Es schreibt: Matouš Turek

(20. 3. 2019)

Der mittelhochdeutsche Versroman Wilhelm von Wenden aus den 90er Jahren des 13. Jahrhunderts, in dem Ulrich von Etzenbach dem böhmischen König Wenzel II. und seiner Frau Guta von Habsburg huldigt, ist nur in zwei Abschriften komplett überliefert. 1876 wurde der Text anhand des damals einzig bekannten Manuskripts aus den Beständen der Hannoveraner Bibliothek von dem jungen Forscher Wendelin Toischer in Prag als Beweis für die Ursprünge deutschsprachiger Literatur in Böhmen herausgegeben. Einundachtzig Jahre später verwendete Hans-Friedrich Rosenfeld, damals Professor in Greifswald/DDR, für den das Werk Ulrichs von Etzenbach zum Lebensthema geworden war, ein anderes, in der Zwischenzeit in Dessau gefundenes Manuskript für seine kritische und bis heute in der Forschung gebräuchliche Edition. Die kürzlich erschienene Ausgabe, nun unter dem Titel Wilhalm von Wenden. Text, Übersetzung, Kommentar (Berlin / Boston: De Gruyter, 2017), ist eine sorgfältig bearbeitete und erstmals nicht ausschließlich ans Fachpublikum gerichtete Edition, vorgelegt von Mathias Herweg, der sich mit Etzelbachs Text schon früher beschäftigte, zum Beispiel in seiner Habilitation Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300 (Wiesbaden: Reichert, 2010).

 

Ulrich von Etzenbach, Dichter am Hofe des böhmischen Königs Přemysl Ottokar II. und später auch seines Sohnes Wenzel II., erzählt die melodramatische Geschichte des slawischen Heidenkönigs Wilhelm und seiner Frau Bene. Der verwaiste Wilhelm besteigt mit zwölf Jahren den Thron und nimmt die gleichaltrige Bene zu Frau. Mit achtzehn unternimmt er in Verkleidung eine Pilgerfahrt zu Christus, während der er sich heimlich von seiner Frau trennt und die frisch geborenen Zwillingssöhne verkauft, um alleine nach Jerusalem zu gelangen. Dort lässt er sich taufen und beteiligt sich am Kampf gegen die Sarazenen. Auch Bene und die Zwillinge erleben wundersame Peripetien an unterschiedlichen Orten der Welt, bis die drei Handlungslinien wieder zusammenfließen und in einem guten Ende münden: Die Familie kommt wieder zusammen und kehrt zurück in die Heimat, um dort nicht nur die Herrschaft zu übernehmen, sondern auch den richtigen Glauben zu verbreiten.

 

Herwegs Studienausgabe, die gleichzeitig auch in elektronischer Form erschienen ist, beinhaltet alles, was zu einer guten Edition dazugehört: eine Spiegelübersetzung ins Neuhochdeutsche, einen kritischen Textkommentar, erklärende Fußnoten, einen kurzen literaturhistorischen Kommentar sowie eine umfangreiche und sehr gründliche Bibliografie. So ist sie zur endgültigen Edition des einundzwanzigsten Jahrhunderts geworden – was ausnahmslos zu begrüßen ist. Bis dato war vor allem Toischers Edition zugänglich, deren Copyright längst abgelaufen war und die selbst recht veraltet ist. Die jüngere, vollständigere und zuverlässigere Ausgabe von Rosenfeld von 1957 ist in tschechischen Bibliotheken beispielsweise nur sporadisch zu finden – bei einer Ausgabe musste ich neulich die noch zusammengefalteten Seiten auseinanderschneiden.

 

Von allen praktischen Errungenschaften der neuen Ausgabe ist vor allem die inhaltlich genaue, jedoch formal freie Spiegelübersetzung hervorzuheben, die für alle interessierten LaienleserInnen eine große Leseerleichterung bedeutet. Aus tschechischer Perspektive eröffnet die Ausgabe gar die Möglichkeit, sich dem ursprünglichen Roman von zwei Seiten zu nähern – denn dank der tschechischen Spezialistin für den Hof der späteren Přemysliden, Dana Dvořáčková-Malá, gibt es seit Kurzem auch eine tschechische Übertragung des Romans (Oldřich z Etzenbachu: Vilém ze země Slovanů. Praha: Argo, 2015 – die Entscheidung, auch die Namen des Autors und des Titels zu tschechisieren, sollte die Identifikation des Werkes nicht erschweren). Die tschechische Übertragung kann zwar mit der deutschen weder im Umfang noch in der Autorität der Paratexte konkurrieren – sie rezipiert zum Beispiel in der Bibliografie die deutschsprachige literaturhistorische Forschung nur am Rande und die meisten Fußnoten wurden direkt aus der Rosenfeld’schen Edition übernommen. Die tschechische Ausgabe verfügt allerdings über ein Namensregister und gibt zwar in verdichteter Form, jedoch vollständig den Handlungsinhalt wieder, verfügt also über zwei Kapitel, die in der deutschen kritischen Edition mit mehr als achttausend Versen und den verworrenen Erzählsträngen spürbar fehlen.

 

Im Unterschied zu seinen Vorgängern konnte Herweg auf kein noch unbearbeitetes Manuskript zurückgreifen (überliefert wurde nur das Fragment einiger weniger Verse aus Frankfurt am Main), und deswegen nimmt er die Rosenfeld’schen Ausgabe als Grundlage, die er aktualisiert und mit den erhaltenen Manuskripten vergleicht. Nach Herwegs Erkenntnissen hat Rosenfeld, wie es zu seiner Zeit üblich war, die Sprache stark normiert und nivelliert, jedoch ohne es immer zuzugeben. Wo er eine ungewöhnliche Form – sei es ein dialektaler Einfluss oder ein Fehler des Schreibers – korrigieren wollte, dafür jedoch im Hilfsmanuskript keine, in seinen Augen, richtige Lesart finden konnte, hat er einfach systematisiert. So basiert die neue kritische Ausgabe, um die Kontinuität zu wahren, etwas unkonventionell auf dem Text der älteren Ausgabe, der im Textkommentar durch Varianten und Korrekturen anhand der Manuskripte ergänzt wird.

 

Literarische Parallelen, die bei vorherigen Editionen im Vordergrund standen und die auch Herweg übersichtlich und mit Berücksichtigung der aktuellen Forschung aufzeigt, verdeutlichen, wie Etzenbach von einigen etablierten epischen Traditionen inspiriert wurde. Die Grundform der wilden Geschichte speist sich aus dem „wilhemischen“ Stoff, bekannt aus der französischen Ausgabe von Guillaume d’Angleterre und aus seinen späteren deutschen Adaptionen. Außerdem weist der Text auch deutliche Legendenmerkmale auf, neutestamentliche theologische Inspirationen sowie Hinweise auf Wolfram von Eschenbach oder Hartmann von Aue. Auf der allgemeinen literaturhistorischen Ebene stellt Wilhalm ein interessantes Beispiel intertextueller Verflochtenheit dar, charakteristisch für spätmittelalterliche Romane quer durch alle Sprachen, die sich einer modernen Genredifferenzierung und Einordnung in traditionelle Kategorien widersetzen.

 

Will man sich auf konkrete böhmische Zusammenhänge konzentrieren, kann man mit Sicherheit nur behaupten, dass es sich um einen sog. Schlüsselroman handelt, in dem das Herrscherpaar Wilhelm und Bene auf Wenzel und Guta verweisen. Für die Geschichtswissenschaft wie auch für die regionale mediävistische Germanistik in Böhmen, durch die der Roman in den akademischen Kontext eingeführt wurde, waren von Anfang an neben den literarischen Quellen vor allem eben der lokale Entstehungskontext und die erste Lesart relevant: der enge inhaltliche Bezug zu der herrschenden Dynastie und den Böhmischen Ländern. In der besonderen Geschichte der böhmischen mittelhochdeutschen Literatur, die Troischer gemeinsam mit anderen deutschböhmischen bzw. in Böhmen wirkenden Germanisten zu etablieren versuchte, ist dem Roman Wilhelm von Wenden eine sehr besondere Rolle zugefallen: Er erschien als der allererste Band in der Reihe Bibliothek der mittelhochdeutschen Literatur in Böhmen, die vom Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen herausgegeben wurde.

 

Ulrich von Etzenbach ist ebenfalls Autor eines Alexanderromans namens Alexandreis, eines Werks mit viel größerer Resonanz als die dubiose Allegorie der böhmischen Königsfamilie. Mit seiner Alexandreis, die Toischer zwölf Jahre nach dem Wilhelm in dem doch etwas weltgewandteren Tübingen herausbrachte, überschritt Etzenbach ganz offensichtlich die regionalen Zusammenhänge und verband lokale Themen mit einem allgemein bekannten Stoff. Deswegen konnte er – gemeinsam mit seinem Zeitgenossen Heinrich von Freiberg, der das Tristan-Epos von Gottfried von Straßburg vollendete – zu einem Landesvertreter im großen mittelhochdeutschen Literaturkanon avancieren. Erst Rosenfeld korrigierte Toischer und andere, die den Zunamen des Autors in schmeichelhafter Weise als „von Eschenbach“ verballhornten, ausgehend vom Geburtsort des kanonischen Wolfram von Eschenbach, auf dessen Verse Etzenbach oft Bezug nahm.

 

Doch auch Wilhalm überschritt die Grenzen der böhmischen Länder, und zwar auch abseits von den klassischen Fragen der Intertextualität und der hochmittelalterlichen Vorlagen für die materielle Erhaltung der spätmittelalterlichen Manuskripte. Bei keinem der heute bekannten drei Exemplare gibt es eine Verbindung zum Böhmen des 13. Jahrhunderts. Das Frankfurter Fragment ist ungefähr in den 70er Jahren des 14. Jahrhunderts im Rheinland entstanden, die beiden anderen, in Gänze erhaltenen Manuskripte stammen erst aus der etwas späteren Hussitenzeit. Das Dessauer Manuskript (D) von 1422 kommt aus der Moselregion und das Hannoveraner Manuskript (H) wurde um 1435 im Elsass verfasst. Das Werk kann man also nicht nur als Darstellung der sozialen und politischen Situation im Königreich Böhmen unter Wenzel II. lesen, oder eben als Beweis der Integration literarischer Strömungen in der ersten Phase des mittelhochdeutschen Versromans, sondern auch als einzigartigen Roman über einen slawischen König, der im 14. und 15. Jahrhundert, wenn auch eingeschränkt, im deutschsprachigen Raum Verbreitung fand.

 

Übersetzung: Martina Lisa

 

 

Ulrich von Etzenbach: Wilhalm von Wenden. Text, Übersetzung, Kommentar. Hg. v.  Mathias Herweg. Berlin / Boston: De Gruyter, 2017 (De Gruyter Texte), 250 S.


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