Es schreibt: Záviš Šuman

(29. 5. 2019)

Das Buch „I do daleka vede cesta…“ [Auch in jene Weite führt der Weg…], das mit dem Untertitel Vybrané studie z literární komparatistiky a moderní německé literatury [Ausgewählte Studien zur Komparatistik und modernen deutschen Literatur] versehen ist, enthält eine umfangreiche Auswahl von Texten aus dem Lebenswerk des Germanisten, Komparatisten, Übersetzers, Herausgebers und Redakteurs Josef Čermák. Den Aufbau der Textsammlung bestimmen zwei Kriterien: der thematische Aspekt und das Erscheinungs- bzw. (bei bislang unveröffentlichten Artikeln) Abfassungsdatum der einzelnen Texte. Chronologisch umfasst das Buch die Zeit ab dem Jahr 1949, als der junge Josef Čermák einen kulturanthropologisch gefärbten Artikel über Rübezahl veröffentlichte, bis zum Jahr 2015, dem Entstehungsjahr einer Studie, welche die berühmte Liblicer Kafka-Konferenz in breitere Zusammenhänge einbettet und insbesondere die damaligen Bemühungen um eine Annäherung von Ost und West im Rahmen einiger Symposien der Europäischen Schriftstellergemeinschaft COMES behandelt. Die Anthologie wurde also vom Herausgeberteam eindeutig und verdienstvollerweise so konzipiert, dass sie Čermáks lebenslange Bemühungen widerspiegelt. Der thematische Aspekt kommt dann zweckmäßigerweise im internen Aufbau des Buches zur Geltung, das in drei umfangreiche Teile gegliedert ist: 1) „Studien zur Weltliteratur und Komparatistik“ (hier finden sich stellenweise auch sehr intim gefärbte Erinnerungen an Čermáks Lehrer Václav Černý), 2) „Deutsch-tschechische Literatur- und Kulturbeziehungen“ (enthält u. a. tiefgründige Artikel über Otokar Fischer, Karel Arnstein und Vojtěch Jirát), 3) „Franz Kafka“ – dieser Teil, der sich auf Čermáks zentrales Lebensthema bezieht, dominiert die Anthologie vom Umfang wie auch von der Bedeutung her und könnte hierzulande selbst in dieser Form als zuverlässiger Leitfaden durch Kafkas Werk dienen.

 

Es ist naheliegend, dass eine so groß angelegte Anthologie diverse nicht ungewöhnliche Klippen birgt. Das erste Kapitel ist chronologisch aufgebaut und vermittelt der Leserschaft eine Vorstellung von der Entwicklung und dem allmählichen Heranreifen des Čermák‘schen Zugangs zur Literatur (Ende der fünfziger Jahre und in der nachfolgenden Dekade des 20. Jh. – in seinen Studien über Racine, Molière, Stendhal, Mérimée u. a. – tendiert Čermák zu synthetisch angelegten Porträts großer Klassiker der Weltliteratur, erst später wendet er sich in analytischer Weise mikroskopischen Sonden, Rezeptionsstudien und den sog. genetischen Kriterien zu). In den anderen beiden Teilen hingegen tritt der chronologische Aspekt zugunsten einer thematischen Gliederung in den Hintergrund. Insbesondere im dritten Kapitel, das einen Artikel Čermáks über verschiedene Aspekte von Kafkas Schaffen, über die Wendepunkte seines Lebens und die Rezeption seines Werks im tschechischen Kontext wie auch im Ausland enthält, finden sich wiederholt nahezu dieselben und oft auch in derselben Weise stilisierten Passagen (Kafkas mutmaßliche Sympathien gegenüber der anarchistischen Bewegung oder seine Kenntnis bzw. Unkenntnis der tschechischen Sprache). Diese hätte man, obgleich sie stets begründet sind, stellenweise kürzen oder weglassen können, und dies auch mit Blick darauf, dass das Buch nicht als thematisch geschlossene Monografie gedacht war. Gutgetan hätte der Edition meiner Ansicht nach ein detaillierterer literaturgeschichtlicher Kommentar sowie eine besser durchgearbeitete und aktualisierte Bibliografie der Sekundärliteratur in den Kommentaren des Herausgeberteams, wie wir dies z. B. von der großen „weißen“ Reihe ähnlich konzipierter Anthologien kennen, die im Odeon-Verlag (und später anderswo) erschienen sind, dem Verlag, dem Josef Čermák – wie allgemein bekannt – einen Großteil seiner beruflichen Laufbahn widmete.

 

Über die oben genannten partiellen Einwände überwiegen jedoch eindeutig die Vorzüge. Der in sprachlicher Hinsicht fast fehlerfrei redigierte Band ist mit einer nahezu kompletten Bibliografie zu Čermáks Werk versehen (einschließlich Übersetzungen, Interviews u. ä.), die neben bereits veröffentlichten Texten auch bislang unpublizierte Artikel anführt. Die Edition enthält alle Texte in der ursprünglichen, d. h. ungekürzten, Fassung (Kehrseite dieser Entscheidung sind die oben genannten Redundanzen). Zudem werden dem Lesepublikum auch bislang schlechter zugängliche, in anderen Sprachen erschienene Arbeiten Čermáks verfügbar gemacht. Die gesamte Anthologie wird darüber hinaus durch eine schöne Porträtstudie des Romanisten Jiří Pelán eingeleitet, welcher u. a. herausarbeitet, worin und warum Čermáks methodologische Vorgehensweisen inspirierend und höchst aktuell sind.

 

Čermáks Methode findet – mal mehr, mal weniger – in all seinen Texten unterschiedlichster Genres Anwendung. Seien es Porträts von Freunden oder Bekannten Franz Kafkas oder von bedeutenden (jedoch bei Weitem nicht nur den bedeutendsten) Persönlichkeiten der tschechischen Vorkriegsgermanistik (einschließlich Charakterisierungen des kulturellen Milieus der Prager jüdischen Community), übersetzungswissenschaftliche Arbeiten oder Erinnerungen und Zeugnisse – Čermák stützt sich stets auf eine verlässliche (und daher überprüfbare) Faktografie, welcher oft intensive Archivrecherchen zugrundeliegen. Diese Materialbasis befähigt ihn, in polemischem Geiste unermüdlich verfälschende und von der Sekundärliteratur unablässig wiederholte Urteile, z. B. über Kafkas Tschechischkenntnisse, seine Beziehung zum radikalen Anarchismus, seine politischen Einstellungen oder seine Kenntnis der tschechischen Literatur, zu entkräften. Diese Erkenntnisse, potenziert durch eine außergewöhnliche Kenntnis der einheimischen wie auch der internationalen Kafka-Forschung, dienen ihm jedoch größtenteils nicht als Sprungbrett zu weiteren Spekulationen, sondern zielen eher darauf ab, in nüchterner Manier die Luftschlösser nicht belegter oder nicht belegbarer Hypothesen zu demontieren, auf die sich einige ideologisierende oder regelrecht sensationsheischende Auslegungen von Kafkas Werk stützen. Mit anderen Worten: Čermák überprüft die heuristische Untermauerung und Tragfähigkeit der aufgestellten Hypothesen und legt der Leserschaft immer neue Beweise vor, die sich auf eine intime Quellenkenntnis stützen.

 

Werden im heutigen „postfaktischen“ Zeitalter beunruhigte Meinungen laut, welche das Ethos und die Raison d’être der sachlich-nüchtern konzipierten Arbeiten eines sensiblen Philologen und Historikers als Relikt der methodischen Ausgangspunkte eines längst überlebten, trockenen Positivismus diskreditieren, der interpretatorische Eigenleistung verhindere, so mögen deren Verfechter – sofern sie nicht fürchten, bald der Irrigkeit ihrer oberflächlichen Urteile überführt zu werden – ihre Aufmerksamkeit anderswohin wenden. Das neue Buch Josef Čermáks wird ihnen mancherlei Anregung bieten, wobei sich zeigt, dass penible Arbeit und gründliche Deskription nicht in unvereinbarem Widerspruch zu schöpferischer Interpretation stehen. Am deutlichsten wird diese scheinbar so schlichte Wahrheit meiner Meinung nach in Čermáks Analyse von Kafkas unvollendetem Roman Der Verschollene, einem der besten Artikel der ganzen Sammlung. Čermák vergleicht hier drei bisherige tschechische Übersetzungen dieses Romans (Milena Jesenská, Dagmar Eisnerová, Josef Čermák) und belegt in nahezu Spitzer‘scher Manier (hermeneutischer Zirkel), in welchem Maße sich die einzelnen übersetzerischen Lösungen auf ein interpretatorisches Gesamtkonzept stützen, und damit auch, in welchem Maße sie durch dieses gesetzmäßig bedingt sind. Ohne handwerkliche Vorbereitung, gründliche Kenntnis der Lebensgeschichte des Autors und die präzise (ja, auch hier auf „bloße“ Faktografie gestützte) Analyse der spezifischen Züge von Kafkas Stil und ohne Reflexion der Art und Weise, in der diese – wie problematisch auch immer – die Weltanschauung des Autors spiegelt und erklärt, wäre diese Studie undenkbar! Čermák, der uns – nur zur Erinnerung – gemeinsam mit Josef Dubský in den sechziger Jahren Barthes’ Semiologie zugänglich machte (indem er Barthes’ Texte Am Nullpunkt der Literatur und Elemente der Semiologie übersetzte), belegt hier letztendlich, dass die Übersetzungsarbeit natürlicherweise mit den Aufgaben eines Literaturhistorikers und vor allem eines trefflichen Interpreten einhergeht, wobei sich – sofern es sich um eine echte Mission handelt, wie Čermák selbst sie in einem Artikel über Otokar Fischer beschreibt – jene ersehnte „glückliche Verbindung von Wissenschaft und Kunst“ (S. 230) tatsächlich erfüllt. In der heutigen Zeit, die akademisch-wissenschaftliche Übersetzer durch die pervers verzerrte Optik der Szientometrie unter allgemeiner passiver Zustimmung eher straft als sie gebührend zu würdigen, ist dieses Memento eine hochgradige Warnung, umso mehr, als es in unpathetischer Weise von einem Menschen vorgebracht wird, der sein ganzes Leben lang ergeben der Literatur diente.

 

Übersetzung: Ilka Giertz

 

 

Josef Čermák: „I do daleka vede cesta…“ Vybrané studie z literární komparatistiky a moderní německé literatury. Hg.: Petr Čermák, Kristina Hellerová und Jan Čermák. Praha: Filozofická fakulta Univerzity Karlovy, 2017, 575 S.


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