Es schrieb: Vojtěch Jirát
(E*forum, 31. 12. 2018)Im Vergleich zu den bekannten Studien von Arnošt Kraus und Paul Eisner über „die deutsche Literatur auf dem Gebiet der ČSR bis 1848“ bzw. „die deutsche Literatur auf dem Gebiet der ČSR seit 1848“, die im siebten Teil von Československá vlastivěda von 1933 abgedruckt wurden, ist der vorliegende, ein Jahr später erschienene Text von Vojtěch Jirát – programmatisch auf die deutschsprachige Literatur in der Tschechoslowakei im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ausgerichtet – heute beinahe unbekannt. Dieser Übersichtsessay, publiziert im Handbuch Dvacáté století. Co dalo lidstvu. Výsledky práce lidstva XX. věku [Das 20. Jahrhundert. Was es der Menschheit brachte. Ergebnisse menschlicher Arbeit im XX. Jahrhundert], das u. a. die Abhandlung Základy německé literatury od přelomu století [Grundlagen der deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende] von Willy Haas ebenso wie den bekannteren Beitrag Česká literatura XX. století [Tschechische Literatur im XX. Jahrhundert] von Bedřich Václavek beinhaltet, lässt sich wohl kaum als Meisterleistung von Jirát bezeichnen, dessen germanobohemistisches Interesse sich – mit unterschiedlicher Intensität – über mehr als die Hälfte seines kurzen (1902–1945), jedoch auch enorm intensiven, pädagogisch und wissenschaftlich fruchtbaren Lebens erstreckte. Trotzdem gehört der vorliegende Text zu den weiteren unübersehbaren Leistungen der tschechischen Germanistik der Zwischenkriegszeit, die es sich – mit unterschiedlicher Motivation (primär war diese allerdings „aktivistisch“, d. h. auf die Vermittlung zwischen der deutschen und tschechischen Kultur als kulturpolitische Aufgabe ausgerichtet) – zum Ziel setzte, der breiteren tschechischen (sowie slowakischen) Öffentlichkeit die literarischen und kulturellen Aktivitäten der deutschsprachigen MitbürgerInnen näherzubringen. Neben der Kulturpublizistik, der Übersetzungsproduktion, der Tätigkeit an allen drei tschechischen Universitäten des neuen Staates dienten auch staatlich subventionierte oder öffentlich propagierte Enzyklopädien, Konversationslexika (zu der Zeit waren wenigstens drei am Erscheinen), Lehr- und Lesebücher, Anthologien sowie Adressbücher oder diverse „Bücher der Repräsentanten aller Gebiete des öffentlichen Lebens in der Tschechoslowakei“ der Werbung für die erwünschte Sicht auf die kulturelle Zusammenarbeit. Solche Publikationen schufen einen gewissen Wertekanon der Persönlichkeiten, deren Werk Aufmerksamkeit verdient habe, und prägten erheblich die öffentliche Einstellung zum Schrifttum der national „minoritären“ Nachbargesellschaft.
Es wird wohl nicht überraschen, dass Jirát traditionell die deutschgeschriebene Literatur in die Prager Literatur und diejenige aus der „böhmischen und mährischen Provinz“ gliedert, auch wenn er fließende Übergänge einräumt und nicht alle „Provinzliteratur“ kurzerhand mit Nationalismus und Chauvinismus in Zusammenhang bringt. Das Interesse an Sauers bzw. Nadlers Literaturauffassung als einer Leistung, die in einem bestimmten geographischen Raum artikuliert und die auch von ethnischen Gegebenheiten sowie historischen Traditionen mitbestimmt wird, lässt sich in den Passagen zu Rilkes Werk verfolgen, obwohl hier Jirát als aufrichtiger Interpret gesteht, dass dieser Interpretationsschlüssel nicht der einzige ist und sein kann (vgl. etwa den Passus über Spunda oder andere Textstellen, die sich den zwar in Böhmen oder Mähren gebürtigen, jedoch andernorts wirkenden Autoren widmen).
Eines wird allerdings ganz deutlich: Jirát war (zweifellos aufrichtig) von der Auffassung der Hauptaufgabe eines Dichters und Übersetzers als Vermittler „ausschließlich positiver“ Werte „an die anderen“ zutiefst überzeugt und widmete den Vermittlern unter den Literaten einen beträchtlichen Teil seines Essays (insbesondere den Übersetzern, mit der ehrenvollen Erwähnung einer Frau, A. Auředníčková, unter ihnen); er behauptet von ihnen etwas apodiktisch, dass es sich „hierbei um eine Einzigartigkeit deutschböhmischer bzw.-mährischer Dichter“ handle, notabene der „meist aus Prag gebürtigen Autoren“. Auf der tschechischen Seite ließe sich Jirát selbst als ein solcher Vermittler begreifen.
Václav Petrbok
Vojtěch Jirát: Das Schrifttum tschechoslowakischer Deutscher
Die deutsche Literatur in Böhmen und Mähren erlebte ihre große Zeit um 1400, als hier das bedeutendste Werk der deutschen Frührenaissance, Der Ackermann aus Böhmen, entstand, ein gewaltiges Prosagedicht, das angesichts seiner historischen Bedeutung sowie seines poetischen Wertes lange keinen gleichrangigen Nachfolger fand; die Reformationszeit konnte nur durch Quantität, nicht durch Qualität konkurrieren (abgesehen von den Predigten des Joachimsthaler Lutherschülers Mathesius, der der deutschböhmischen Literatur eigentlich nicht zuzuordnen ist), in den folgenden Jahrhunderten folgte ein Niedergang, von dem weder das Verweilen führender deutscher Romantiker in unseren Ländern noch die Neigung zur Stammeseigenart die deutsche Literatur in Böhmen und Mähren zu retten vermochte. Der von Goethe freundlich lobend erwähnte Ebert gab nur einen leidlichen Durchschnitt ab, der Rest lag darunter, die hervorragende Persönlichkeit Stifters gehört viel eher dem österreichischen Schrifttum als dem deutschböhmischen im engeren Sinne. Meissner und Hartmann verdankten ihre Popularität, die allerdings bei den Tschechen größer war als bei den Deutschen, ihren Stoffen und dem jungtschechischen Elan, weniger ihrer Kunst. Erst gegen Ende des Jahrhunderts ist eine Wendung zu verzeichnen. Bis dahin besaß das deutsche Schrifttum in den Ländern der Böhmischen Krone manchen Zug provinzieller Rückständigkeit, nun wandten sich die jungen Dichter den in den Zentren Berlin und Wien vorherrschenden Richtungen und Moden zu. In diese Metropolen siedelten sie auch oft um. Deshalb durchläuft diese Literatur in den letzten 50 Jahren dieselbe Entwicklungsstadien wie die Literatur anderer deutschen Stämme: den Naturalismus, die Dekadenz und Neuromantik, in den 1920er Jahren dann den Expressionismus und unlängst sodann die Rückkehr zur Wirklichkeit, bekannt als „Neue Sachlichkeit“. Hand in Hand mit dieser kulturellen Assimilation geht jedoch eine gegensätzliche Strömung: Junge Dichter nach 1890 suchen Kontakte mit der tschechischen Moderne, die Zeitschrift Moderní revue bringt ihre poetischen sowie kritischen Beiträge heraus, man beginnt den Kulturaustausch bewusst zu pflegen, vor allem auf dem Wege der Übersetzung. Friedrich Adler, der treu ergebene Übersetzer von Jaroslav Vrchlický, hatte hier eine Vorreiterrolle inne. In ihrem eigenen Werk kommt es bei diesen Dichtern zur Erweiterung um tschechische Motive und Stoffe, die ohne nationale Inanspruchnahme, jedoch im Wissen um die eigene Andersartigkeit behandelt werden. Der junge R. M. Rilke, Sohn einer Beamtenfamilie in Prag und Nachkömmling eines alten Bauerngeschlechts aus der Aussiger Gegend, bearbeitet Prager und tschechische Motive in seinem Erstlingswerk Larenopfer (1896), der tschechischen Gegenwart wendet er sich auch in seiner Frühprosa (Zwei Prager Geschichten 1899) zu. Die Prager deutsche Literatur um 1900 und in späteren Jahren unterscheidet sich von dem gegenwärtigen deutschen Schrifttum nicht nur, was den Stoff anbelangt; in einer neuen Umgebung vermögen auch die assimilierten Dichter nicht (umso weniger die in Prag ansässigen Dichter) ihre Abstammung zu verleugnen. Drei Momente bilden die abweichende Dichterphysiognomie der Prager deutschen Literatur: Die tschechische Umgebung führt ihnen Probleme vor, die in einer solchen Intensität anderen Autoren unbekannt sind, und greift häufig auch in ihr intimes Leben ein (den Einfluss der steinernen Vergangenheit sowie der volkstümlichen Prager Gegenwart und die Vorliebe für tschechische Musik mit eingeschlossen), mit der österreichischen Gesellschaft und Kultur hängen ferner ihre melancholische Raffinesse und die elegante Genusssucht überalter Zeitalter zusammen, sie lassen somit die tiefsten Geheimnisse des deutschen Wortes sowie der dichterischen Gestalt zutage treten; die jüdische Rasse, der die meisten dieser Dichter angehören, bestimmt ihre Lebenseinstellung, die sich durch einen scharfen, analytisch geschulten Intellekt sowie durch eine heftige Reaktivität auf äußere Impulse kennzeichnet. Auf diese Einflüsse ist nicht nur der „Prager Expressionismus“ Werfels, Brods, Picks, Fuchs‘ zurückzuführen, der anfangs – eine Reaktion auf das der Sinnlichkeit abgeneigte Ghetto – das Recht auf Naturhaftigkeit und moderne Zivilisation betonte, später die Vormacht des Geistes über animalische Triebe, den Hass auf Krieg und das Mitleid mit den Leidenden verkündete und somit durch eine Abschweifung wieder zum Judentum, jedoch auch zum melancholisch ungeheuerlichen Prag in den Romanen von P. Leppin und zur Dämonie eines V. Hadwigers, eines Vorgängers der expressionistischen Strömung, zurückfand; es entstanden nicht nur die kristallklare und kühle Prosa von F. Kafka, die auf eine übermenschliche und überlebensgroße Vollkommenheit hinarbeitet, sondern auch das Phänomen des rasenden Reporters von E. E. Kisch, der alle Erscheinungen der Gegenwart begierig aufnimmt und darstellt. Diese Bedingungen wirken auf das Schrifttum der auf dem Land lebenden Deutschen jedoch nicht ein, daher unterscheidet sich die Prager deutsche Literatur in manchem von der Literatur der böhmischen und mährischen Provinz, die – dem Bauerntum und ländlichen Motiven getreu – eine Parallele zur reichsdeutschen Heimatkunst bildet. Diese Literatur thematisiert gerne nationale Reibereien in gemischten Gebieten, meistens ist sie jedoch voreingenommen, so dass die Schilderung der anderen Seite der Realität nicht gerecht wird. Durch einen solchen aggressiven Nationalismus zeichnen sich etwa Texte von H. Watzlik aus, eines Autors wertvoller Erzählungen über das Leben der Gebirgler des Böhmerwälds. Nur der tiefsinnige, mit dem Isergebirge verbundene Autor G. Leutelt bleibt solchen Tendenzen fern.
Die Übergänge zwischen den beiden oben genannten Gruppen sind jedoch fließend. Die Deutschen vom Lande kommen nach Prag zur Universität, nehmen an dem lebhaften Studentenleben sowie an den nationalen Reibereien teil und halten ihre Erlebnisse in ihren Romanen fest; K. H. Strobl und R. Hohlbaum thematisieren das Liebesverhältnis zwischen einem deutschen Studenten und einem tschechischen Mädchen, das allerdings durch ein tschechenfeindliches Prisma gesehen wird. Genauso bildet Rilke einen Übergang: die träumerische Melancholie seiner ersten Gedichtsammlung und seiner ersten Prosatexte erwächst dem bürgerlichen Milieu Prags; die stille Frömmigkeit seines „Stunden-Buches“ und die Todesliebhaberei in der letzten Sammlung „Duineser Elegien“ bringen jedoch eine Stimme desselben Landes, das vor einem halben Jahrtausend den Ackermann aus Böhmen, das Gespräch eines leidtragenden Menschen mit dem Tod, hervorgebracht hat. (Die genealogisch bestätigte Verbindung zum nordböhmischen Adel ist in Rilkes Werk viel deutlicher als die Beziehungen zum Kärtner Adel, von dem die Familie ihre Abstammung hat ableiten wollen.) Etwas später erscheint ein anderer Dichter mit religiös-mystischer Neigung in Nordböhmen, E. Gv. Kolbenheyer, dessen Texte Mystiker und Wahrheitssucher wie etwa Bruno, Paracelsus, J. Böhme und Spinoza zu Hauptfiguren haben.
Auch die mährischen Dichter weisen einige Alleinstellungsmerkmale auf. Sie neigten von jeher eher in Richtung Wien, viel weniger in Richtung Prag; die beiden größten Dichter der älteren Generation, Fr. v. Saar und J. J. David, lebten in Wien, dort fasste ebenso Rilkes Zeitgenosse, R. v. Schaukal, Fuß, einer der bedeutendsten deutschen Neuromantiker. Ein Zeitgenosse zu sein, kann hier jedoch auch einen völligen Gegensatz bedeuten: Während der Prager Rilke, von Deutschen immer mehr als undeutsch, slawisch betrachtet, sein ganzes Leben lang zwischen dem Westen und Osten schwankte, zwischen der russischen leidenden Frömmigkeit und der französischen Liebe zur plastischen Form, sich allerdings vielmehr dem Osten zuwandte, kennt der aus Brünn gebürtige Schaukal diese Alternativen nicht. Ein Zögling romanischer Kulturen und ein Verehrer aristokratischer Konventionen bis zur letzten Äußerlichkeit und Zufälligkeit, ließ er sich seine Abstammung vom deutsch-slawischen Grenzgebiet niemals anmerken und naturalisierte sich restlos in Wien. Deutlich unterscheidet sich der mährische Expressionismus vom Prager Expressionismus, so hören wir zwar aus dem Werk L. Winders die Musik „der jüdischen Orgel“, die den Prager Autoren nicht unbekannt sein mag, und die Romane von E. Weiss und H. Ungar ähneln stilistisch und motivisch den Texten der Prager Zeitgenossen. Ihr Blickfeld ist jedoch deutlich getrübter, ihre Analysen zeigen den Einfluss der psychologischen Kunst Dostojewskis, ihre Kunst strahlt, trotz aller Verzweiflung, mehr Energie aus. Auch die nachexpressionistische Generation in Mähren fand einen herausragenden und originellen Vertreter, nämlich B. Brehm, Autor von Romanen über den österreichisch-serbischen, zum Ersten Weltkrieg führenden Konflikt.
Wir finden auch einige Persönlichkeiten, die sich bestimmten Strömungen nicht zuordnen lassen, manche von ihnen werden zu Unrecht unter der deutschböhmischen Literatur subsumiert. Zu den ersteren gehört der Wiener Kritiker und Journalist Karl Kraus, ein unbarmherziger Feind der politischen Floskel und der unaufrichtigen Kunst, ein Dichter der Apokalypse, der den Ersten Weltkrieg in Form eines gewaltigen Theaterstückes darstellte, ein Freund und späterer Feind Werfels, ein Freund und Förderer von des begabten, aus Podiebrad stammenden Lyrikers F. Janowitz, dessen Entwicklung sein Tod im Krieg unmöglich machte.
Ebenso schwer lässt sich auch der Lyriker und Dramatiker Leo Greiner einer bestimmten Strömung zuordnen; zwar ein Neuromantiker, tragen seine Bühnenstücke viele neuklassische Merkmale. Ferner ist der aus Olmütz gebürtige F. Spunda zu nennen, Autor mystischer und magischer Romanen, Verehrer des nichtklassischen Griechenlands. In der Tat zählen Phantastik und wunderliche Groteske zu den bedeutendsten Erscheinungen der deutschböhmischen bzw. -mährischen Literatur: Neben dem nur teilweise phantastischen Leppin seien Leo Perutz, der Graphiker A. Kubin und der zeitweilige Prager G. Meyrink erwähnt, der in seinem „Golem“ und der „Walpurgisnacht“ zwei Meisterwerke des phantastischen Romans geschaffen hat.
Zu Unrecht werden der deutschböhmischen bzw. -mährischen Literatur auch einige Dichter zugeordnet, deren Werk keine speziellen „tschechisch-deutschen“ Merkmale aufweist: wie etwa das Werk der naturalisierten Wiener E. Hadina und F. K. Ginzkey. Dahingegen müssen in der vorliegenden Darstellung einige Übersetzer erwähnt werden. Zwischen der deutschen und der tschechischen Kultur zu vermitteln, bot sich den meist aus Prag gebürtigen Autoren von selbst an, das Interesse und persönliche Kontakte taten das Restliche, und so erscheinen bereits vor dem Krieg und in seinem Verlauf Übersetzungen, Studien und Adaptionen tschechischer Werke: Bis heute handelt es sich hierbei um eine Einzigartigkeit deutschböhmischer bzw. -mährischer Dichter. Werfel verhalf durch seine Popularität Otokar Březina zu Anerkennung, auch O. Pick und E. Saudek übersetzen Březina, R. Fuchs wagt es, während des Krieges deutsche Übersetzungen von Bezruč herauszugeben, nach dem Krieg gibt Fuchs eine Anthologie der tschechischen Literatur heraus. Dasselbe tat der vielseitige Vermittler slawischer Werke und Übersetzer deutscher Lyrik ins Tschechische P. Eisner. Eine Anthologie tschechischer Prosa gab Anna Auředníčková heraus. M. Brod verhalf durch seine Studien und Übersetzungen den Opern L. Janáčeks zu Weltruhm und rettete durch Umarbeitung auch Weinbergers sowie Křičkas Opern vor dem Vergessen. Allmählich erscheinen auch selbständige Übersetzungen älterer tschechischer Lyrik, E. Neumann übersetzt „Písně otroka“ [„Lieder eines Sklaven“] von S. Čech; nach Adlers Übersetzungen wird Vrchlický neu übersetzt u.v.m. Auf diesem Gebiet zeigt sich die Zusammengehörigkeit unserer Deutschen mit dem tschechischen Land besonders deutlich und sympathisch.
(Dvacáté století. Co dalo lidstvu. Výsledky práce lidstva XX. věku. Díl VII. Z duševní dílny lidstva. Praha: V. Orel, nakladatelství a knihkupectví společnost s r. o. [1934], S. 123–126.)