu Sekundärliteratur, etwa das Buch Německá píseň o české Libuši (Ein deutsches Lied von der tschechischen Libussa) von Ladislav Futtera (Příbram, Scholares, 2015), sondern auch ein wörtliches Zitat im Text verbleibt ohne Beleg.

 

Die Sekundärliteratur steht in diesem Buch allgemein eher im Hintergrund. Jedes Kapitel schließt mit einer Liste von weiterführender Literatur, jedoch ist gerade diese „weitere“ Literatur im Vergleich zum thematischen Reichtum des Buches vielerorts eher schmal, gerade, wenn man bedenkt, dass die AutorInnen tschechische, österreichische und andere, vor allem englischsprachige, Publikationen unterbringen wollten. Die zitierten Arbeiten sind oftmals von zu allgemeinem Charakter. Die Liste an Sekundärliteratur in den Einleitungskapiteln halte ich für zu knapp und nicht ausreichend (z. B. S. 33).

 

Inhaltlich ist die Publikation wirklich eindrucksvoll. In fast allen Kapiteln gelang es, auf relativ kleinem Raum die Mentalitäts-, Kultur-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Politikgeschichte sowie oftmals auch die Geschichte des Raums und der Urbanität, der Migration, des Antisemitismus u. a. zu umreißen. Die Vergleiche sind sorgfältig ausgearbeitet, die AutorInnen versuchen insbesondere weniger bekannte Konsequenzen und Grenzfälle aufzuzeigen, die äußeren Aspekte der tschechisch-österreichischen historischen Berührungs- und Konfliktpunkte sind klar umrissen. Zur Beschreibung von Kontinuitäten schlagen die AutorInnen mitunter den Bogen bis in die Gegenwart. Als Beispiel sei die Karikatur der HauptteilnehmerInnen an den ersten direkten tschechischen Präsidentschaftswahlen angeführt (S. 374) sowie die Diskussionen über Österreich als angeblich erstes Opfer von Hitler (S. 310–312). An diesen und an vielen anderen Stellen treten die AutorInnen sachlich, aktuell und ohne Pathos oder politische Überfrachtung an die Problematik heran. Die aktuellen Schilderungen enthalten auch Verweise auf Filme, die dem Leser zu einem umfassenden Verständnis des Sachverhaltes verhelfen sollen. Zum Schluss möchte ich noch hervorheben, dass die AutorInnen auf die Zweisprachigkeit geachtet haben, die sicherlich die österreichisch-tschechische, beziehungsweise deutsch-tschechische geschichtliche Verbundenheit unterstreichen soll. Diese erreichten die AutorInnen dadurch, dass alle tschechischen Ortsnamen zunächst auf Deutsch und daneben auch auf Tschechisch zu lesen sind. So wurde das Ziel, die historische sprachliche Verbundenheit aufzuzeigen, auf konsequente und gelungene Art verfolgt.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Niklas Perzi / Hildegard Schmoller / Ota Konrád / Václav Šmidrkal (Hg.): Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch. Wien: Verlag Bibliothek der Provinz, 2019, 416 S.


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