Es schreibt: Markus Grill

(E*forum, 6. 11. 2019)

Anton Kuhs (1890–1941) Rolle in der Literaturgeschichte beschränkte sich lange Zeit auf den Pointenlieferanten. Die zahlreichen witzigen Anekdoten über den jüdischen Publizisten und Stegreifredner wurden von Feuilletonisten wie von Literaturwissenschaftlern über Jahrzehnte hinweg weitergeschrieben. Dankbar bedienten sie das Bild des genialisch-schlampigen Kaffeehausdichters, der sich durch Cafés und Hotelbarsschnorrt und seinen Gönnern für jede Gefälligkeit ein Bonmot abwirft. Derlei Überlieferungen aus den „guten alten Tagen“ haben sich bei der literarisch interessierten Öffentlichkeitvor allem in Österreich großer Beliebtheit erfreut. An wissenschaftlich abgesicherten Informationen über Kuhs Leben schien niemand interessiert – als würde man an einer liebgewonnenen Version der Vergangenheit unter allen Umständen festhalten wollen. Die Geschichte(n) vom Wiener Kaffeehaus samt ihren nostalgischen Evokationen kritisch zu hinterfragen, bedeutet offenbar, an der österreichischen Identität selbst zu rühren.

 

Zurecht polemisiert der Anton-Kuh-Experte Walter Schübler gegen den Begriff der Wiener Kaffeehausliteratur. Als Terminus technicus der Literaturwissenschaft ist er ungeeignet, da er in seiner ausschließlich konnotativen Bedeutung – verknüpft ist er nicht zuletzt mit dem diffusen Assoziationskomplex „Wien um 1900“ – nicht präzisiert. In der Auslegung als offener Genrebegriff verweist „Wiener Kaffeehausliteratur“ zumeist auf verspielt ironische Sprachkunst zum Tag ohne seriöse, zeitkritische Substanz. Der eminent politischen und dabei sehr weitsichtigen Publizistik Kuhs wird er so keinesfalls gerecht. Mit der Herausgabe der siebenbändigen Werkausgabe (Göttingen: Wallstein Verlag, 2016) stieß Schübler die lange ausgebliebene Neuentdeckung von Kuhs Schriften an. Vor Kurzem hat er die erste Anton-Kuh-Biographie (Göttingen: Wallstein Verlag, 2018) nachgelegt, und damit ein groß angelegtes Forschungsprojekt bio-bibliographischer Grundlagensicherung erfolgreich zum Abschluss gebracht. Ohne dem Gegenstand seinen Glanz zu rauben, eruiert Schübler die Tatsachen an der widerständigen Legende des „Wiener Originals“.

 

Kuhs spärliche Lebensspurennachzuzeichnen musste ein hartes wissenschaftliches Unterfangen bedeuten. Mit seiner kalkulierten Selbstinszenierung als exzentrischer Bohemien – sei es in Texten, auf der Rednerbühne oder am Kaffeehaustisch (wo er tatsächlich häufig anzutreffen war) – bewirkte er rückblickendgerade die Verhüllung der eigenen Person. Wohl verweist das erfolgreiche Markenkonstrukt Anton Kuh auch auf dessen wirkliche Lebensumstände. In der Tat lehnte er ein ortsgebundenes und auf Besitztum ausgerichtetes Leben ab. Folglich existiert heute kein nennenswerter Nachlassmit biographisch auswertbarem Material. Zwar wartet Schübler in seinem Buch mit spannenden Funden auf (Fotografien, Zeichnungen, Schulzeugnissen, Autogrammkarten etc.). Vorrangig aber muss er sich der Person indirekt nähern, über ihr Werk und ihre Zeit. Wo handfeste Lebensdatenfehlen, wird also Kuh im Kontext seines regen Schaffens während der 1910er- bis 1940er-Jahre verortet. Derart geht „[d]ie Biographie […] über lange Strecken auf in der Bibliographie“ (S. 375), wie Schübler einräumt.

 

Beachtliche 575 Buchseiten sind aus der breit angelegten Studie hervorgegangen. Rund ein Vierteldavon macht der Apparat aus, der neben einem umfangreichen Anmerkungsteil eine Zeittafel, eine Auswahlbibliographie sowie ein Personen- und Werkregister enthält. LeserInnen mit weiterführendem Lektüreinteresse erschließt sich ein dichtes Netz personaler, intertextueller und allgemein-historischer Bezüge. An wenigen Stellen in den Anmerkungen ist die Ordnung fehlerhaft (S. 432, S. 499), was bei einem so sorgfältig realisierten editorischen Großprojekt selbstverständlich nachzusehen ist. Der Haupttext gehorcht einer Doppelstruktur. Die dreißig „thematisch“ angelegten Hauptkapitel werden durch zwanzig „chronologisch“ angelegte Nebenkapitel ergänzt. Das ist gewöhnungsbedürftig. Zumal ein suboptimales Layout des Inhaltsverzeichnisses nur begrenzt der raschen Orientierung dient. Letztlich erweist sich der Aufbau des Buches als gute Lösung, um den schwer handhabbaren Stoff zu organisieren.

 

Inhaltlich bietet diese erste Biographie naturgemäß sehr viel Neues. Bislang völlig im Dunkeln sind etwa die Kindheit und die Jugendjahre von Kuh geblieben. Dementsprechend erhellend nimmt sich das Kapitel „Eine wahre Wedekind-Tragödie“ – Wie er wurde aus. Auch die späteren Kapitel liefern eine Fülle aufschlussreicher Informationen; sowohl zu wenig oder gar nicht erforschten Lebensabschnitten (z. B. zu den journalistischen Anfängen, zur Tätigkeit als Schauspieler und Drehbuchautor oder zu den letzten Lebensjahren im New Yorker Exil) als auch zu mittlerweile besser erforschten (z. B. zur Fehde mit Intimfeind Karl Kraus oder zur prägenden Freundschaft mit Otto Gross). Das kürzeste Kapitel ist übrigens Kuhs „Prager Herkunft“ gewidmet. Es thematisiert wohl gemerkt nicht seine genealogische Verbindungslinie zur böhmischen Hauptstadt (der Großvater David Kuh wirkte als namhafter Journalist in Prag), sondern eine seiner zahlreichen publizistischen Auseinandersetzungen mit Kollegen. Insofern die Vita entlang des Schaffensweges erzählt wird, liest sie sich zugleich als Werkgeschichte. Die Chronologie verläuft von den ersten Veröffentlichungen noch als Jugendlicher im Jahr 1908, über seine Beitragstätigkeit für die renommiertesten Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum spätestens ab den Zwanzigern sowie der begleitenden Betätigung als Stegreifredner, bis zu seinem zunehmend und zuletzt ausschließlich politisch engagierten, antifaschistischen Schreiben in den Dreißigern und frühen Vierzigern.

 

Die Biographie versucht laut Schübler „die Rekonstruktion von Kuhs Hauptwerk“ (S. 9), den Stegreifreden. Damit ist eine weitere Aporie der Studie angesprochen: Schließlich ist dieses rednerische Werk „bis auf wenige Ausnahmen ein für allemal verschollen“ (S. 59). Der Germanist gibt sich mit dem ernüchternden Befund nicht ab, leistet auch hier das editorisch Bestmögliche. Anstatt die Bedeutung von Kuhs mündlichem Wort pragmatisch zu marginalisieren, betont er dessen werkgeschichtliche Sonderstellung. Die mit unverkennbarer Akribie recherchierten Daten aller nachgewiesenen Reden (Ort, Datum, Uhrzeit und Titel) sind – gleichsam als „Wegmarken“(S. 9) der Biographie – herausgehoben neben den Fließtext gesetzt. Durch vielfaches Zitieren aus Kritiken, Ankündigungen, Berichten von Zeitgenossen und sogar aus Polizeiprotokollen entsteht ein lebendiger Eindruck von Kuhs offenbar einzigartiger rhetorischer Wirkung. Das einschlägige Kapitel über den sogenannten „Sprechsteller“ ist folgerichtig eines der längsten.

 

Kuhs Lebensbild wird, wie erwähnt, vor einem breiten geschichtlichen Hintergrund entworfen. Die bisweilen aufwendigen Bezugnahmen auf die geistige und politische Situation ergeben zusammen ein sehr facettenreiches Panorama Österreichs und Deutschlands zur Zwischenkriegszeit. Seine Authentizität bezieht es aus dem vielfältigen Einsatz zeitgenössischer Dokumente. „Der sprachliche Eigenwert des Quellenmaterials vermittelt eine Ahnung von der Zeit, aus der es stammt, von der ‚akustischen Atmosphäre‘, in der Anton Kuh sich bewegte“ (S. 9), erklärt Schübler sein Gestaltungsprinzip. Zitat und Paraphrase rücken bei ihm zum zentralen biographischen Instrument auf. Der Biograph selbst tritt hinter ein ausgeklügeltes Arrangement verschiedenartigster Quellenmaterialien zurück. In der konkreten sprachlichen Umsetzung musste sich das als Schwierigkeit erweisen. Um die große Menge an Informationen maximal zu verarbeiten, reizt Schübler die typographischen Möglichkeiten durch Doppelpunkte, Anführungszeichen, Gedankenstriche und Beistriche aus. Die wissenschaftlichen LeserInnen wird der Verzicht auf strikte Selektion von Inhalten freuen. Insbesondere auf den interessierten Laien dürften einzelne Sätze überladen und überlang wirken. Im Ganzen jedenfalls überzeugt der gewagte hypotaktische Stil, gerade angesichts der Thematik. Passend angeschlagen ist auch der lockere, bisweilen saloppe und mit Witz angereicherte Ton Schüblers. Dadurch gerät die Lektüre kaum je langwierig.

 

Die Herausforderung, unter den schwierigen Bedingungen der gegebenen Überlieferungssituation eine wissenschaftlich zuverlässige und darüber hinaus unterhaltsame Lebens- und Werkgeschichte Anton Kuhs zu besorgen, wurde mit der vorliegenden Publikation meisterhaft bewältigt. Schüblers monographische Studie eines immer noch verkannten Menschen und Wortkünstlers wird ohne Zweifel in der „academia“ wie auch in der breiten LeserInnenschaft nachhaltig beeindrucken.

 

 

Walter Schübler: Anton Kuh. Biographie. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018, 572 S.


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