Es schreibt: Lucie Merhautová

(27. 6. 2019)

Der Slawist Peter Drews, emeritierter Professor an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg, legte in den vergangenen 25 Jahren eine Reihe von Publikationen vor, die die Beziehungen zwischen den slawischen Literaturen und der deutschen Literatur in den Vordergrund rücken. Dabei nahm er eine doppelte, eine slawistisch-germanistische Perspektive ein. Am Anfang seiner Karriere beschäftigte sich Drews mit der Avantgarde, seine Monografie Herder und die Slaven (1990) bedeutete jedoch eine Neuorientierung auf das 18. Jahrhundert und den Vormärz. Sein Interesse erweiterte Drews in seiner systematischen Forschung nach und nach und veröffentlichte folgende Bücher: Deutsch-slavische Literaturbeziehungen im 18. Jahrhundert (1996), Deutsch-polnische Literaturbeziehungen 18001850 (2000), Tschechische Übersetzungen deutscher Belletristik 17711900 (2000), Deutsch-südslavische Literaturbeziehungen 1750–1850 (2004), Die Rezeption deutscher Belletristik in Russland (2008), Die tschechische Rezeption deutscher Belletristik 19001945 (2011). Monographisch ging er ebenso im Falle der Publikationen Schiller und die Slaven (2005) und Heine und die Slaven (2013) vor. Etliche Studien erschienen in Zeitschriften (z. B. Germanoslavica, Slavia, Zeitschrift für slavische Philologie, Sudetenland).

 

In den oben genannten Werken leistete Drews eine enorme bibliographische Arbeit – so etwa beinhaltet der Band zur tschechischen Rezeption deutscher Belletristik aus dem Jahr 2011 eine CD-ROM mit der Bibliographie, die ungefähr 10.000 Angaben von in Buchform oder in Zeitschriften bzw. in der Tagespresse publizierten Übersetzungen deutscher literarischer Texte ins Tschechische auflistet. 2017 erschienen zwei umfassende Bände von insgesamt 1.600 Seiten im Wissenschaftlichen Verlag Berlin – Die slavische Rezeption deutscher Literatur. Die Aufnahme deutscher Belletristik in den slavischen Literaturen von den Anfängen bis 1945 sowie Die deutschsprachige Rezeption slavischer Literatur. Die Aufnahme slavischer Belletristik im deutschsprachigen Raum von den Anfängen bis 1945. Sie muten als Synthese der bisherigen Forschung an, bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch die Frage, ob diese Bücher auch entsprechend konzipiert sind.

 

Das umfangreiche Material wird chronologisch mit Hilfe eines bilateralen Modells organisiert – die Rezeption der deutschen Literatur in den jeweiligen slawischen Literaturen wurde von der Rezeption der slawischen Literatur in der deutschsprachigen Literatur getrennt. Jeder der Bände bringt folglich eine Übersicht über die gegenseitigen Beziehungen, die Kapitel werden allerdings überraschenderweise nicht mit den Nationalliteraturen bzw. mit den Namen historischer Länder und Räume betitelt, sondern (mit Ausnahme der Lausitz) mit den Namen der heutigen Staaten überschrieben: Russland, Ukraine, Weißrussland, Polen, Lausitz, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien. Erweitert und vereinheitlicht wurde die Zeitgrenze – die obere Zeitgrenze wurde einheitlich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs festgelegt, die untere Zeitgrenze ist variabel, sie erfasst die jeweiligen Anfänge der sprachlichen, literarischen und rezeptiven Situation der erwähnten Literaturen, die Unterschiede sind dabei epochal (so liegen etwa die Anfänge der Rezeption von deutschsprachiger Literatur in Russland um 1400, in Polen und Tschechien allerdings bereits um 1200, in Serbien um 1500 u. Ä.). Die innere Strukturierung der Kapitel ist lediglich chronologisch und die Unterkapitel werden meistens mit konkreten Jahresangaben betitelt – die Einschnitte bilden in der Regel die ganzen Jahrhunderte, im 19. Jahrhundert sind das dann das Jahr 1850 und 1880, im Folgenden die historischen Meilensteine wie etwa 1918 und 1945 (im Kapitel Tschechien des Bandes Die deutschsprachige Rezeption slavischer Literatur finden sich etwa fünf Unterkapitel: 1300–1800, 1800–1850, 1850–1880, 1880–1918, 1918–1945, eine solche Periodisierung ist angesichts des Rezeptionswandels und ihrer literarischen Ausprägung sowie politisch-kultureller Bedingungen relevant, nur die Zeit des Protektorats Böhmen und Mähren hätte noch separat bearbeitet werden können; die Rezeption der deutsch geschriebenen Literatur in der tschechischen Literatur ist wesentlich umfangreicher, dieser Tatsache entspricht die Gliederung in acht Unterkapitel im zweiten Band.). Im Rahmen dieser Periodisierung gliedert der Autor die Rezeption nach dem Gattungsprinzip weiter (Lyrik, Prosa, Drama bzw. Fachtexte), wobei die Ausführungen ohne weitere Gliederung bzw. Markierung verlaufen, und der Leser daher leicht den Überblick verlieren kann. Die Publikationen sind jedoch – wie ihr Autor selbst anmerkt – nicht für eine fließende Lektüre geeignet, sie sollen die Aufgabe eines Handbuchs, eines Nachschlagewerks, erfüllen, in dem der Leser das finden kann, was er gerade sucht. Laut Drews sollten diese Handbücher das Studium der slawisch-deutschen Beziehungen sowie den „Vergleich nationaler Phänomene aus übernationaler Perspektive“ (S. 10) erleichtern. Die Orientierung quer durch die Kapitel wurde dem Leser allerdings erschwert, im Unterschied zu Drews früheren Publikationen wurde der Apparat in diesem Fall wesentlich reduziert – neben der Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur ist hier weiter lediglich ein Namenregister zu finden. So bleibt dem an der Goethe-Rezeption interessierten Leser nichts Anderes übrig, als sich durch die 29 Zeilen keineswegs strukturierter Angaben (wenigstens nach Werk und Literatur) durchzubeißen. Der Handbuchnutzer hat ferner keine Übersicht über den Umfang der Exzerpte in der jeweiligen Literatur, z. B. vom Gesichtspunkt der Periodika, bzw. davon, inwieweit der Autor aus der Bücherkunde, bibliographischen Verzeichnissen und retrospektiven Bibliographien, der Forschungsliteratur und der eigenen Recherchen schöpft und inwieweit die Zahlenstatistiken relevant sind, die der Autor anführt. Überhaupt schleicht sich hier der Gedanke ein, ob nicht eine Bibliographie nützlicher wäre, als deren Nacherzählung.

 

Schade nur, dass der Autor nicht versucht hat, die Fragen und Probleme abzustecken, die seine langjährige Forschung und das unermessliche komparative Material anboten. Beide Publikationen sind nur mit dem identischen dreiseitigen Vorwort und einem kurzen Nachwort versehen. Im ersten Satz des Vorworts stellt der Autor fest: „Literarische Wechselbeziehungen zwischen Nationalliteraturen unterscheiden sich nur graduell von der internen Rezeption literarischer Erscheinungen, indem gegebenenfalls höhere kulturelle wie sprachliche Hürden zu überwinden sind.“ (S. 9) Es wird hier das Modell der Nationalliteratur als selbstständiges System und der Rezeption als Transfer zwischen dem Ausgangs- und dem Zielsystem, zwischen dem Außen- und dem Innensystem (dem „eigenen“ System), vertreten. Die Ausprägung und der Verlauf der Rezeption hängt Drews zufolge von ästhetischen, kulturellen und außerliterarischen Faktoren ab, die jedoch bei einer so großen Menge von fokussierten Fällen nicht zum Gegenstand der Interpretation wurden und werden können. Solch ein Ausgangsmodell ist leider statisch und dürfte mit Einschränkung vielleicht noch im Falle der Beziehung von zwei sozusagen großen Literaturen (wie etwa der deutschsprachigen und russischen) angewandt werden. Wenn man sich allerdings in die Lektüre vertieft, begegnet man den Beispielen einer derart „großen“ Rezeption, die die literarischen Formen beeinflusst, eher selten. Besonders angesichts des Vordringens kleinerer slawischer Literaturen in die deutsche Literatur sind die Dominanten im Voraus mehr oder weniger klar und zu erwarten und im 19. sowie 20. Jahrhundert größtenteils von der Rezeption russischer und polnischer Literatur abhängig. Mehr als auf diese „große“ Rezeption konzentriert sich Drews aber auf den mannigfaltigen literarischen Betrieb, der in diversen Kontexten stattfindet, wobei die jeweiligen Vermittlerbemühungen von unterschiedlichen Motivationen im Rahmen unterschiedlicher Konzepte geleitet werden und unterschiedliche Auswirkungen haben. Der Autor selbst deutet an, dass die Situation umso komplizierter sei, je geographisch näher sich die beiden erforschten Literaturen stehen. Im Falle der Literaturen im böhmisch-mährischen Raum erweist sich die Trennung von zwei selbstständigen literarischen Systemen bzw. Strukturen für den Großteil des erforschten Zeitraums als problematisch und die Erforschung der Wechselbeziehungen, des viel zitierten deutsch-tschechischen Mit- und Gegeneinanders, mündet eher in der Hinterfragung des Konstrukts der Nationalliteratur und des daraus folgenden klassischen bilateralen Komparationskonzepts, das anfangs als modellhaft postuliert wurde.

 

Viel übersichtlicher wirkt nun der Band, der sich auf das Eindringen der deutschen Belletristik in Form von Übersetzungen in die konkreten slawischen Literaturen konzentriert. Ebenso ist es in diesem Band einfacher, zu vergleichen bzw. die Rezeption von konkreten Autoren, etwa der Autoren der Weimarer Klassik, des Jungen Deutschland oder des Expressionismus, zu recherchieren. Umgekehrt ist das Eindringen der betreffenden slawischen Werke in den deutschsprachigen Raum problematisch, u. a. auch deswegen, da die möglichen historischen Bedeutungen des Begriffs „deutschsprachig“ nicht geklärt wurden – dieser fungiert nicht bloß als übergeordneter Begriff für die deutsche, österreichische, deutschböhmische, deutschmährische oder schweizerische Literatur. In Wirklichkeit handelt es sich um viele Kontexte und zeitbedingte Optionen, v. a. im 18. und 19. Jahrhundert in den Böhmischen Ländern bzw. in der Habsburgermonarchie, innerhalb derer die deutsche Sprache einen ausgedehnten Kommunikationsraum auch für die slawischen Autoren darstellte. Vage wirkt ferner die Definition des Begriffs „Aufnahme“. Die Rezeption wird als eine v. a. selbstständige (Buchform) oder auch nicht selbstständige Übersetzung (in der Presse, in diversen Auswahlen, Almanachen u. dergl.) sowie deren Nachhall bzw. Fall- und Übersichtsstudien, literaturhistorische Handbücher, Einträge in Lexika usw. verstanden. Der Vorgang konzentriert sich auf das Werk, den Autor, die nächsten bzw. sichtbarsten Vermittler – Übersetzer, Kritiker, Literaturhistoriker; aus dem Vermittlungsprozess verschwinden somit unzählige Akteure, wie der Autor selbst im Vorwort einräumt, v. a. aus Raummangel, der ihn daran hindert, die jeweiligen Beispiele näher zu beleuchten. So eine Verdichtung verursacht allerdings auch einen verkürzten Zitationsgebrauch. In den breiten Rahmen der deutschsprachigen Rezeption – ungefähr so aufgefasst: was auf Deutsch vorliegt, ist schon eine Rezeption – geraten auch Kontexte, die zu problematisieren wären. Im Fluss der Ausführungen überlappen sich etwa miteinander nicht zusammenhängende Beispiele von Vermittlung, diverse Rezeptionshorizonte, die häufig angeführten Angaben zur Anzahl von Übersetzungen und andere Publikationen haben letztlich keine klare Aussagekraft, und es ist häufig nicht klar, was sie eigentlich zeigen sollen. Die Übersetzungen tschechischer Autoren in deutschböhmischen Periodika geraten neben die in Deutschland oder Wien publizierten Übersetzungen. Im Kapitel zu Slowenien erscheinen daher oft Hinweise auf das von Tschechen herausgebrachte Prager deutschsprachige Tagesblatt Politik und dessen Nachfolger Union. Deutschsprachige slawische Tagesblätter in der Monarchie wie etwa die Union konnten die Verstärkung der slawischen Solidarität, und wichtig waren dabei die gegenseitigen, bisher unerforschten Beziehungen. Wie sind also etwa die Übersetzungen Ivan Cankars in der Union (die parallel zu den Übersetzungen ins Tschechische waren) oder umgekehrt die Übersetzungen tschechischer Dichter wie etwa J.S. Machar in der Agramer Zeitung, im Agramer Tagblatt oder in der Laibacher Zeitung zu deuten, die Drews exzerpiert? Gleichermaßen unentschieden steht man vor vielen Beispielen zahlreicher Übersetzungen slawischer Autoren in der Prager Presse – und vice versa, darf man Publikationen von Robert Musil und Robert Walser auch zugleich als ihre tschechische Rezeption auffassen?

 

Die wechselseitigen deutsch-tschechischen und tschechisch-deutschen Beziehungen in den böhmischen Ländern sind für Drews eine Angelegenheit von zwei abgetrennten Gruppen, der Tschechen und böhmischen bzw. mährischen Deutschen. Den Wandel kultureller und sprachlicher Präferenzen oder das Phänomen der Mehrsprachigkeit nimmt er nicht besonders zur Kenntnis. Erstaunlicherweise verdrängt oder verschweigt der Autor die Rolle jüdischer Vermittler, ihre spezifische Stellung, ihre spezifischen Motivationen und den wachsenden Anteil dieser Vermittler an Vermittlungsversuchen, in den Literaturverzeichnissen finden sich ferner beinah keine Arbeiten, die sich diesem Thema in der letzten Zeit gewidmet haben. Der vielseitigen Übersetzungs-, Interpretations- und Organisationstätigkeit der zahlmäßig ansteigenden Reihe der Vermittler aus unterschiedlichen Generationen und Gedankenlager wie etwa Friedrich Adler, Camill Hoffmann, Emil Saudek, Rudolf Fuchs, Otto Pick und Pavel Eisner verdankt die tschechische Literatur ihre Einführung in diverse deutschsprachige literarische Kontexte, das heißt etwa, dass das Werk von Vrchlický, Březina, Bezruč oder Čapek dort rezipiert wurden. Aber genau diese Vermittler werden in Drews Übersichten als böhmische Deutsche klassifiziert, beginnend mit Siegfried Kapper, der als „Deutschböhme“ (S. 253) bezeichnet wird. Der Übersetzer von O. Březina, J.S. Machar und V. Rakous Emil Saudek wird als „der aus Mähren gebürtige Übersetzer E. Saudek“ (S. 438–439) eingeführt, geboren wurde er zwar in Iglau, er wuchs jedoch in einer jüdischen Familie im böhmischen Pelles (unweit von Saar) auf. „Der Prager Dichter und Publizist“ (ebd.) Camill Hoffmann verbrachte wiederum einen beträchtlichen Teil seines Lebens in Kolín, Wien, Dresden und Berlin und seine Vermittlungsrolle übte er vor allem außerhalb Prags aus. Rudolf Fuchs ist ein „aus Mittelböhmen stammender Beamter und in seiner Jugend allmählich vom tschechischen Muttersprachler zum deutschen Dichter gewandelter bald namhafter Übersetzer tschechischer Poesie“ (S. 440), Arne Laurin erscheint weiterhin als „der tschechische Publizist A. Lustig“ (ebd.), Arnošt V. Kraus als „der namhafte Prager tschechische Germanist A.V. Kraus“ (S. 435), der gebürtige Mährer und Jude Oscar Donath als „der deutschböhmische Literarhistoriker O. Donath“ (S. 457), der Maler und Übersetzer von Machars Poesie Arnošt/Ernst Mandler, gebürtig aus einer jüdischen Familie in Humpoletz, als „Wiener Maler E. Mandler“ (S. 458). Zu ausschließlich böhmischen Deutschen werden die berühmtesten Vermittler der Zwischenkriegszeit gezählt, wie etwa Otto Pick und Pavel Eisner: „als Übersetzer fungierten immer noch vor allem Deutschböhmen, namentlich nun Pick und Eisner“ (S. 473). Ungenauigkeiten, verkürzte Rubrizierungen oder sonstige Fehler (so wird etwa die deutschsprachige Dichterin und Übersetzerin von Vrchlickýs Poesie Marie Nusko(-Hamada) als M. Musko, S. 441, angeführt) und der mangelhafte Apparat wecken viele Bedenken, was die Zuverlässigkeit dieses monumentalen Bandes anbetrifft. Der transnationale Blick, zu dem die Publikationen führen wollen, führt eher zur Hinterfragung der Grenzen des vorgelegten, auf Dichotomien beruhenden, komparatistischen Modells.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Peter Drews: Die slavische Rezeption deutscher Literatur. Die Aufnahme deutscher Belletristik in den slavischen Literaturen von den Anfängen bis 1945. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag, 2017, 829 S.

Peter Drews: Die deutschsprachige Rezeption slavischer Literatur. Die Aufnahme slavischer Belletristik im deutschsprachigen Raum von den Anfängen bis 1945. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag, 2017, 685 S.


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