Es schriebt: Hynek Janoušek

(5. 12. 2019)

2017 erschien die zweite Auflage der wenig bekannten philosophischen Schrift Anschauung und Begriff von zwei deutschschreibenden Autoren der Prager Moderne, Max Brod (1884–1968) und Felix Weltsch (1884–1964). Während der Name Max Brod allgemein bekannt ist, wird Felix Weltsch üblicherweise nur im Zusammenhang mit Franz Kafka erwähnt, mit dem er befreundet war, oder aber im Kontext zu Zionismus, zu dessen Hauptvertretern er gemeinsam mit Max Brod und Hugo Bergman gehörte. Was der Antrieb für Weltsch und Brod war, die erkenntnistheoretische Arbeit niederzuschreiben, lässt sich heute nicht eindeutig bestimmen, beide kamen in ihren folgenden Texten auf diese Schrift kaum mehr zurück. Die äußere Motivation bestand wahrscheinlich in der unerfreulichen Lebenssituation von Felix Weltsch, der sich eine neue Karriereperspektive von dem Buch erhoffte (vgl. Carsten Schmidt: Kafkas fast unbekannter Freund: das Leben und Werk von Felix Weltsch (18841964), Würzburg: Königshausen u. Neumann, 2010, S. 116). Brod erwähnt die Schrift in seinen Erinnerungen eher am Rande und äußert sich über ihren Inhalt nicht näher. Die neue Auflage ermöglicht es uns also, uns mit diesem Buch detaillierter bekannt zu machen. Im Folgenden soll sein Inhalt sowie sein Kontext kurz dargestellt werden.

 

Brod, Kafka und Weltsch interessierten sich bekanntlich für Philosophie. Der Prager Akzent in ihrem Interesse lag in der Philosophie von Franz Brentano und dessen Schülern. Neben ihrer institutionellen Verankerung – die Nachfolger Brentanos, Anton Marty und Christian Ehrenfels, wirkten als Professoren an der Karl-Ferdinands-Universität – erfuhr diese auch bei regelmäßigen Treffen der Brentano-Anhänger im Prager Café Louvre ihren Ausdruck. Einen gewissen Gegenpol stellten philosophische Diskussionen im Salon von Berta Fanta dar, in dem Werke von Kant und Hegel gelesen und die Ideen Rudolf Steiners begeistert besprochen wurden. Die letztgenannten Autoren wurden von den strenggläubigen Brentano-Anhängern (d. h. A. Marty, O. Kraus, J. Eisenmeier, E. Arleth) für obsolet oder sogar dekadent gehalten. Für Brod, Kafka und Weltsch war jedoch bezeichnend, dass sie anfangs in beiden dermaßen unterschiedlichen Milieus verkehrten. Seit 1905, als es zu einem dramatischen Konflikt zwischen Brod und den Kreismitgliedern im Louvre kam, nahmen sie an den Zusammentreffen der „orthodoxen“ Brentanianer nicht mehr teil. Mit Brentanos Gedanken blieben sie allerdings in unmittelbarem Kontakt. Brod und Weltsch konsultierten ihre Thesen mit Ehrenfels, mit dem sie befreundet waren und der sein Buch Anschauung und Begriff im Seminar zur Diskussion vorgelegt hat (vgl. Max Brod: Streitbares Leben (18841968), München / Berlin / Wien: F.A. Herbig, S. 164). In der Schrift lässt sich auch der Einfluss der Gestaltpsychologie verfolgen, die Ehrenfels‘ Begriff der Gestaltqualitäten übernahm und ihn selbstständig in der Theorie der Sinneswahrnehmung weiter ausarbeitete. Auch diese fand in Prag ihre Vertretung. Brod und Weltsch berieten sich diesbezüglich mit dem Hauptvertreter dieser Theorie, dem Prager und Ehrenfels-Schüler Max Wertheimer, der gelegentlich in Prag erschien (Max Brod: Streitbares Leben (18841968), S. 96-97).

 

Wenn wir die technischen Diskussionen im Buch überschauen, erscheint das Bild der Prager philosophischen deutschsprachigen Kultur am Anfang des 20. Jahrhunderts vor unseren Augen. Der eigentliche theoretische Ansatz ist eine unspekulative deskriptive Psychologie Brentanoscher Art, die beide Autoren im Laufe ihrer Universitätsstudien von Marty und Ehrenfels aufgenommen hatten. Diese wird dazu genutzt, zwei gegensätzliche philosophische Systeme aufeinander zu beziehen, die von radikalen Brentanianern abgelehnt wurden, für die Brod und Weltsch sich allerdings intensiv interessierten, nämlich den Intuitionismus der Lebensphilosophie (den wirklichen Kontakt mit dem Seienden vermittelt laut dieser Philosophie nur die unmittelbare, nicht rationalisierte Intuition der erscheinenden Wirklichkeit), und der neukantianische Rationalismus (die wirkliche Erkenntnis betreffe laut ihm nur begrifflich gehandhabte und durch Urteile systematisierte Erscheinungen). Während der erstgenannte Ansatz die begriffliche Erkenntnis für verzerrende Konstruktionen hält, die man an die Gegenstände aus dem praktischen Orientierungsbedürfnis heranträgt, sieht der zweite Ansatz in dem vorbegrifflichen, sinnlichen Aspekt der Anschauung bloß blindes Material, das darauf warte, Bedeutung zu erfahren. Mithilfe der erwähnten Überbrückung versuchen Brod und Weltsch, zwischen Bergson und Cassirer zu vermitteln.

 

Sowohl Intuitionisten als auch Rationalisten ignorierten laut Brod und Weltsch wichtige Einsichten bezüglich des Grundwesens unseres Sinnes- und Gedankenlebens. Die Prinzipien spontaner Formierung der Wahrnehmung und deren Umgestaltung in „ausgelegte“ Einheiten sind die Wahrnehmung betreffend nicht äußerlich, wie die Intuitionisten vermuteten, sondern bilden ihr Fundament, es handelt sich hierbei jedoch auch nicht um die Schemata der Rationalisten, die diskursive Begriffe zu einer gesetzmäßigen Verbindung der Phänomene in Gegenstände und Gegenstandsgebiete nutzen. Zwischen der Anschauung und dem reinen Begriff gibt es eine kontinuierliche Übergangsreihe, und das Buch setzt sich zum Ziel, diese Übergänge zu analysieren und darin eine gewisse invariante Struktur aufzuweisen. Der Brentanosche Empirismus zeigt sich hier in der Ablehnung einer aprioren geistlichen Begriffsausstattung – alle unsere Begriffe entstehen durch die geistige Ausarbeitung der ursprünglichen Anschauungsgrundlage. Hierauf sind der Titel und der Untertitel der Schrift zurückzuführen.

 

Den Autoren zufolge stehen weder eine blinde, auf die Begriffsform wartende Anschauung, noch ein Komplex namenloser, durch eine Assoziation zu verbindenden Sinnesqualitäten am Anfang des Geisteslebens, sondern ein vorbegriffliches und undifferenziertes Feld. Innerhalb dieser Ur-Ganzheit kommt es fortlaufend zu Variationen der jeweiligen Teile, wobei die Invarianten und Repetitionen desselben bestimmte Partien der Anschauung zur Bewusstwerdung bringen. Zur Hervorhebung der Identität von Teilen der Anschauung trägt die Intensität von Sinneserscheinungen sowie das (praktische) emotionale Interesse bei, das einige Sinnesfragmente hervorzurufen vermögen – das gesamte Feld ist ursprünglich emotional geladen. Die ursprüngliche Verschwommenheit des Ur-Feldes ist das Resultat der ungenügenden Differenzierungsfähigkeit unserer Sinne. Die Gesamtanschauung bildet die Materie des natürlichen tetischen Urteils, wodurch sie den Sinn äußerer Realitäten gewinnt. Jede Wahrnehmung besitzt laut Brod und Weltsch generell den Charakter vom Urteilen. Die sich ausgliedernden Teile der Gesamtanschauung motivieren folglich ihre Auffassung in Subjekt-Prädikat-Urteilen, in welchen die Gegenstandsidentität in diversen Bestimmungen gebildet wird.

 

Gegen die immerwährende Differenziation und Identifikation der Teile in der Aufmerksamkeit als ursprüngliche Tendenz der Anschauung wirkt die Tendenz zur Verschwommenheit, „Ablenkung“, Undeutlichkeit und Überlappung der Vorstellungen. Die Verschwommenheitsphänomene betreffen meistens die Vorstellungen von niedriger Intensität, kleinem Kontrast bzw. diejenigen Teile, die unsere Aufmerksamkeit nicht anziehen oder sie ermüden. Im Allgemeinen gehört zu jeder Vorstellung die Form A+x, und zwar der determinierte Anschauungskern (A) und der Aspekt einer größeren oder kleineren Überlappung und Unbestimmbarkeit (x). Ist die Vorstellung im eigenen Sinne unbestimmbar, ermöglicht sie die folgende Auslegung, d. h. urteilsanschauliche Konkretisierung des einen oder anderen Zuges. Auf der Verschwommenheitsskala hat man so auf der einen Seite gänzlich unbestimmte Vorstellungen, auf der anderen wiederum völlig klare und deutliche Vorstellungen. Die Durchdringung und Deckung partikularer Vorstellungen im Gedächtnis führt nun zur Bildung gewisser allgemeiner Gedächtnisbilder oder -vorstellungen, die wiederum die Struktur eines bestimmten Kernes aufweisen, der nun allerdings auch die Konkretisierung des Gegenstands unbestimmbar und verschwommen hinterlässt, in dem sich die Vorstellung vielfältig spezifizieren lässt. Solch eine Struktur nennen Brod und Weltsch „Anschauungsbegriff“ (Max Brod / Felix Weltsch: Anschauung und Begriff, S. 65-78).

 

Die Anschauungsbegriffe verschwimmen wiederum in Anschauungsbegriffe höherer Ordnung, deren gemeinsamer Kern A kleiner ist, folglich sind sie abstrakter. Auf diese Weise entstehen nichtwissenschaftliche, vage Begriffe der alltäglichen Handhabung. Unser gewöhnliches Denken und Urteilen spielt sich gerade in einer solchen Bildanschauung ab. Wenn die Autoren jedoch darauf beharren, dass auch Begriffe ursprünglich Anschauungsgegenstände seien, die spontan in der mütterlichen Beizbrühe der Ganzheitlichkeit geboren würden, bietet sich dann die Frage, was diesen Anschauungskern, etwa im Falle des Begriffs „Baum“, ausmacht, der viele diverse Formen vom Bonsai bis zum Mammutbaum einschließt. Laut Brod und Weltsch macht diesen Kern das Bewusstsein der „Relationen“ von Teilen aus, die bei allen Bäumen gleich sind. Die Fundamente dieser Relationen sind erneut verschwommen. Im folgenden Schritt wird also (im Einklang mit Brentano und der Gestaltpsychologie) die Theorie der Anschauungsrelationen und Gestaltqualitäten gegen den Rationalismus verteidigt. Ein bestimmter Teil der Relationen wird nicht gedacht, sondern anschaulich „wahrgenommen“. Eine Relation ist mehr als eine bloße Addition ihrer Fundamente, sie ist ein anschauliches Element, das reduziert auf seine Fundamente (etwa bei der Reduktion der Melodie auf eine Summe von Tönen) verschwinden würde.

 

Die gewonnenen Analysen werden am Schluss bei der Beschreibung des Denkens und der Bildung rein wissenschaftlicher Begriffe genutzt. Das Denken kennzeichnet sich durch die sukzessive Abstrahierung von Anschauungsbegriffen, in denen der immer anwachsende Kernteil A in den Aspekt des ignorierten, undifferenzierten Vorstellungsteiles x transponiert wird. Eine solche Vereinfachung der Anschauungsbegriffe ermöglicht es, das anstrengende Bilddenken, das wegen seiner Buntheit unsere Aufmerksamkeit ständig beschäftigt, durch die schnelle, teilweise mechanisierte Bewegung abstrakterer Begriffe zu ersetzen, bei welcher sich unsere Aufmerksamkeit auf Hauptbilder konzentrieren kann – hierzu kommt es beim Erzählen oder bei einer logischen Darstellung einer Theorie, wo sich die Aufmerksamkeit auf die Hauptzusammenhänge und auf den Gesamtsinn der Theorie konzentriert. Erst wenn der Gedankenlauf auf ein Hindernis stößt, entsteht ein Motiv zur anschaulichen Konkretisierung und Vergegenwärtigung des verschwommenen Begriffsteils. Wissenschaftliche Begriffe entstehen durch Urteilssynthese, im deren Rahmen in deduktiven und kausalen Zusammenhängen die abstraktesten, weiter unspaltbaren Begriffskerne A verbunden werden. Auch die Theorie der Evidenz notwendiger Urteile und kausaler Urteile leiten die Autoren im Einklang mit Brentano von einer ursprünglich im Bereich der Logik beheimateten Auffassung ab – z. B. von der Beziehung der Prämissen und des Urteilsschlusses, der folglich in den Bereich der Sachverhalte projiziert wird.

 

Das Buch beinhaltet viele detaillierte Analysen und Besprechungen der zeitgenössischen Fachliteratur, in deren Rahmen Brod und Weltsch ihr Vorhaben zu verwirklichen versuchen, d. h. zu zeigen, dass sowohl die Intuitionisten als auch die Rationalisten ihre Systeme auf einer allzu eingeschränkten Auffassung der Anschauung gründen. Dem Leben des Denkens stehen ursprünglich weder eine unmittelbare, von jeglicher Bearbeitung befreite Anschauung, noch abstrakte Begriffe zur Verfügung, sondern eben eine verschwommene Gesamtanschauung, in deren Rahmen eine spontane, emotional und praktisch orientierte Genese von Anschauungsbegriffen stattfindet.

 

Brods und Weltschs Beitrag zur Erkenntnistheorie erschien zu einer Zeit, als sich die Philosophie von der Psychologie bereits abwendete und einen anderen Weg anschlug – den Weg zur Phänomenologie und Sprachphilosophie –, er rief daher nicht die Aufmerksamkeit hervor, die er verdient hätte. Die neue Auflage der Schrift wurde mit allen zeitgenössischen Rezensionen sowie mit einer inhaltlichen, 1913 im Rahmen der Kant-Studien erschienenen Zusammenfassung der Autoren versehen. Die Publikation beinhaltet allerdings nicht die wohl wichtigste philosophische Reaktion, die sie angeregt hatte, und zwar die Besprechung von Brods und Weltschs Kritik der neukantianischen Begriffsauffassung von Ernst Cassirer. Diese lässt sich nun allerdings im dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen problemlos nachschlagen (Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Hamburg: Felix Meiner, 2010, S. 354–358).

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Max Brod / Felix Weltsch: Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung. Hrsg. von Claus Zittel. Berlin: de Gruyter, 2017, 265 S.


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