Es schrieb: Emil Saudek

(23. 10. 2019)

„Slaven, verlangt in allen öffentlichen Lokalen das Slavische Tagblatt!“ wurde auf den Seiten des Tagblatts gefordert, das am 7. November 1910 in Wien als Unpartaiisches Organ zur Wahrung der slavischen Interesse, zunächst unter der Redaktion des Kroaten Miho Jerinić, seit Dezember des Journalisten und Übersetzers Jaroslav Zajíček-Horský, zu erscheinen begann. Das Slavische Blatt stellte eine der vielen deutschsprachigen, auf slawische Nationen gerichteten Zeitungen in der Monarchie dar, sie war allerdings nicht von langer Dauer, sondern währte nur bis zum 13. August 1911. Neben der Berichterstattung aus dem Parlament und der politischen Publizistik brachte das Slavische Blatt auch zahlreiche literarische Texte, Feuilletons, Rezensionen und Berichte. Die tschechische Literatur war hier v. a. dank Emil Saudek (siehe E*forum, 4. 4. 2018) vertreten, der 1896–1922 in Wien wirkte und sich neben seinem zivilen Beruf als Bankbeamter der literarischen und kulturellen Vermittlung widmete, er konzentrierte sich hierbei v. a. auf zwei Dichter, Otokar Březina und J. S. Machar. (Auf den Seiten des Tagblatts findet man aber auch die Feuilletons von Jan Neruda, ohne Übersetzerangabe, eine Erzählung von Růžena Svobodová, übertragen von Johanna Krausová, oder eine ältere Übersetzung Svatopluk Čechs von Zdenek Fux-Jelenský u. a.). Es gab nicht so viele Publikationsmöglichkeiten für die Übersetzer ins Deutsche, Ende der 1910er und Anfang der 1920er Jahre waren es überwiegend deutschsprachige, von Tschechen redigierte Periodika (Čechische Revue, Union), in Wien publizierte Saudek seine Übersetzungen und deutsche Beiträge nur im Wochenblatt Die Waage und erst im Laufe des Kriegs und nach Kriegsende wurde er auch in den expressionistischen Periodika wahrgenommen (Die Weißen Blätter, Die Aktion, Der Daimon, Der neue Daimon, Die Initiale).

 

„Ferner gibt es hier nun das Slavische Tagblatt, dessen Tore mir sperrangelweit stehen,“ teilt Saudek der Schriftstellerin Růžena Svobodová am 21. Dezember 1910 mit. Er veröffentlichte hier zwei ihrer Erzählungen, Výstřel (Der Schuss) und Dianka, aus der Sammlung Černí myslivci (Die schwarzen Jäger, 1908), für welche er – auch unter Mithilfe von Stefan Zweig, Camill Hoffmann oder Martin Buber – vergebens einen Verleger in Deutschland und Österreich-Ungarn suchte. Das Tagblatt druckte ferner auch Saudeks Übersetzung des Feuilletons Benedek von Machar ab, einen Aufsatz über das neueste Werk dieses Dichters oder auch einen Bericht über die Gastvorstellungen eines mährischen Theaters in Wien. Etwas abseits dieser Propagation der tschechischsprachigen Kultur steht ein Essay, der Ende Februar 1911 in dem Tagblatt unter dem provokativen Titel Kulturbastard erschien. Hier zweifelte Saudek die literarische Analyse mit Hilfe der Zergliederung einer Künstlerindividualität in Teile an und anstatt der Schubladisierung nach Nation, Sprache, sozialen bzw. politischen Kategorien verteidigte er eine intuitive, ganzheitliche Anschauung von Kunstwerken. Eine Erscheinung, die eingebürgerte Kategorien und Vorurteile zum Schwanken brachte, war der Dichter Hugo Sonnenschein und seine Sammlung Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht, die aktuell in Wien veröffentlicht worden war. Der „Kulturbastard“ ist hier eine der autostilisierten Figuren oder eine Facette der Außenseiter-Selbstdarstellung (neben Geuse, Christus, dem Vagabunden, dem Landstreicher u. a.). Sonnenschein stellt laut Saudek eine eigenartige Synthese kultureller, ethnischer sowie literarischer Einflüsse und Gegensätze dar. Seine Lyrik bildet einen Teil der „Explosion im Garten“, von der Carl S. Schorske im Zusammenhang mit Oskar Kokoschka oder Adolf Loos referierte. In Sonnenscheins Fall spielte sie sich allerdings zunächst hauptsächlich vor den Augen dessen junger Freunde aus Böhmen und Mähren ab, die in Wien lebten und über Sonnenscheins deutsche Lyrik schrieben oder sie ins Tschechische übertrugen (detailliert hierzu vgl. Dieter Wilde: Der Aspekt des Politischen in der frühen Lyrik Hugo Sonnenscheins, 2002, S. 112–144). Diesem Kreis gehörte auch Saudek an, der am 10. Oktober 1918 in der Zeitung Lípa schrieb: „In Sonnenscheins Gesellschaft hatte ich rege Kontakte mit dem Redakteur des Blattes Dělnické Listy K. Zeman (Ivan Olbracht), der meine Notizen bezüglich meiner Propagationsarbeit immer gerne annahm.“ Gerade in Dělnické Listy machte Saudek bereits am 5. Februar 1910 auf die konfiszierte Sammlung Närrisches Büchel aufmerksam, am 12. März 1915 stellte er im Prager Tagblatt Čas unter dem Titel Wertvolles Zeitdokument den Band Erde auf Erden vor, im Aufsatz Legenda o Sonkovi [Die Legende über Sonka], veröffentlicht im tschechischjüdischen Periodikum Rozhled am 2. Januar 1920, besprach er Sonnenscheins Werk unter diversen Aspekten mit dem Akzent auf Die Legende vom weltverkommenen Sonka.

 

Im Vorkriegs-Wien traf Saudek Sonnenschein an den Kaffeeklatsch-Dienstagen beim Journalisten und Slawisten Jaromír Doležal oder im Café Central, der Dichter besuchte die Saudeks zu Hause, er widmete Else Saudek einige seiner Fotoporträts, auf Ansichtskarten grüßte er den Sohn „Riki“, den späteren Übersetzer Erik Adolf Saudek. Einige Karten lassen auch eine dankbar angenommene gelegentliche finanzielle Unterstützung vermuten. Saudek half höchstwahrscheinlich bei der Veranstaltung des literarischen Abends, der am 10. März im Beethovensaal im Zentrum Wiens (im vorangehenden Herbst war er Hauptveranstalter eines Vrchlický-Abends) stattfand, Sonnenschein trat hier gemeinsam mit dem deutschjüdischen mährischen Schriftsteller Oskar Rosenfeld auf. Auch vermittelte Saudek zwischen Sonnenschein und Otokar Březina, dessen Anerkennung von Bedeutung war, wie Rosenfeld in der Rezension der Sammlung Geuse Einsam von Unterwegs betont: „Daß sein Geuse Einsam von Unterwegs mehr aufwiegt als ein Jahrzehnt deutscher Gedichtemanufaktur, ist noch nicht viel. Aber daß ein Dichter wie Ottokar Březina ihm seine Freundeshand entgegenstreckt, das tut not gesagt zu werden“ (Pester Lloyd 60, 1913, Nr. 82, 6. 4., S. 24–25).

 

Saudek und die tschechische Kritik nahmen Sonnenschein nicht wegen freundschaftlicher Beziehungen wahr, Sonnenscheins frühe Sammlungen Närrisches Büchel und Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht wurden als eine gewisse Neuheit in der Geschichte der modernen tschechischen Lyrik betrachtet. Miloslav Hýsek, der ebenso Sonnenschein in Wien kennenlernte, merkte (in Lidové noviny, am 15. 12. 1909) an, dass Saudeks Übersetzung von Březinas Sammlung Ruce (Hände) aus dem Jahr 1908 sowie auch Sonnenscheins Poesie, durch europäische moderne Lyrik von Baudelaire bis zu den tschechischen modernen Dichtern wie K. Hlaváček, O. Březina, St. K. Neumann, P. Bezruč, F. Šrámek u. a. inspiriert, eine Wandlung nicht nur in der tschechisch-deutschen literarischen Interaktion darstellen, diese Transpositionen würden auch die Qualität der modernen tschechischen Lyrik unter Beweis stellen, die die Abkehr von der neuromantischen melodischen Poesie (der impliziten Hofmannsthalschen Faktur) fördert und eine originelle Poetik schafft – diese war innerhalb der breiter aufgefassten, diverse Sprachen und Einflüsse verschmelzenden Wiener Künstlerszene zunächst mehr den tschechischsprachigen Autoren und Dichtern verständlich, die sich hier allerdings sozial sowie kulturell am Rande bewegten. Wohl auch deshalb waren sie willig, einen Dichter unter sich aufzunehmen, der „deutsch schreibt, durch Abstammung ein mährischer Jude ist und sich als Slowake fühlt“ (unsigniert, Hugo Sonnenschein, Dělnické listy 23, 31. 8. 1912, Nr. 199, 2. Beilage DL, S. [1]).

 

Diese Veröffentlichung von Saudeks Essay in der Rubrik Es schrieben ist in der Tat bereits ein dritter Abdruck: eine längere Passage mit dem Hinweis auf das Slavische Blatt wurde auch im Buch Geuse Einsam von Unterwegs (Utopia Verlag, 1912) abgedruckt.

 

Zusatz: Die Sammlung Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht wurde konfisziert und in der Literatur erscheinen Erwähnungen der Interpellation der Sammlung durch T. G. Masaryk im Reichsrat, dies scheint jedoch falsch zu sein – unter den Interpellationen konfiszierter Texte, die Masaryk zwischen 1910–1911 einreichte, befindet sich Sonnenscheins Sammlung nicht. Ein völliger Irrtum ist allerdings die Information, die Karl-Markus Gauß und Josef Haslinger in ihrem Nachwort zur Auswahl aus Sonnenscheins Lyrik Fesseln meiner Brüder (1984) anführen, nämlich, dass Emil Saudek, ein „mehrfacher Rezensent von Sonka-Büchern“, die anwesenden österreichischen Autoren auf der internationalen Tagung des PEN-Clubs in Kopenhagen aufgrund ihm bekannter Dokumente der angeblichen Kollaboration Sonnenscheins mit den Nazis hätte versichern sollen. Aus dritter Hand übernimmt diese Information auch Jürgen Serke in seinem Buch Böhmische Dörfer. Die erwähnte Tagung fand 1948 statt, wobei Emil Saudek jedoch am 23. Oktober 1941 in Prag starb.

 

lama

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Kulturbastard

[Slavisches Tagblatt 2, 26. 2. 1911, Nr. 91, S. [1], 28. 2., Nr. 92, S. [1]–2]

 

Motto: „So findest Du das Land in deiner Seele,

Grau und düster, Gott! Geuse Einsam!

Du Judenjunge, Slovakenkind, Kulturbastard.“

 

Es gibt nichts in Natur und Gesellschaft, was in Wahrheit in einfache Urbestandteile zerlegt werden könnte. Im geringsten Mann schlummert noch eine Fülle und eine Unendlichkeit. Eine Persönlichkeit – und wenn sie noch so gering scheint – in ihre „Elemente“ zerlegen, bedeutet nur ein Stück des Weges zu ihrer Erkenntnis, aber niemals ihr völliges Verstehen. Um eine schaffende Persönlichkeit, einen Künstler zu begreifen, genügt nicht die bloße chemische Analyse ihres geistigen Wesens; man konstatiere den Einfluß der Abkunft, der Erziehung, des Milieu, der rein äußerlichen Schicksale auf das gegebene Kunstwerk und man wird das Rätsel nicht gelöst, sondern nur vervielfacht haben. Der wahre Dichter muß auch dann, durch die Methoden des Verstandes unergründlich und nur durch das Gefühl auffaßbar erscheinen, sonst trug er nur eine Krone aus Flittergold und nicht aus echtem Golde, wie es sich für einen Prinzen aus Genieland gebührt.

 

Schon die Natur und Gesellschaft schafften unermüdlich stets neue, überraschende Kombinationen der uns so einfach scheinenden Elemente und ein Subsummieren der neuen Individualitäten unter einen gemeinsamen geistigen Typus, worin im Grunde das Werk des Verstandes sich erschöpft, wird immer schwieriger und unbequemer.

 

Jedes Ding ist einzig, wenn man es mit andächtiger Subtilität betrachtet, aber ein Individuum ist eine Welt, von der es nicht schwer ist, zu sagen, daß sie sicher noch nicht entdeckt ist. Eine Künstlernatur gar, ist ein Labyrinth, ein unentwirrbarer Knäuel, ein Buch mit sieben Siegeln. Selbst die Elemente der vulgären geistigen Chemie lassen sich schwer aus dem Herzblut, dem Mark, den Knochen der Persönlichkeit herausdestilieren.

 

Man findet den Dichter einmal ganz national; singt er doch davon, was die ganze Nation nur mit schwerer Zunge lallt und siehe da, plötzlich tönt aus seinem Innersten ein schriller Ruf, der allem Patriotismus widerstreitet und man merkt, daß der Dichter nicht so ganz unser ist! Oder er erscheint im besten Sinne sozial und ist eine Geisel für alle Mächtigen und die Unterdrückten glauben, sie allein seien berechtigt, sie zu schwingen. Plötzlich kommen aber asoziale oder antisoziale Töne und es ertönt der Sang von Kraft, Macht, Ueberschwang und Rücksichtslosigkeit. Und die beiden, sich widersprechenden Ausbrüche sind umso unheimlicher, als man weiß, daß sie nicht den Dichter, sondern uns ins Unrecht setzen; man ahnt unter dem Zauber der Persönlichkeit des Schaffenden, daß die Dissonanz nur scheinbar ist und daß eine nur ihm hörbare Harmonie die vernommenen Gegensätze zur Einheit bindet, zu einer dritten, von uns noch nicht gekannten, Wahrheit.

 

Was fängt die Analyse mit einem Dichter an, der Jude ist, slovakisch fühlt und stürmt, in der Slowakei erzogen ist, das slovakische Idiom mit Recht seine Muttersprache nennt und dabei sehr gut im Geiste der deutschen Sprache schreibt? Was kann die Retorte an einfachen Elementen hervorzaubern, wenn der Kerl Gesellschaft und Staat, wie das fürchterlichste Ungeheuer heißt, ein Rebell jeder Zoll ist und dabei in tiefster Demut, das ist in tiefer, selbstgewollter Erniederung, ein Bruder, den Brüdern auf ihrem schweren Lebenswege dienen will? Man weise sie von der Türe die superklugen Einschachtler und restlosen Zergliederer der dichterischen Persönlichkeiten: man kann im praktischen Leben und für seine Zwecke die Menschen in Beamten und Nichtbeamten, Schacherer und Nichtschacherer, Rentiers und Nichtrentiers, Nationalsoziale und Internationalsoziale teilen, aber ein Dichter ist niemals nur Anarchist, nur Kollektivist, nur Deist oder Atheist, nur königstreu oder nur republikanisch; er ist immer nur persönlich und der Typus, dessen Varietät er ist, ist uns nicht bekannt.

 

Ich spreche von einem Buche*), das, wie es scheint, an dem Wahne solcher vulgären Einschachtungswut für die Gegenwart sterben muß. Von dem Buche eines jungen Zeitgenossen, der sein Bestes, weil sein Eigenes, im besten Sinne Persönliches in sein Buch „Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht“ ausgegossen hat. Und für den Kenner ist in diesem Werke viel kostbarer Duft ausgegossen.

 

Der Titel, der Manchen schreckt, ist doch eine kunstvolle, allen Extrakt des reichen Inhaltes bergende Abbreviatur.

 

Das Herz des Dichters, von ihm selbst in Andacht geschaut, schwelgt in seinen, von den Andern so verschiedenen Freuden und Traurigkeiten. Es singt von seinen Klüften, die seine Einheit zerreißen und den Klüften, die es von den Andern qualvoll trennen.

 

Es kennt seinen Wert und Unwert, seinen Triumph und seine Tragödie. Es fühlt sich als einzig, als über allem schwebend, als durch nichts besiegbar. Es kann Königreiche schaffen. Sein Königreich:

 

„Werde selig und du wirst Andere selig machen!

Die Armen, die Augen haben und nicht sehen,

Ohren und nicht hören; deren stumme Lippen

davon sprechen, daß sie sich nach dem Königreiche

sehnen.

 

Alles ist. Du bist ein Dichter, daß du zeigst – was

ist. Darum bist du ein Dichter! Du siehst:

leihe ihnen deine Augen.

Du hörst: erweise ihnen die Gnade, daß

sie mit deinen Ohren hören!

Rede zu ihnen.“

 

Das arme göttliche Ich! Der Ichgott, er verlodert an eigenem Feuer, das er nicht Andern leihen kann. Er trug sein Licht und seine Glut ins Tal zu den Menschen, er erhob die Stimme und lud alle zu sich, um ihnen seine Wärme, die – bleibt sie unverteilt – in ihm zu Eis und Frost erstarrt, für ein bischen Liebe zu verschenken. Aber er fühlt, daß die mit der LaMsse genossenen Freuden nur ein Rausch seiner sehnsuchtskranken Seele sind und bezeichnet in tieftrauriger Selbsterkenntnis, in seiner tragischen Skepsis, seine Liebe zum Volk, zur Familie der Entrechteten und Rebellen als bloßen Massenrausch!

 

Er kehrt zu sich zurück, zum „Geusen Einsam“, der an seiner eigenen Utopie sich weiter wärmen und sein Sein fristen will, sich wohl bewußt, daß Träume nicht Wirklichkeiten sind und Schemen kein Surrogat für liebebedürftige Arme:

 

„Wer schenkt ein bischen Wärme mir?

Ich gebe meine Seele dafür!

Niemand hier?

Ich erblicke, ich ersehne

Keinen – Götter, jetzt um eine Träne?!

Laßt mich weinen.....“

 

Das ist die Ohnmacht, die bis jetzt erreichte Stufe in dem Mysterium der Entwicklung dieses Einsamen. Nicht die letzte Stufe aber....

 

Dieses Innere hat so vielfältigen Besitz, ist Erbe so vieler Kulturelemente, ist von so vielen Seelen vergessener und im Gedächtnis der Menschen fortlebender Anbeter der Schönheit befruchtet, das es weiter keimen muß.

 

Dazu kommt das, was wir uns nicht als von irgendwo entlehnt denken können, dasjenige, was Urbesitz seiner Seele ist: das manchmal fast visionäre Schauen des eigenen Ichs und des es umbrandenden Kosmos, ein Schauen, gefärbt von wunderbarem Frühlicht und unbekanntem Abendrot. Die nie erlahmende, stets aufs neue hoffnungsfreudige Zuversicht – wenn sich auch die Müdigkeit gar oft zu Gast lädt –, daß es eine Majestät des Lebens gibt, in welcher und für welche zu leben und zu sterben süß ist:

 

„Auch ich bin einer, der des reinen Lebens Majestät

In sonnenhafter Pracht vor seiner Seele sieht,

Und darnach lechzt mit dürstendem Gemüt,

Und doch in Sumpf und Frost und Dunkel geht.

Auch ich bin einer, der vor seinen Sinnen kniet

Und händestarr zu seiner Seele fleht:

Geh’ durch das weiße Land mit mir – wenn hoch

der Mittag steht

Und wenn die Sphäre klingt des Daseins hohes

Lied:

Denn meine Seele ahnt und schaut,

Was fiebernd meine Sehnsucht baut;

Ich weiß von eines Lebens höchster Majestät.“

 

Ich sage, er besitzt ein Schauen seiner selbst und seiner Umwelt, nicht ein Erkennen! Der Blick des Dichters steigert ihm nur die Rätselfülle des Seienden und darin liegt vielleicht das größte Verdienst der Schaffenden, überhaupt daß sie die Menschen zwingen, neue Fragen zu stellen, zu längst Überwundenem wieder zurückzukehren und die Festigkeit längst gewonnener Standpunkte neu zu prüfen. Denn alles Seiende ist unendlichfach, nie einfach.

 

„Es wurde langsam Licht im Land, ich konnte

tiefer sehen.

Und je mehr ich blickte, desto größer wurde die

Verwirrung:

Bald ward mir jedes Blatt nur eine vage Irrung,

Ich konnte jetzt die nächste Nähe nicht verstehen.“

 

Zu dieser schmerzensreichen Kraft, die Dinge zu tanzendem Rätselchaos zu zerstäuben, gesellt sich die hohe Gabe, die jedem Dichter ward, über das sich gewaltig auftürmende Geheimnis nicht zu verzweifeln, sondern unbekümmert über biologisches Wohl und Wehe, durch schönheitsberauschtes Entzücken über das Geschaute zu siegen und sein Dasein freudig zu bejahen; der Ästhet bewundert die Flammen, die ihn umlohen, und hat längst vergessen, daß sie ihn vernichten wollen. „Schön ist das Geheimnis Tod, herrlich ist die Wollust, der Schmerz, das Leid...“, alles Schädigende, Feinselige ist gebändigt vom Bändiger, den Schönheit entflammt hat, und gefesselt vom Sieger, der die Schönheit des Unterliegens sich zu eigen gemacht hat.

 

Der Verfasser dieses Buches stellt die letzten Menschheitsfragen über Bejahen und Verneinen des Lebens, ist in seiner Art ein Philosoph. Viele schwätzen von diesen Dingen, viele singen und sagen auch schön von ihnen, aber wie wenige erleben ihre Schauer? Hier ist einer, der sein Golgatha täglich geht, der seinen Kreuzweg mit dem Sange der höchsten Hoffnungen sich zu versüßen trachtet. Das Denken brachte ihn an den Abgrund, der Verstand sprach dem Lebenswillen sein Nein, da horcht er auf sein Blut, auf den Herrn, der hinter der Vernunft steht und uns alle lenkt:

 

„Mein Blut, es sagt, daß es das Leben liebt. Und meine Sehnsucht nach dem Tod?

Es scheint mir, daß ich ausgegangen war – einmal dem Leben zu entrinnen?!

Wer sagte das?! Es war ein böser Traum, der mit dem Selbstmord mir gedroht...

Wie wohl die Stürme tun! Ich kann mich nicht entsinnen.“

 

Diese Fähigkeit, allen niederdrückenden Gewalten zu Trotz, ohne Hilfe der verstandesmäßigen Reflexion ein freudiges Ja dem Leben zujauchzen zu können, mitten in der als höllisch empfundenen Qual aller Konflikte, ist ein lautes Zeichen großer innerer souveräner Kraft, die unbesiegbar herrschen will. Wer sie besitzt, ist ein Dichter in Wahrheit!

 

Die Bezeichnung „Kulturbastard“, wie sich der Dichter in schüchterner, selbstironisierender Traurigkeit nennt, trifft nicht nur zu, wenn man die bunten nationalen, religiösen und sozialen Elemente, die diesen Dichter zusammengewürfelt haben, ins Auge faßt, sie gewinnt auch ihre symbolische Bedeutung, wenn man seine Art, die Lebenserscheinungen zu betrachten, kennzeichnen will. Jedem seiner Blicke auf ein Einzelnes, jedem seiner Urteile geht unbewußt eine Kreuzung unendlich vieler Anschauungen anderer voran. Kulturen einsamer Herzen, ebenso wie aller in der Masse und mit der Masse lebender Eiferer, haben zwar die größte Blutschande in ihm getrieben, bevor seine Synthesen geboren wurden. In diesem Buche lebt auch ein gutes Stück dessen, was die moderne čechische Literatur der Neunzigerjahre genährt hat, es gibt hier Gedichte, die an den früh verstorbenen Hlaváček, mahnen (Meine Sprache), an Stan. Karel Neumann, dem Sänger der „Apostrophy hrde a vašnivé“, an Jiří Karásek, den berichtigten Dekadenten und den großen Barden Bezruč. Aber unmittelbar ist nur Březinas Einfluß vorhanden und es ist sehr begreiflich, daß dieser Mystiker das Buch freudig begrüßt hat. Aber mehr als die Dichter des ihm so nahe stehenden Volkes hat der lebendige, stets kunstschaffende Dichter, genannt slovakisches Volk, seinem Werke gegeben. Er hat mit slovakischen Melodien dafür gedankt, von welchen ich wenigstens eine anführen will:

 

Das Lied.

 

Dein Lied, du armer Mensch der Slovakei,

Ist ein Verzweiflungsschrei.

Ein Schrei der Seele, die in Banden ächzt

Und doch nach Freiheit lechzt.

Sie nehmen dir alles: dein Blut, dein Feld,

Nur dein Herz und dein Lied, das können sie nicht,

Und dein Hirn, dein Geld.

Das klingt und zeigt der Sonne Licht.

Solang dir in der Brust ein Funken Leben glüht,

So lang hast du dein Herzenslied,

Dein Lied, du armer Mensch der Slovakei –

Deinen Verzweiflungsschrei.

 

Aber das Gewand ist deutsch und gut deutsch; Hermann Bahr und Stefan Zweig erklärten es als das Werk eines Dichters. Und gut kosmopolitisch! Walt Whitman, Verhaeren, Maeterlink sind hier Pate gestanden, aber auch Verlaine und Baudelaire gaben ihren Segen.

 

Aber alle mußten streben und vom persönlichen Feuer des Dichters verzehrt in neuartiger Form aufleben.

 

Es ist eine fieberhafte Sucht in diesem Geiste, alles zu verarbeiten und zu neuen Einheiten umzuzaubern.

 

Der Weg soll gefunden werden, alle sollen Wegweiser sein. Alle und alles. Man taucht in das wilde, geräuschvolle Leben der Großstadt, berauscht sich an ihren Sünden und Sängen, man sucht die engen Gassen, wo, bös und schön, das Laster sich verbirgt,

In uralten Alleen unter dichten Sträuchern und Bäumen,

Wo Dirnen locken und Verbrechen lauern

Und Liebespaare in Ekstase träumen.

 

Aber man schwebt auch hoch in Askese über allem und lebt in Reinheit dem Kult des Schönen. Man mischt sich unter Rebellen und singt mit ihnen und für sie, um dann wieder in aristokratischer Zurückgezogenheit nur mit dem Aufbau seines Innern sich zu beschäftigen.

 

Aus dem „Kulturbastard“, den er sich wehmutsvoll und bissig zugleich nennt, weil er noch im unfertigen Flusse ist, soll der Finder einer eigenen Synthese, eines neuen freudigen Wertes für sich und alle werden: ein Individuum, das eine neue, von einem tapfer erfochtenen Gesetze geleitete Einheit ist, ein Mann des Willens und der Tat.

 

An solchen Mischlingen kann sich die wahre Kultur nur freuen!

 

*) Hugo Sonnenschein. „Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht.“ Gedichte. „Die Utopie des Herostrat.“ Ein Akt. Im Verlage der „Utopia“, Paris und Wien 1910.


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