Es schreibt: Sara Hauser

(E*forum, 12. 6. 2019)

Früh morgens in der touristenleeren Altstadt ist es noch ansatzweise spürbar: Dieses „[w]ir sind halb Dorf, halb Kleinstadt“-Gefühl, das Milena Jesenská (1896–1944) 1922 ihrer Heimatstadt im Feuilleton Lob des Kitsches [Chvála kýče!] zuschrieb. Jesenská ist eine der Autor*innen, die in journalistischen Kurztexten urbane Prager Essenzen des frühen 20. Jahrhunderts destillierten. Publiziert wurden die Feuilletons regelmäßig in Prager Zeitungen, Beilagen und Zeitschriften. Und so gehörten, neben Beiträgen zu Jan Neruda oder Robert Walser, auch Texte Jesenskás zum Programm der literaturwissenschaftlichen Konferenz Prag im / Feuilleton / in Prag, die Irina Wutsdorff und Ulrike Mascher (Tübingen) gemeinsam mit Manfred Weinberg und Štěpán Zbytovský (Prag) im September 2018 organisierten.

 

Im Österreichischen Kulturforum sowie am letzten Tag in den Räumen der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität beleuchteten internationale Referierende drei Tage lang die Prager Feuilletonlandschaft. Die journalistischen Kurztexte verkörpern, wie Hildegard Kernmayer (Graz) im Abendvortrag betonte, die urbane Gattung schlechthin und sorgten am Übergang zum 19. Jahrhundert für eine Literarisierung der Publizistik. Von offiziellen Nachrichten waren Feuilletons durch einen Strich abgetrennt. Von „unterm Strich“ aus traten die Texte zu denen „überm Strich“ in Beziehung, inszenierten pointiert Alltägliches, Kurzweiliges, Kulturkritisches. Nicht selten geschah das flanierenderweise. Der subjektiv gefärbte Blick interessiert sich für Details, wertet diese auf.

 

Als Prager Beobachter und Zentralfigur des jungen Feuilletons stellte eingangs Dalibor Tureček (Budweis) Jan Neruda (1834–91) heraus. Tureček fokussierte hierbei auch Parallelen zwischen Wiener und Prager Feuilletons. Wie Nerudas „pikanter“ Stil den modernen, arbeitenden Menschen ins Zentrum rückte, erläuterte Nora Schmidt (Erfurt). Auch seien Nerudas Beiträge wichtige Vorläufer der Manifeste der Prager Moderne gewesen, und ihre Spuren reichten weit bis ins 20. Jahrhundert.

 

Anschließend standen verschiedene Zeitungsredaktionen im Fokus: In seinem Vortrag über Max Brods Roman Prager Tagblatt las Manfred Weinberg den Text als resignierenden Kommentar zur Prager Feuilletonkultur des frühen 20. Jahrhunderts. Brod habe so die vermeintlich große Epoche der Prager Kulturgeschichte „klein geschrieben“ und das renommierte Prager Tagblatt nachträglich demontiert. Die mit übergroßem Pathos stilisierte Hautfigur, der Gerichtsreporter Fliegel, scheitere an seiner „durch und durch verbösten Zeit“.

 

Den Redaktionen der Prager Presse und der französisch-sprachigen Gazette de Prague widmeten sich Sibylle Schönborn (Düsseldorf) und Marie Odile Thirouin (Lyon). Die seit 1921 erscheinende Prager Presse ist für Schönborn ein Beispiel des „Cultural Mappings“: Die deutschsprachige Zeitung, welche die größte Prager Minderheit adressierte, zeige Prag als Modellstadt für die Zukunft eines Europas der Vielfalt. Schönborn betonte auch die kulturvermittlerischen Verdienste der Prager Presse in Form internationaler Rezensionen und Übersetzungen tschechischer Literatur. Die mehrsprachige Situation in Prag blendete hingegen die Gazette de Prague, die von 1920 bis 1926 erschien, völlig aus. Thirouin führte dies auf die redaktionelle Zielsetzung zurück, den europäischen Einfluss Frankreichs mit Hilfe der Slaven zu vergrößern. Das slavisch assoziierte Prag wurde hierbei als neues Zentrum Zentraleuropas betrachtet. Die Gazette inszenierte Prag als Kulisse einer ländlichen Idylle, in welcher ein friedvolles und melancholisches tschechisches Volk lebe. Die tschechisch-jüdische Kultur oder die Prager Deutschen wurden hierbei marginalisiert.

 

Der zweite Konferenztag begann mit Vorträgen zu zweisprachigen Feuilletonisten. Štěpán Zbytovský beleuchtete, wie der engagierte Kritiker Paul Leppin (1878–1945) die modernen Wechselbeziehungen der tschechischen und der deutschen Kultur feuilletonistisch in Prager Periodika inszenierte. Leppins Suche nach kleinen Details, in denen sich etwas Großes verkapsele, schloss Zbytovský mit Selbstinszenierungen Leppins als Zeuge der Prager Bohème kurz. Dem mehrdeutigen urbanen Prager Raum in Paul Eisners (1889–1959) Feuilletons wandte sich anschließend Marek Nekula (Regensburg) zu. Er zeigte, wie Eisners Zeitungstexte ein differenzierteres Pragbild liefern als seine – von der Forschung breit rezipierte – These vom dreifachen Ghetto, mit welcher Eisner retrospektiv die Situation in Prag lebender Deutscher Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb. Dem stellte Nekula den zeitgenössischen Blick des aus und über Prag schreibenden Feuilletonisten Eisner zur Seite.

 

Mit variierenden Prager Stadtbildern beschäftigten sich die folgenden Beiträge. Ulrike Mascher sprach über die politische Umcodierung Prags, das 1918 neue Hauptstadt wurde. In Lektüren von Texten Richard Weiners (1884–1937) und F.C. Weiskopfs (1900–1955) nahm Mascher die Zuhörenden mit auf „Stadtspaziergänge“. Hierbei zeigte sich, wie Umbrüche im Stadtbild und an öffentlichen Plätzen als politische Transformationsprozesse lesbar sind. Spezifische Prag-Images des Kultur-Periodikums der Deutschen Arbeit untersuchte Steffen Höhne (Weimar). Im Fokus standen politische Überschreibungsstrategien des urbanen Raums durch die Prager-deutsche Redaktion. Positive Reaktionen auf die erfolgreiche tschechische Nationalbewegung wurden abgelöst durch die Inszenierung Prags als deutsche Hauptstadt. Als „ideale kleine Großstadt“ charakterisierte schließlich Blanka Mongu (Bratislava) das feuilletonistische Prag der 20er und 30er Jahre. Sie schilderte, wie Prag im Spagat zwischen Tradition und Moderne nach einer neuen Identität als Hauptstadt einer jungen Republik im Nachkriegseuropa suchte, und akzentuierte Prags diskursive Orientierung an Berlin und New York.

 

Anschließend gab Barbara von Reibnitz (Basel) Einblicke in die Editionswerkstatt der kritischen Robert Walser-Ausgabe. Die kleine Form des Feuilletons rückte Walser auch in die Nähe zur Lyrik, wie Sabine Eickenrodt (Berlin/Bratislava) in ihrem Vortrag Schreiber, Schrifter… Adalbert Stifter hervorhob. Sie setzte Walsers in der Prager Presse publiziertes Stifter-Portrait in Beziehung zu Nachrichten „überm Strich“. Walsers Text öffne Lesarten zwischen ironisch-kunstvoll inszeniertem Dilettantismus, subversiver Kritik und Fragen zum Umgang mit der Tradition. Barbara Thums (Mainz) betrachtete Walsers Prager Presse-Texte schließlich als Sammelbecken einer strategischen Mimikry-Praxis. Hierbei zeigte Thums, wie Walsers Feuilletons über subversive Tarnungsmechanismen die alltägliche Wahrnehmung irritieren und einen befremdenden Blick schulen.

 

Der letzte Konferenztag behandelte die Verbindung von Feuilleton und Theorie sowie Prager Feuilletonist*innen. Anna Conant (Tübingen) referierte über Josef Čapeks illustrierte Feuilleton-Serie Homo artefactus, die 1924 in den Lidové noviny erschien. Conant zeigte, wie der pseudoaufklärerische Bericht neue Maschinen statt neuer Menschen propagierte und so die Diskurse um künstlerische und gesellschaftliche Erneuerung satirisch reflektierte. Peter Zusi (London) beleuchtete schließlich die Verbindung von Richard Weiners journalistischem und fiktionalen Schreiben, wobei er Weiners textuelle Sprachmasken untersuchte. In ihrem Vortrag zum Prager linguistischen Zirkel hob Veronika Ambros (Toronto) auf dessen Präsenz im deutsch- und tschechisch-sprachigen Feuilleton ab. Ambros akzentuierte, wie die Oralität in Beiträgen Karel Čapeks wissenschaftliche Diskurse im feuilletonistischen Gewand greifbar machte.

 

Von der neuen Zielgruppe der Zeitungsleserinnen und den an sie adressierten Feuilletons sprach Libuše Heczková (Prag). Die, meist in Zeitungsbeilagen erschienenen, Texte von Autor*innen wie Marie Fantová (1893–1963) oder Marta Rusová kreisten oftmals um den mit Weiblichkeit assoziierten privaten Raum. Heczková zeigte jedoch, wie ebenso politische, soziale, feministische und ökonomische Diskurse die Texte bestimmten. Den Prager Feuilletons der slowenischen Schriftstellerin Zofka Kveder (1878–1926) widmete sich dann Irina Wutsdorff. Kveders Texte besetzen die zumeist männlich konnotierte Flanerie neu: Aus weiblicher und aus Kinderperspektive literarisierte Kveder die Stadttouren ihrer Tochter. Zu Milena Jesenskás Wiener Feuilletons, die in Prager Zeitungen erschienen, referierte Gertraude Zand (Wien). Die an den „Adressaten“ Prag gerichteten Texte lieferten Beobachtungen aus dem Wiener Alltag, welche die Auswirkungen von Wiens politischem Statusverlust als k.u.k.-Hauptstadt auf das Private zeigten. Jesenskás Begeisterung für Illustrierte akzentuierte abschließend Jindřich Toman (Ann Arbor), der hierbei Schlaglichter auf die goldene Epoche der Illustrierten warf. Nach Toman entwickelte Jesenská eine Didaktik der Modernität, um das Sozialverhalten ihrer Leserschaft zu normieren.

 

Das Nebeneinander und der Dialog verschiedener feuilletonistischer Zugänge zum urbanen Prager Raum verdeutlichten vor allem Eines: Wie facettenreich Feuilletons komprimiert moderne Geistesgeschichte lesbar machen. Um das Forschen in diesen Zeitschleusen auszudifferenzieren, gilt es zukünftig, Digitalisierungsdesiderate zu beheben und den – auf dieser Konferenz geglückten – bohemistisch-germanistischen Austausch über die noch junge Feuilletonforschung weiter zu befördern.


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