Es schreibt: Lena Dorn

(16. 1. 2019)

„Übersetzer haben uns nicht nur ein reiches Erbe an empirischem Anschauungsmaterial vermacht, sondern auch ein gerütteltes Maß philosophischer und psychologischer Reflexion darüber, ob und wie es möglich ist, Bedeutung von Sprache zu Sprache gültig zu übertragen.“ (George Steiner: Nach Babel. Übersetzt von Monika Plessner, Frankfurt/Main, 2014, S. 128)

 

Wie Steiner andeutet, ist es kein Einzelfall, dass ein Übersetzer über die Übersetzbarkeit an sich und über die Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation durch Sprache philosophiert und schriftliche Überlegungen darüber anfertigt. Für die Sprachphilosophie und die Übersetzungswissenschaft ist das ein Glück.

 

Das Buch Příběhy básní a jejich překladů (dt. etwa: Geschichten von Gedichten und ihren Übersetzungen) von Radek Malý enthält ein solches Denken und Reflektieren und ließe sich wohl als Essayband bezeichnen, auch wenn diese Bezeichnung nicht ganz trifft. Radek Malý ist unter anderem Dichter und Übersetzer. Was er in Angriff nimmt, ist der Versuch einer Vermittlung der eigenen Erfahrung ins Allgemeine; einige Abschnitte gleichen einem Werkstattbericht. Die Theorie, die er daraus bildet, ist am Ende nicht regional begrenzt, sondern positioniert sich sprachphilosophisch. Und es gibt noch eine weitere Ebene, auf die das Buch verweist. Ohne es explizit zu machen, reflektieren viele der Texte die keineswegs gleichberechtigten Beziehungen zwischen den Sprachen in Europa (oder auf der Welt). Denn viele dieser Texte sind nur für denjenigen tschechischen Muttersprachler ein Gewinn, der selbst Deutsch versteht und eine Grundvorstellung von der deutschsprachigen Literaturgeschichte hat. Ein ähnliches Buch von einem deutschsprachigen Übersetzer aus dem Tschechischen ist undenkbar. Es müsste einführen, es könnte keinerlei Vorwissen voraussetzen. Und auf der anderen Seite hat ein Buch, das auf Tschechisch geschrieben ist, wiederum immer eine kleinere potentielle Leserschaft als ein deutschsprachiges. Und doch ist dieses Buch über das Übersetzen nicht sinnvoll ins Deutsche übersetzbar. Damit ist eine der Aporien des literarischen Übersetzens bereits implizit umrissen.

 

Das erste Kapitel bildet den theoretischen Rahmen und stellt in der Überschrift die Frage: Existiert ein unübersetzbares Gedicht (existuje nepřeložitelná báseň)? Die Antwort darauf lautet ganz am Ende des Kapitels dann, dass der Begriff Unübersetzbarkeit in Bezug auf Poesie im Allgemeinen vage und nicht zielführend ist. Gedichte wurden und werden übersetzt, jede neue Variante kann auch eine neue Interpretation liefern. Und man kommt solchen Übersetzungen näher, wenn man sich nach dem „Wie“ fragt, nicht nach dem „Ob“. Zu dieser Feststellung führt konsequenterweise ein Kapitel, in dem Malý die Geschichte der Übersetzungstheorie von Luther bis in die Gegenwart einmal rasch durchläuft und so auch einen Übergang zum linguistischen Fokus aufzeigen kann, der sich erst im 20. Jahrhundert durchsetzt. Auch deutet der Autor an, dass es kulturell verschiedene Traditionen von literarischem Übersetzen gibt – in verschiedenen Sprachen sind die Praxen verschieden. Die jeher wichtige kulturelle Rolle des Übersetzens literarischer Texte ist unbestritten, und der Autor bringt das Paradox gut auf den Punkt: Als unübersetzbar werden am Ende selten die Texte bezeichnet, die nicht übersetzt werden, sondern oftmals diejenigen, die immer wieder übersetzt werden. Die Übersetzungsreflexion handelt mithin seit Luther davon, wie Texte in jeweils zeitgemäße Sprache übertragen werden können.

 

Die dann folgenden Kapitel arbeiten mit konkreten Beispielen: Goethes berühmtes Gedicht Ueber allen Gipfeln (2. Kapitel), Auf der Straßenbahn von Gerrit Engelke (3. Kapitel), Rainer Maria Rilkes besonders häufig übersetzter Herbsttag (4. Kapitel), Arthur Rimbaud und Georg Trakl (5. Kapitel), Trakl und Vladimír Holan mit Blick auf Valenzdeformation (6. Kapitel), Paul Celan (7. Kapitel), Ost-Transport von Vlastimil Artur Polák-Avalos und die Frage nach dem Schreiben von Gedichten „nach Auschwitz“ (8. Kapitel) und schließlich Ernst Jandls ottos mops (9. Kapitel).

 

Man kann sich durch die Kapitel leiten lassen wie durch einen Workshop. Denn der rote Faden ist: Wie hat sich der Übersetzer entschieden? Welchen Schlüssel findet er für sich? Sind Gründe ersichtlich für seine Schwerpunkte? Wie interpretiert er den Text? Diese Fragen sind nicht neu, aber außergewöhnlich ist doch die Detailverliebtheit, die der Autor an den Tag legt. Er stellt im Ganzen nicht viele Gedichte vor (in den meisten Kapiteln geht es um einen Text mit meist mehreren Beispielen von Übersetzungen), sondern nimmt sich den Platz, genau zu begründen, warum er die eine oder die andere Lösung für einen spezifischen Vers für besser, treffender, witziger, richtiger hält.

 

Das Buch durchläuft mehrere Themenfelder, die zum Teil in einzelnen Kapiteln einen Schwerpunkt haben, aber auch über diese hinausgehen bzw. häufiger auftauchen. Die großen Themen sind:

 

1. Wie kann man spezifische sprachliche Möglichkeiten der einen in die spezifischen sprachlichen Möglichkeiten der anderen Sprache übersetzen? Im Falle von Goethes Gedicht hat sich der Übersetzer in einem Fall dafür entschieden, ein tschechisches Diminutiv zu verwenden („lehounký“), das im Original nicht vorhanden ist; jedoch sind Diminutive im Tschechischen viel gebräuchlicher als im Deutschen, und dem Übersetzer gelingt so eine unangestrengte Einfachheit, die im Original durch andere Mittel entsteht.

 

2. Wie geht man um mit Rhythmus, Klang, Euphonie im Verhältnis zur semantischen Treue? Der Autor beschreibt als Grundsatz für das Übersetzen von Poesie die Funktionalität – der Effekt der Übersetzung soll dem des Originals möglichst nahe sein. Im Theoriekapitel präsentiert er hierfür den Begriff der funktionellen Adäquatheit, den Christiane Nord geprägt hat und der sich auf die Skopos-Theorie nach Vermeer und Reiß stützt. Demnach steht die Funktion des Textes in seinem zweiten, nämlich dem Zielkontext, für die Entscheidungen des Übersetzers im Zentrum. Beim Übersetzen von Lauten stößt man auf das Problem, dass eine genaue Übersetzung von Wortbedeutung (und Wortassoziation) nicht in eins fällt mit dem genauen Erhalt von Laut, Tonhöhe, Rhythmus, Tempo. In vielen Fällen muss man hier eine Entscheidung treffen. In manchen Texten seien nicht nur Rhythmus und Klang, sondern auch Lautmalereien und Geräusche so zentral für die Bedeutung, dass man es in der Übersetzung berücksichtigen muss, so der Autor.

 

3. Was tun mit der Deformation von Verbvalenzen und mit Neologismen? Die Schwierigkeit des Übersetzens von Wortneuschöpfungen leuchtet unmittelbar ein, ähnlich ist es mit der Deformation, etwa der Sorte: „Frühlingsgewölke steigen über die finstere Stadt / die der Mönche edlere Zeiten schweigt“ (Trakl). An den verwendeten Beispielen wird deutlich, dass in der Übersetzung oft auf die Deformationen verzichtet wird. Das ist oft schade, aber kann bisweilen, wie der Autor ebenfalls entwickelt, eine sinnvolle Entscheidung sein, wenn eine Valenzdeformation im Original leichtfüßig, in der Übersetzung aber sperrig daherkommt. In einem solchen Fall fragen sich die Übersetzer womöglich auch, wieviel Unverständlichkeit sie dem Leser eines ihm ohnehin fremden Autoren zumuten möchten. Daran schließt sich die Frage an:

 

4. Wie berücksichtigt der Übersetzer die Rezeption und sein mögliches Publikum? Im Rahmen der funktionellen Adäquatheit (siehe oben) ist die Frage, wie der potentielle Leser wohl mit dem Text zurechtkommt, relevant. Das gilt nicht für jede Übersetzungstheorie; in Anlehnung an Benjamin (Die Aufgabe des Übersetzers) könnte die Orientierung auf ein Publikum hin auch als fraglich verstanden werden: „Dennoch könnte diejenige Übersetzung, welche vermitteln will, nichts vermitteln als die Mitteilung — also Unwesentliches. […] Wäre sie aber für den Leser bestimmt, so müsste es auch das Original sein. Besteht das Original nicht um dessentwillen, wie ließe sich dann die Übersetzung aus dieser Beziehung verstehen?“ (Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Illuminationen, Frankfurt/Main, 1977, S. 50.) Auch Malý entwickelt im fünften Kapitel genau genommen einen Begriff, der darüber hinausgeht. Hier beschreibt er den schöpferischen Einfluss, den der Rimbaud-Übersetzer Karl Klammer auf die deutschsprachige Poesie genommen hat, namentlich auf Georg Trakl, sowie die Inspirationsquelle, die die tschechischen Trakl-Übersetzungen aus der Feder von Bohuslav Reynek für die tschechische Literatur geworden sind, etwa Holan. Hier schreibt der Autor am Ende des Kapitels, dass der Übersetzer eben doch nicht nur „bloßer Vermittler“ sein muss, sondern auch „Initiator neuer interkultureller Beziehungen“ ist. (S. 67)

 

5. Gibt es eine moralische Frage des Übersetzens? Am Beispiel des deutschsprachigen Dichters Vlastimil Artur Polák-Avalos, der den Holocaust überlebt hat und Texte schrieb über Transport und Konzentrationslager, entwickelt der Autor die Problematik der Angemessenheit einer Übersetzung, wenn es um das Thema Holocaust geht und die Wirkung eines Textes bestehen bleiben soll. Auch hier muss der Übersetzer einen Schlüssel für die Übersetzung finden. Die Frage kann weiterentwickelt werden zu der von der Übersetzungsethik, mit der sich verschiedene Strömungen der Übersetzungstheorie beschäftigen. Prominent schrieb zu dieser Frage Ende des 20. Jahrhunderts z. B. Lawrence Venuti. Dieses Kapitel deutet an, dass Übersetzer bisweilen eine große Verantwortung tragen.

 

6. Was könnte experimentelles Übersetzen sein? Die Anmerkungen zu den Jandl-Übersetzungen greifen mehrere Themen aus vorhergehenden Kapiteln auf. Jandl ist sehr häufig ins Tschechische übersetzt worden, mitunter auch vertont. Der Text endet mit einem Beispiel der bekannten und staunenswerten Übersetzerin Bohumila Grögerová, die eine tschechische „e“-Version des „o“-Textes „ottos mops“ erstellte, in der auch, als wäre es ein Dialog, der „ernst“ verarbeitet wird. An den Übersetzungen derart experimenteller Gedichte bricht sich wieder die Frage des Anfangs: die nach der Übersetzbarkeit überhaupt. Hier schließt sich der Kreis, und es lohnt sich nicht, nach dem „Ob“ zu fragen. Viel interessanter ist das „Wie“.

 

So kann der Autor die Grundfragen von Übersetzungstheorien anhand seiner Praxis anschaulich machen. An mancher Stelle geht zwar die Beschreibungsleidenschaft des Autors so weit, dass die tatsächliche Poetik der Übersetzung zu sehr in den Hintergrund gerät, aber das ist wohl schlicht die andere Seite der Medaille, denn dass hier so genau beschrieben wird wie sonst fast nirgends, das ist für den Leser vor allem ein Gewinn.

 

Das relativ kleine Buch gibt eine Ahnung von vielen Gedanken und Erkenntnissen, die im Prozess des Übersetzens eine Rolle spielen und einen Weg zur Wahrheit hin versprechen, die aber im fertigen Produkt, im fertigen Text, der Version, für die sich der Übersetzer dann entscheiden muss, nicht mehr als Bewegung erkennbar, sondern gleichsam im Moment erstarrt, gefestigt, ewig erscheinen müssen. Die Suchbewegung bleibt in der Poetik der Übersetzung aufgehoben. Das bedeutet auch, dass sie in der Poetik einer Übersetzung zugänglich gemacht werden kann, wie Radek Malý zeigt.

 

 

Radek Malý: Příběhy básní a jejich překladů. Olomouc, 2014, 134 S.


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