Es schreibt: Václav Petrbok

(29. 1. 2020)

Václav Velčovský, „Stellvertreter für die Leitung der Abteilung der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds und der EU am Schulministerium“ und Externist an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität und der Universität in Hradec Králové, hat in seinem Buch Jazyk jako fetiš. Texty o Češích a českých Němcích 1880–1948 [Die Sprache als Fetisch. Texte über die Tschechen und die böhmischen Deutschen 1880–1948] (hgg. von der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität) einen Ausschnitt aus der Geschichte der sprachlichen Selbstreflexion der tschechischen Tschechen in ihrem Verhältnis zu den „Deutschen“ herausgegeben und kommentiert.

 

Gleich am Anfang der Publikation führt uns Velčovský in media res durch die Überlegungen über das „Kaleidoskop“ der Geschichte ein. Bereits in diesen Bemerkungen finden wir eine ganze Reihe von Termini, die auf eine sehr autoritative, nicht besonders vertrauenerweckende Art und Weise definiert werden (z. B. geht es um die zwar deklarierte, jedoch inkonsequente Differenzierung zwischen den Begriffen „Tschechen“ versus „Böhmen“ oder über die Gleichsetzung des Begriffs „der Deutsche“ mit allen deutschsprachigen Sprechern – also auch den Österreichern oder den deutschen Einwohnern der Böhmischen Länder, der sog. Deutschböhmen). Das Misstrauen wird weiterhin durch die anscheinend effektiven, unerfreulicherweise aber dilettierenden Exhibitionen verstärkt. Sei es im Bereich der Psychologie („[die Sprache] halten wir […] für einen Fetisch, und zwar in der marxistisch-freudianischen Auffassung des Fetischismus“ [sic!]), der Philosophie (z. B. die Abwendung Herders „vom Individualismus, statt welchem er den sog. Volksgeist definierte – eine gesellschaftliche Kraft, die durch die Verwandtschaft, die Tradition, das patriotische Bewusstsein, durch die Kultur u. a. gebildet wird“) oder im Bereich des Sprachrechtes („die Verwaltung war im 19. Jahrhundert tschechisch nur in der äußerlichen Administration, ähnlich wie (vereinfachend gesagt) die deutsche Sprache in der Tschechoslowakei“). Nach vielen weiteren überraschenden Überlegungen über den Fetischismus in der Sprache/Politik (ohne die relevante Fachliteratur, z. B. Georg Mosse oder das für das tschechische Milieu unerlässliche Werk von Bedřich Loewenstein zu zitieren) haben wir die Möglichkeit, uns mit dem Autor davon zu überzeugen, dass „die Tschechen und die böhmischen Deutschen getrennt lebten, mit eigenen Institutionen und sowohl öffentlichem als auch privatem Leben. Personen, die auf die Vermittlung des gegenseitigen Kennenlernens (im Rahmen des sog. kulturellen Transfers) hinzielten, gab es sehr wenige“, worauf ein leider völlig unverwerteter Verweis auf die Arbeit von Ines Koeltzsch folgt.

 

Nach einer nicht geringen intellektuellen Anspannung über die Komplexität des Themas, worin sich jedoch der Autor mit einer nachlässig informellen, aber umso wirksameren und temperamentvollen Geschwindigkeit bewegt, gelangen wir endlich zu der kommentierten Anthologie von 85 Texten, deren Auswahl im Titel chronologisch auf die Jahre 1880–1948 begrenzt ist. In Wirklichkeit fängt die Übersicht (wer weiß warum) schon mit der Dezemberverfassung von 1867 an. Mit Überraschung erfahren wir, dass der Editor keine „bereits herausgegebenen Quellen“ abdruckt (und in dem imposanten Quellenverzeichnis in der Anmerkung 19 finden wir tatsächlich keine bereits „veröffentlichte Quelle“?), bzw. schließt es keine Quellen ein, die sich auf „den Ausnahmezustand des Jahres 1897, die Stellung der Juden, auf die Pragensia [sic!], auf die deutsch-tschechischen Theater- und Kulturkonflikte, auf den Prager linguistischen Kreis, auf den sog. Insignienstreit, auf den tschechischen Faschismus oder auf die Reflexion des Münchener Abkommens“ beziehen. Einerlei, dass er auch in diesem Fall inkonsequent vorgeht: warum sind dann z. B. die Ausschnitte aus Eisner, „dem völlig bilingualen Prager Juden“, oder die Erinnerung von E. E. Kisch aus dem November 1897 einbegriffen? Bedeutet das, dass für diese Art von Quellen seine Thesen nicht relevant sind? Die Erklärung von Velčovský, dass diese Quellen „die sprachliche Problematik nur indirekt oder für einen nur begrenzten Umkreis von Empfängern thematisierten [?]“, ist einfach nicht zu verteidigen. Gerade diese mögliche Indirektheit kann als eine symbolische „Umkodierung“ der Rolle der Sprache als eines Strebens nach der Macht ausgelegt werden. Die Nicht-Auslassung der „Juden“, sei es nun derer, die sich als tschechische oder deutsche Assimilaten profilierten oder jener, die sich gerade in Prag mit dem (kulturellen, politischen, nationalen) Zionismus identifizierten, hätte die kühnen Erwägungen des Autors erheblich kompliziert. Viele der Anmerkungen, die im Übrigen auf eine sehr inkonsequente Art und Weise angeführt werden, sind ebenfalls unzulänglich.

 

Laut Velčovský bedeutete „der Sieg der einen Seite [im Verhältnis zwischen dem tschechischen und deutschen ‚Ethnikum‘] automatisch die Niederlage der anderen und die Lösungen wurden bis auf Ausnahmen mit Kraft durchgesetzt, ohne konstruktiven Dialog und ohne die Bemühung seitens der meisten politischen Repräsentanten, einen gegenseitig akzeptablen Konsensus zu erreichen. Dieser konnte nämlich in dem hergestellten nationalen und sprachlichen Paradigma, das den Tschechen und den böhmischen Deutschen seit dem 18. Jahrhundert anhaftete, wegen des Charakters der Sache an sich [!], nicht gefunden werden“. An anderer Stelle behauptet der Autor, dass „wir nicht solche Texte auswählen wollten, die die schwarz-weißen (oder eher weiß-schwarzen) tschechisch-deutschen Stereotypen unterstützten, sondern das Ziel war es, diese Wahrnehmung gerade durch unterschiedliche repräsentative und autoritative Auffassungen der Sprachfrage zu stören“. Es ist demzufolge zu bedauern, dass der Autor – trotz des in der Bibliographie angeführten und bis heute fundamentalen Buches von Jan Křen Konfliktgesellschaft, Tschechen und Deutsche 17801918 (tschechisch 1990, deutsch 1996) – eine ganze Reihe von Quellen aus der kritischen Zeit 1897-1918 ignorierte (mit der Ausnahme von den Erinnerungen von Albín Bráf und des Artikels in der Deutschen Böhmerwaldzeitung), die seine drastischen Urteile über die Suche nach einer „Kraftlösung ohne eines konstruktiven Dialogs“ in vieler Hinsicht gemildert hätten. Seien es die bereits veröffentlichten Quellen zu den tschechisch-deutschen Verhandlungen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, zum mährischen Ausgleich, oder zum alternativen Lösungsvorschlag der Nationalfrage (und der Sprachfrage) seitens der Sozialdemokraten oder der Realistischen Partei. Diese Komplikationen wurden bereits oben erwähnt.

 

Velčovskýs Beschreibung der fast fatalen, unabwendbaren Entwicklung der Ereignisse, fügt leider der „Problematik der vorherrschenden Auffassung des tschechisch-deutschen Zusammenlebens […] hinsichtlich der Überlegungen über die zeitgenössische Pluralität der Welt (der Welt der simplen Wahrheiten und Multiwirklichkeit)“ nichts hinzu. „Die politische Entwicklung Mitteleuropas bot letztendlich keinen geeigneten Raum und keine Gelegenheit dazu, dass überhaupt irgendeine Alternative zu der ‚Heiligen Dreifaltigkeit‘ [Sprache, Nation, Staat] entstehen hätte können. Nicht als ein Versuch mit einer Chance auf Erfolg, nichts, was zur Wirklichkeit werden konnte.“ Die Beschreibung kann jedoch als ein Beleg eines bestimmten Typus‘ der „historiographischen Paradigmen“ dienen. Die Anthologie sollte nämlich außer der Auslegung der tschechischen (Auto-)Stereotypen – wie Marek Fapšo unlängst treffend in der Rezension des Buches von E. Hahnová schrieb – auch auf „die Stereotypisierung an sich hinweisen, die in sich selbst ebenso die Rezeption und die (Auto-)Stereotypen der ,anderen Seite‘ beinhaltet“. Mit dieser konsequent dialogischen und historisch kontextualisierten Stellungnahme, die auch Überlegungen über die „Sprachfrage“ sowohl in den böhmischen Ländern als auch bei den „Reichsdeutschen“, den „österreichischen“ Deutschen und in der slawischen Welt, besonders in Russland, bzw. in der Sowjetunion, beinhaltet, hätte sich Velčovskýs These deutlich verkompliziert. Seien wir jedoch gerecht. Auch der Autor weiß vom „Dissens in den Ansichten, die vorschlugen, die Überwindung der Sprachidentifizierung bei der Interpretation der Nationalfrage Mitteleuropas durch die Betonung der Bürgergesellschaft zu überwinden“. Ausgewählte Dissidenten – jedoch gehörig bearbeitet! – hat der Autor letztendlich doch angeführt (H. G. Schauer, E. Rádl, T. G. Masaryk, E. Flusser, die Erinnerungen von W. Jaksch). Damit ist für ihn die Sache erledigt. Dieser formalistische Zugang ist viel einfacher, als wenn der Autor auch die alltägliche Praxis verfolgt hätte, und nicht nur das diskursive Formen des beschworenen Fetischs. Was hilft es, dass dieser Alibisatz über den Dissens „verdrängend“ (wenn wir den Diskurs des Autors annehmen) ist, im Übrigen auch deswegen, weil es ihm die Verantwortung für die strittigen und generalisierenden Behauptungen abnimmt, und beweist, dass er einfach nur das las, was seine vorgefassten Urteile belegen sollte. Was uns jedoch wirklich überrascht, ist die Tatsache, dass wir unter den Fachrezensenten seiner Publikation zwei prominente Forscher auf dem Gebiet des deutsch-tschechischen Sprach- und Kulturaustausches finden. Warum ist dem so? Ich werde mich, denke ich, nicht irren, wenn ich es für ein ebenfalls nicht überraschendes Mittel der Strategie bezeichne, wie man soziales oder sogar symbolisches Kapital gewinnt und verstärkt. Und dieser Prozess kann der Idolatrie ziemlich nahe kommen.

 

Übersetzung: Silvie Jašková

 

 

Václav Velčovský (ed.): Jazyk jako fetiš. Texty o Češích a českých Němcích 18801948. Praha: Filozofická fakulta UK, 2019, 384 S.


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