Es schreibt: Veronika Jičínská

(E*forum, 16. 5. 2019)

Das Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder ist das erste Nachschlagewerk dieser Art über die deutsche Literatur in den Böhmischen Ländern vom 18. bis zum 2o. Jahrhundert. Es ist in der angesehenen Handbuch-Reihe des deutschen J. B. Metzler-Verlags erschienen. Laut den Herausgebern ist das Buch für ein Fachpublikum wie auch für eine breitere, über die deutschsprachigen Länder hinaus literaturgeschichtlich interessierte Öffentlichkeit bestimmt. Autoren der Artikel sind an die vierzig tschechische, deutsche und österreichische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zum Begriff der Heimat und des deutsch-tschechischen Umfelds reflektieren zeitgenössische Autoren wie Jan Faktor, Angelika Overath und Jaroslav Rudiš, Peter Demetz trug einen abschließenden Essay bei.

 

Wie in der Einführung des Handbuchs postuliert, liegen Ziel und Ambition dieser Arbeit zum einen in einem umfangreichen historisierenden und kontextualisierten Überblick über die Literatur und Kulturgeschichte der Region Mitteleuropas, die Länder der Böhmischen Krone (Böhmen, Mähren und Schlesien) eingeschlossen, zum anderen in der – damit natürlich zusammenhängenden – Überwindung einer „strikten“ Aufteilung in eine so genannte Prager und eine sudetendeutsche Literatur. Theoretische Referenzrahmen sind Konzepte der Inter- und Transkulturalität und deren historische Veränderungen sowie Konzepte des Raumbegriffs.

 

Im einführenden Kapitel Literatur- und Forschungsgeschichte einer Region finden wir wertvolle Zusammenfassungen bisheriger Forschungen sowie von Begriffsdefinitionen (Kapitel Begriffe und Kategorisierungen). Schon hier verweisen die Autoren auf die Problematik der tradierten Wortverbindung der „Prager deutschen Literatur“ und insbesondere ihrer Position gegenüber der so genannten „sudetendeutschen Literatur“; diese Problematik liegt nicht nur in einer künstlichen Abgrenzung von etwas, was verschiedenartig diskursiv miteinander verknüpft wurde, sondern auch in der moralisierenden Zuschreibung von Prager, beziehungsweise urbaner Literatur als eine liberale, der die sudetische oder regionale als eine patriotische und dementsprechend zu Recht marginalisierte Literatur gegenübersteht. Eine derartige Dichotomie verdient wirklich eine grundlegende Neubewertung, deren Richtung bereits in der Einleitung provisorisch folgendermaßen formuliert wird: „Man steht also vor der Wahl: Entweder man schafft den Begriff der Region im Bezug auf die Literatur ab und spricht gleich von ‚Literatur in der Provinz‘ […] – oder man erweitert ihn zu einem der Grundlagenbegriffe einer kulturwissenschaftlich eröffneten Literaturwissenschaft. Man ist fast versucht, einen ‚regional turn‘ auszurufen. […]“ (S. 3).

 

Es folgt ein Exkurs in die Geschichtsschreibung des deutschsprachigen Schrifttums auf dem Gebiet der Böhmischen Länder (Kapitel Literaturgeschichtsschreibung), wobei sich dieses Schrifttum als Fach des literaturgeschichtlichen Narrativs erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte, also in einer Zeit bereits zugespitzter Nationalitätenkämpfe: zum Beispiel erschien Wolkans Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen bis zum Ausgang des XVI. Jahrhunderts im Jahr 1894, seine Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern sogar noch später, 1925. Ebenso wie andere Abhandlungen zur Geschichte der Germanistik in den Böhmischen Ländern (siehe gleichnamiges Kapitel) ist dieses Kapitel eine Reflexion zur Entstehung der Kategorien, mit denen im Buch gearbeitet wird.

 

Auch der theoretische Teil, der die Gültigkeit von Begriffen wie Inter- und Transkulturalität behandelt, überprüft kritisch seine Ausgangspunkte in Hinblick auf konkrete deutsch-tschechisch-jüdische Treffen und Begegnungen. Laut Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg können Begriffe wie Interkulturalität oder Hybridität nicht unreflektiert als deskriptive Modelle solcher Situationen verwendet werden. Besonders für die spezifische Interkulturalität in Prag und den Böhmischen Ländern wurden bislang noch keine entsprechenden Konzepte gefunden (S. 31). Man könnte sich fragen, worin diese inter- oder transkulturelle Situation der Böhmischen Länder denn so einzigartig ist. Die Autoren finden die Antwort – mit Hinweis auf Palacký – in der Metapher des beweglichen Horizonts, also einem dynamischen Modell „geteilter Kulturen“, das frühere Konzepte der Interkulturalität als Inszenierung oder Archiv übertrifft. Die Interkulturalität, wie sie in diesem Handbuch praktiziert wird, ist ein Projekt, das offen bleiben muss, das sich eine möglichst genaue Beschreibung interkultureller Phänomene zum Ziel setzt, sie jedoch nicht in ein theoretisches Korsett zwängen will. Auch wenn sich, wie die Autoren selbst bemerken, mit diesen Vorbehalten eine theoretische Äußerung nicht völlig umgehen lässt – so sollte sie doch bloß ein Anfang der Betrachtungen zur deutschsprachigen Literatur auf dem Gebiet der Böhmischen Länder sein (S. 33–35). Ähnlich wird mit Konzepten des Raums verfahren, die hier um die Polyfunktionalität Mukařovskýs und die Semiosphäre Lotmans bereichert werden (Irina Wutsdorff).

 

Den Kapiteln im Teil Allgemeiner Hintergrund kann wirklich nichts vorgeworfen werden, sie führen in sehr übersichtlicher Weise in die Problematik der Böhmischen Länder, in die jüdische Kulturgeschichte, die Geschichte der kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen sowie die Geschichte der Ästhetik auf diesem Gebiet ein. Jedoch es fehlt eine Geschichte des deutschen Theaters auf böhmischem Gebiet – auf das Theater, dessen Rolle sowohl für die tschechischen Anhänger der nationalen Wiedergeburt als auch für die deutschsprachige Bevölkerung schlichtweg bestimmend war, hätte man im Unterkapitel Institutionen aufmerksam machen sollen. Besonders nach Erscheinen der grundlegende Studie Až k hořkému konci. Pražské německé divadlo 18451945 (Bis zum bitteren Ende. Das Prager deutsche Theater 1845–1945) von Jitka Ludvová 2012 ist ein solches Versäumnis schwer zu verstehen.

 

Es folgt ein Überblick über die literaturgeschichtlichen Epochen von der Aufklärung bis hin zur Moderne und zum unheilvollen zwanzigsten Jahrhundert: Von der ersten Tschechoslowakischen Republik über Exil, Protektorat, Theresienstädter Literatur bis hin zum „Nachklang“, der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die Autoren wie F. C. Weißkopf oder Louis Fürnberg in Böhmen erlebten oder wohin sie danach – meist nur für kurze Zeit – zurückkehrten. Hugo Sonnenschein starb, nachdem er der Kollaboration für schuldig erklärt worden war, im Gefängnis von Mírov, Paul Leppin, Paul Adler, Erwin Ott, Karl Heinz Strobl und Hans Watzlik verschieden zum Kriegsende oder kurz danach. Franz Werfel, Johannes Urzidil und Max Brod kehrten aus dem Exil nicht mehr zurück. Ernst Feigl und Vlastimil Artur Polák, beide Holocaustüberlebende, blieben zwar im Lande, durften nach 1968 jedoch nicht mehr publizieren, genauso wie die 1948 aus dem Exil zurückgekommene Lenka Reinerová. Nach diesem tiefen Bruch folgten Emigrationswellen und Autoren, die man als „Sprachwechsler“ bezeichnen kann: Ota Filip, Jiří Gruša, Libuše Moníková oder Jan Faktor, wobei durch die historische „Polyphonie“ des tschechischen Umfelds der Übergang zur anderen literarischen Sprache sicher leichter fiel (S. 352). Die Periodisierung der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts reflektiert die regionale Perspektive eines schon überwiegend tschechischsprachigen kulturellen Umfelds. Das Werk Franz Kafkas als Autor von Weltrang, der paradoxerweise schicksalhaft mit einem Ort, und zwar Prag, verbunden war, sträubt sich dennoch gegen einen offenen und historisch dynamischen Begriff eines interkulturellen Austauschs; gerade seine Position als klar „überregionaler“ Schriftsteller destabilisiert in gewisser Weise dieses feine und komplizierte Netz gegenseitiger Beziehungen und kultureller Praktiken einer Region (vgl. Doris Medick-Bachmann und ihr Begriff der Interkulturalität als „Vernetzung“). Ob und inwiefern man ihn zu den regionalen Autoren zählen kann, bleibt eine Frage, obgleich Kafka eindeutig in dieses Umfeld gehört. Das Kapitel mit dem bezeichnenden Titel Prager Kreise beschäftigt sich zum einen mit Brods Metapher der Kreise, der engeren und der weiteren, wobei jener der engsten Freundschaften – zu dem außer Kafka und seiner selbst auch Felix Weltsch und Oskar Baum gehörten –, auch genannt „das vierblättrige Kleeblatt“, in seiner berühmten Biografie das Epizentrum des Prager Geschehens bildete. Die Kreismetapher ist auch für spätere Konzepte des Prager Raums ein geeignetes Bild – sei es Eisners Begriff des „Dreifachen Ghettos“ oder später, auf den Liblitzer Konferenzen, auf denen Eduard Goldstücker, Nachfolger der Prager literarischen Tradition, sehr feste zeitliche, örtliche, aber auch ideologische Grenzen absteckte (S. 195). Diese Konzepte formten den Begriff der so genannten Prager deutschen Literatur über Jahrzehnte, und deshalb wäre es auch verdienstvoll, auf ihre Gültigkeit oder zumindest ihre Berechtigung zu einem bestimmten historischen Moment hinzuweisen. Die Tatsache, dass sie in einer Zeit, in der nicht nur komplexere theoretische Instrumente zur Verfügung stehen, sondern auch der Zugang zu den Quellen, eine starke Forschungsgrundlage sowie eine günstige historische Konstellation unhaltbar sind, macht ihre Bedeutung nicht geringer. Zweifelt noch Scott Spector in seinen Prague Territories (2000) die Vorstellung des immerhin festen, weil umkreisten Territoriums nicht grundlegend an.

 

Eine einfache Missbilligung früherer Konzepte schmälert, so fürchte ich, die postulierte Offenheit des interkulturellen Projekts. Haben doch gerade die Bilder des mehrfachen Ghettos oder der Deleuze-Guattarischen Deterritorialisierung (im Buch ihrer Schematik wegen wiederholt abgelehnt) die Forschung in diesem Bereich eine gewisse Zeitlang beeinflusst und sind also ein Teil von ihr. Das „dreifache Ghetto“, das Eisner zum ersten Mal 1933 erwähnt, und an dem er mehr oder weniger bis in die 1950-er Jahre festhält, hat den Charakter einer autobiografischen Fiktion, man kann sie nicht aus den damaligen, und offensichtlich auch nicht aus den rein persönlichen Zusammenhängen von Eisners Leben herausreißen (vgl. Tuckerová, Translators Visibility, in: Prager Moderne/n/, 2018). Sicher lebte diese Fiktion, wie viele andere auch, ihr eigenes Leben, wurde unkritisch übernommen, und darüber hinaus ist es nicht die einzige Komplikation in der Kafka-Rezeption. Ein allzu einseitiges Theoretisieren gerade der Lebensumstände Kafkas kann aber zu tautologischen Schlussfolgerungen führen. So zeigt sich beispielsweise, dass Brod – dessen Kafka-Lesart in der heutigen Zeit als hoffnungslos veraltet wahrgenommen wird, den der scharfe Kritiker Walter Benjamin als Verdreher von Kafkas Vermächtnis wertet und deren Freundschaft er als größtes Rätsel in Kafkas Leben bezeichnet – dass dieser Max Brod trotz des subjektiven Charakters seiner Erinnerungen das alltägliche Leben recht zuverlässig beschreibt, so etwa die große Durchlässigkeit der Prager Kreise und die regen Kontakte mit dem tschechischen, aber auch mit dem grenznahen Umfeld. Das Mittelmaß Brods als Theoretiker hat wenig zu tun mit dem Aussagewert seiner Zeugnisse. Auch wenn das Handbuch an vielen Stellen Brod in dieser Hinsicht rehabilitiert, treffen die Leser anderswo auf das Bedürfnis, seine (oder auch Eisners) Behauptungen zu instrumentalisieren, um sie zu widerlegen.

 

Ein weiteres, ähnliches Beispiel ist die These von Kafkas Sympathie zu den Autoren der Heimatliteratur. Auf S. 204 erfahren wir, dass Kafka Weggenossen wie Bartsch, Conte Scapinelli, Traugott Tamm, Ginzkey – allesamt Literaten von provinziellem Rang – lobend erwähnt, was zum vorsichtigen Schluss führen könnte, dass Kafka auf seine Art ein „regionaler Autor“, im Sinne einer Region zugehörig, sei (die Überschrift des Unterkapitels lautet Franz Kafka als Autor einer Regionalliteratur). Man kann darin übereinstimmen, dass ähnliche Zeugnisse von der Mehrheit der Kafkologen vorsätzlich übersehen wurden, da sie nicht zum allgemein angenommenen Bild eines Weltautors passen. So wurde die Tatsache, dass Kafka mit Vorliebe die Zeitschrift Kunstwart, ein Organ der deutschen Heimatkunst, las, in seiner Bedeutung relativisiert (S. 203), wenn auch bei weitem nicht immer – beispielsweise widmet dem Marek Nekula genug Aufmerksamkeit. Dennoch ist es problematisch, Kafka diesen regionalen Autoren zuzurechnen, auch dann noch, wenn wir die gedankliche Grenze zwischen dem Zentrum und der Region/ Provinz verwischen wollen. Schriftsteller, wie der von Kafka „zweifach unterstrichene“ Bartsch (S. 203) sind sicher keine regionalen Größen, in dem Sinne, wie man von den Schwestern Brontë oder von James Joyce spricht. Vielmehr drückt Kafka sich hier zu einer imaginären Gemeinschaft aus – allerdings ohne selbst dazuzugehören; laut Brod äußerte er: „Der einzelne Schriftsteller ist ein Mensch, wie das Publikum Mensch ist. Das gibt einen Zusammenhang. […]“ (S. 203, Brod 1961, S. 91). Kafkas Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören und seine Unfähigkeit dazu sind bekannt, und dass diese ersehnten Gemeinschaften in seinem Werk eher den Charakter einer marginalen (oft allegorisierend tierischen) Gruppe haben, finden wir in der Fachliteratur (vgl. beispielsweise Vivian Liska: When Kafka Says We. Uncommon Communities in German-Jewish Literature, 2009). Vergleichen wir eine Briefstelle an Max Brod vom z 12.2. 1907, in der er über seinen künftigen Ruhm scherzt: „Anders aber ist es bei den Deutschen im Auslande zum Beispiel in den Ostseeprovinzen, besser noch in Amerika oder gar in den deutschen Kolonien, denn der verlassene Deutsche liest seine Zeitschrift ganz und gar. Mittelpunkte meines Ruhmes sind also Dar-es-Salâm, Udschidschi, Windhoek.“ Der einsame, seine Zeitung an exotischen Orten lesende Deutsche lebt ein Leben in der Diaspora, eine Anspielung auf Kafkas Judentum ist unübersehbar. Welche territorialen Aspekte kann man für ein solches Sein anwenden? Versäumt man mit Kafkas Lokalisierung in den Prager, bzw. regionalen Kontext etwas ganz Wesentliches?

 

Der Teil Themen und Motive beschäftigt sich vor allem mit der Xenologie, also den Fremdbildern der Tschechen, Deutschen, Juden, Prager und der Bewohner des Grenzgebiets, es folgt die Abteilung Textsorten mit einer Analyse des historischen Romans und Dramas, des Essays, der Fantastischen Literatur, von Sagen und Legenden, Texte in mittel- und nordbairischem, ostfränkischem, obersächsichem und schlesischem Dialekt mit eingeschlossen.

 

Schlusspunkt ist dann das Nachwort von Peter Demetz, Zeitzeuge, Autor und verdienter Literaturwissenschaftler, der die kulturelle Verstricktheit dieser Region elegant in Verbindung mit dem europäischen Geschehen vor Augen führt und so das Bild einer komplizierten, aber dennoch einzigartigen historischen Epoche entwickelt. Die Publikation lässt sich als bedeutender Erfolg der Germanistikforschung im internationalen Maßstab bezeichnen. Die einzelnen Beiträge sind von außergewöhnlich hoher Qualität und erfordern ein zeitaufwändiges, sorgfältiges Studium der jeweiligen Problematik. Übergriffe in die Gegenwart, Exkurse zu Fragen der Übersetzung, zum Heimatverlust und dem Schreiben in einer anderen als der eigenen Muttersprache – das alles sind aktuelle Themen, die im Kontext des Handbuchs weiterhin an Bedeutung gewinnen. Mit dem Streben nach Vollständigkeit und Übersichtlichkeit ist ein gut funktionierendes Nachschlagewerk entstanden. Paradoxerweise sind es die Konzeptualisierungen der Region, die noch Fragen aufwerfen.

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Peter Becher / Steffen Höhne / Jörg Krappmann / Manfred Weinberg (Hg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, Verlag J. B. Metzler: Stuttgart, 2017, 445 S.


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