Es schreibt: Agnes Kim

(E*forum, 5. 12. 2018)

Deutschlernen „von unten“ – der Titel der kollektiven Monographie von Bettina Morcinek, Veronika Opletalová, Helmut Glück und Karsten Rinas (Wiesbaden: Harrassowitz, 2016) verweist auf ein zentrales Forschungsdesiderat der aktuellen historischen Soziolinguistik: das Schreiben einer alternativen Sprachgeschichte, einer „Sprachgeschichte von unten“ (vgl. etwa die gleichnamige Monographie von Stephan Elspaß: Berlin / New York: De Gruyter, 2005), die Genres und Produzentinnen bzw. Produzenten entsprechender Texte berücksichtigt, die bisher nicht im Zentrum der dominanten Sprachgeschichtsschreibung standen. Letztere wird selbst Gegenstand der Forschung und auf ihre Rolle in der Konstruktion und Vermittlung sprachlicher Ideologien und Stereotype abgeklopft. Der Untertitel des hier rezensierten Buches konkretisiert seinen Untersuchungsgegenstand: Böhmakeln und Kuchldeutsch werden als „verklungene“ (S. 163), „aus der alltäglichen Kommunikation zwischen tschechischen Muttersprachlern (aus den unteren Sozialschichten) und (meist höhergestellten) Deutschen“ (S. 82) entstehende Mischvarietäten rekonstruiert und dargestellt, um einen alternativen Blick auf historische Spracherwerbs- und damit auch Sprachkontaktprozesse zu ermöglichen. Im Fokus steht dabei nicht der gesteuerte, an gezielten Unterricht geknüpfte (Standard-)Spracherwerb, sondern der ungesteuerte, aus der alltäglichen Notwendigkeit zur Kommunikation mit anderssprachigen Personen resultierende Erwerb nicht-standardsprachlicher Register.

 

In Ermangelung authentischer Quellen sichtet das Buch v. a. literarische Zeugnisse für „Böhmakeln“ und „Kuchldeutsch“, verortet sie historisch und im weiteren Sinne auch literaturgeschichtlich. Daran schließt eine beispielreiche Aufzählung sprachlicher Phänomene an, die als für die Bezugsregister typisch erachtet werden. An die rund 150-seitige, in sechs Teilkapitel gegliederte fachliche Abhandlung schließt ein Abdruck ausgewählter Quellen selben Umfangs an. Die dem Buch beiliegende CD (24 Ton- und Musikbeispiele) soll einen Eindruck vom Klang der untersuchten, primär historisch gesprochenen Register vermitteln.

 

Diese Vermittlerrolle ist dem Buch inhärent: historische sprachliche Register medial in die Gegenwart, historisch-soziolinguistische Forschung an linguistische Laien (vgl. S. 126). Für die wissenschaftliche Öffentlichkeit möchte das Werk, wie mehrfach betont, „nur erste Ansätze“ für eine auf ihm aufbauende, systematische Analyse (vgl. z. B. S. 79) bieten. Seinen Vermittlungsansprüchen wird das Buch nur teilweise gerecht: Für ein nicht-linguistisches Fachpublikum verständliche Sprache wird zwar in den speziell linguistischen Kapiteln, z. B. bei der Beschreibung der Ausgangssprachen Tschechisch und Slowakisch (Kapitel 1) angestrebt, allerdings nicht konsequent verwirklicht. Durch das gesamte Buch ziehen sich außerdem Inkongruenzen und Redundanzen, die sich z. B. oberflächlich in den angewandten Zitierrichtlinien äußern, aber auch strukturell besonders das den Quellen gewidmete Kapitel 5 prägen, das sich streckenweise wie ein Projektbericht für den internen Gebrauch liest.

 

Der Quellensammlung gelingt es, schwer zugängliche Texte und Tonaufnahmen zusammenzustellen, doch wird aus linguistischer Sicht nicht ausreichend auf die Ausgewogenheit des Korpus geachtet. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist hingegen besonders augenfällig, dass das Buch keine adäquaten theoretischen oder zumindest terminologischen Mittel findet, um der literarischen Vermittlung der untersuchten Register gerecht zu werden. Zwar wird erarbeitet, dass es sich beim „Böhmakeln“, wie es in Textgestalt überliefert ist, um ein Bühnenregister handelt, woraufhin auch seine literarischen Funktionen angesprochen werden (vgl. S. 49ff. für das Wiener Volksstück sowie S. 115ff. für die tschechische Literatur), eine konsequente Unterscheidung zwischen „literarischem“ und „realem Böhmakeln“, wie sie dabei kurz anklingt, wird jedoch nicht getroffen. Auch wird die immer wieder aufgeworfene Frage nach dem „realen“ Kern der literarischen Repräsentation nicht im Detail adressiert. Wie als Rechtfertigung dessen wirkt die der eher literaturhistorisch ausgerichteten Beschreibung verschiedener Quellentypen vorangestellte Bemerkung, die Studie sei sprach- und kulturhistorischen, nicht aber literaturwissenschaftlichen Charakters.

 

Trotz der Intention, Forschungsdesiderata für tiefergehende Analysen zu eröffnen, formuliert das Buch eventuelle anschließende Forschungsfragen nicht explizit. Diese werden durch Leerstellen und eben Inkongruenzen offenbar. Es bleibt unklar, inwieweit die Zusammenstellung der für das „Böhmakeln“ charakteristischen sprachlichen Phänomene (Kapitel 6) korpusbasiert erfolgte. In den Kommentaren zu Einzelphänomenen wird immer wieder auf ältere Beschreibungen rekurriert, teilweise auch in solchen Fällen, in denen sich die Phänomene nicht in den Textquellen belegen lassen. Unter diesen Referenzwerken befinden sich auch solche nicht-wissenschaftlichen Charakters von zeitgenössischen Prager Journalisten wie etwa Heinrich Teweles (1856–1927) oder Egon Erwin Kisch (1885–1948). Gerade letzterem kommt wiederholt autoritative Funktion zu, beispielsweise in der Beurteilung der „Richtigkeit“ literarischer Repräsentation(en) des „Böhmakelns“ (vgl. S. 88).

 

Die Verfasserinnen und Verfasser sind sich bewusst, dass das Schreiben einer „Grammatik dieser Mischsprache“ in Anbetracht der Quellenlage und der primär literarischen Zugänglichkeit „vermessen“ wäre (vgl. S. 13). Gleichzeitig zeigt diese Formulierung jedoch, dass sie es prinzipiell für methodisch zulässig erachten, für Lernersprachen (Mischvarietäten mit geringem Festigungsgrad) eine homogene Grammatik erarbeiten zu können. Als für das „Böhmakeln“ charakteristisch werden sprachliche Phänomene primär über ihre Abweichungen von einer zielsprachlichen Norm definiert. Das rezensierte Buch analysiert literarische Imitationen von „Böhmakeln“ und „Kuchldeutsch“ mit klassischen Methoden der kontrastiven Linguistik strukturvergleichend anhand dreier, als homogen und distinkt angenommener Vergleichsvarietäten des „normgerechten, ‚guten‘ Deutsch“, des „österreichischen Deutsch“ und des „Wienerischen“ (S. 123). Standardsprachliches Tschechisch bildet die Ausgangssprache bzw. Erstsprache der Lernenden, um Interferenzen zu identifizieren. Primär sucht das angewandte kontrastiv-linguistische Verfahren in der Quellensammlung nach Abweichungen vom aktuellen bundesdeutschen Standard, um sekundär zu überprüfen, ob ein Phänomen im Standard oder gesprochenen und dialektalen Registern des Deutschen in Österreich bzw. Wien akzeptabel ist. Letztere werden dabei auf Grund des angenommenen Erwerbskontexts des Deutschen durch die tschechischsprachigen Lernerinnen und Lerner besonders berücksichtigt. Die diachrone Dimension wird hingegen völlig außer Acht gelassen, historische Imitationen eines zeitgenössischen Lernerregisters somit paradoxerweise mit rezenten Varietäten kontrastiert.

 

Durch die gesamte Monographie zieht sich eine relativ starre Konstruktion von (National-)Sprachen und ihren Varietäten als distinkte, eindeutig abgrenzbare und benennbare Entitäten, exemplarisch verdeutlicht an der Aussage, dass schwer zu bestimmen sei, „seit wann […] das Slovakische als eigenständige, identifzierbare westslavische Sprache gebraucht wurde“ (S. 19). Die Umkehrung dieser Vorannahme prägt auch die Definition des Untersuchungsgegenstandes: Existieren im (semi-)wissenschaftlichen Diskurs zwei Bezeichnungen, nämlich „Böhmakeln“ und „Kuchldeutsch“ für tschechisch-deutsche Lernervarietäten, müssen diese entsprechend unterschiedliche Entitäten bezeichnen. Daher bemühen sich die Autorinnen und Autoren auf Grundlage kanonischer linguistischer Beschreibungen der sprachlichen Vielfalt des historischen Prag und Wien in Kombination mit Wörterbuchdefinitionen eine Differenzierung herauszuarbeiten und verorten basierend darauf das „Böhmakeln“ letztlich in Wien, das „Kuchldeutsch“ hingegen in Prag. In der Rezeption der zahlreichen Quellen wird jedoch übersehen, dass schon der Begründer der Kreolistik, Hugo Schuchardt, in seiner auch für das rezensierte Buch maßgeblichen Studie Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches aus dem Jahr 1884 zumindest den Begriff „Kuchldeutsch“ als „bottom-up“, also vom allgemeinen Sprachgebrauch geprägte Bezeichnung von tschechisch-deutschen Mischvarietäten entlarvt, wenn er angibt, der tschechisch-deutsch Jargon pflege entsprechend genannt zu werden (vgl. Schuchardt, S. 18).

 

Das rezensierte Buch zeichnet sich primär durch die breite ihm zugrundeliegende Literaturrecherche aus, die an manchen Stellen jedoch Tiefe und kritische Distanz Autoritäten gegenüber vermissen lässt. Dies gilt insbesondere auch für die theoretische und methodische Einbettung, weshalb es die implizit durch den Titel geweckte Erwartung einer alternativen Spracherwerbsgeschichtsschreibung nicht erfüllen kann. Das Ziel, das sich die Monographie selbst explizit setzt und das darin besteht, einen Einstieg in die Thematik zu gewährleisten und Quellen zu erschließen, erreicht es hingegen.

 

 

Bettina Morcinek / Veronika Opletalová / Helmut Glück / Karsten Rinas: Deutschlernen „von unten“: Böhmakeln und Kuchldeutsch. Wiesbaden: Harrassowitz, 2016 (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart 16), 392 S.


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