Es schreibt: Václav Maidl

(E*forum, 13. 9. 2018)

Im Jahr 2016 gab Michal Hořejší eine Auswahl aus Karel Klostermanns Erzählband V srdci šumavských hvozdů [Im Herzen des Böhmerwaldes, Grafenau, 2018] heraus, die er in Anspielung auf Klostermanns Erzählung Schovanec [Der Ziehsohn] treffend Velebnost, melancholie, hrůza [Pracht, Melancholie und Schrecken] nannte. Mit diesen Schlüsselworten umreißt Hořejší einen Eindruck von Klostermanns fiktionaler Welt, wie er der tschechischen Leserschaft seit Generationen vertraut ist. Es fragt sich jedoch, ob man aufgrund der Identifikation des Lesers mit der fiktionalen Welt aus Klostermann einen Dokumentaristen machen sollte, wie Hořejší dies in seinem Vorwort tut („Der Autor lässt mit seinen Formulierungen ähnlich wie der Erzähler mit den genannten Vorgehensweisen beim Leser den Eindruck entstehen, das vorliegende Werk sei vor allem dokumentarischen Charakters.“) Mit „den genannten Vorgehensweisen“ meint Hořejší z. B. die Verwendung von Initialen anstelle von Eigennamen oder die Verwendung unvollständiger Jahreszahlen. Dies ist allerdings weniger ein Zeichen von Faktizität, wie man sie von einem dokumentarischen Text erwarten würde. Vielmehr ist beides aus der Literatur des 19. Jahrhunderts bekannt, und zwar als Mittel der Verallgemeinerung oder bewussten Anonymisierung. Auch eine Äußerung Klostermanns über die reale Existenz der Personen, die seinen Figuren als Vorlage dienten, würde ich nicht als Argument für einen dokumentarischen Charakter der Texte auffassen, sondern eher im Kontext eines – wenn auch distanzierten – Bekenntnisses zur künstlerischen Strömung des Realismus verstehen: „Die Personen [...] haben wirklich existiert, und was ich [...] erzähle, hat sich auch zugetragen; ich habe es nur kombiniert, geordnet und zu einem Ganzen zusammengefügt; sollte darin Realismus sein, so bin ich Realist.“

 

Wenn ich darüber nachdenke, warum der Herausgeber aus Klostermann einen Dokumentaristen machen möchte (er selbst äußert sich dazu nur allgemein: „Wollen wir daher – aus welchem Grund auch immer – Klostermanns Bücher als dokumentarische Texte verstehen...“, S. 12), so fallen mir zwei mögliche Gründe ein. Den ersten sehe ich in der heutigen Unschärfe des Begriffs „dokumentarisch“ und in der Entstehung neuer Genres wie der „Doku-Fiktion“ oder dem „dokumentarischen Roman“, in denen die Faktizität in den Hintergrund tritt und stattdessen Raum für eine subjektive Darstellung nicht belegter Fakten entsteht. Der zweite Grund ist eher ein „technischer“: Erklärt man Klostermann zum Dokumentaristen, so ermöglicht dies, seine Werke an den Maßstäben „real – unreal“, „glaubwürdig – unglaubwürdig“, „existent – nicht existent“, „faktisch – ausgedacht“ zu messen (wobei diese Maßstäbe meines Erachtens exakt der Bewertung des gängigen Genres der realistischen Prosa entsprächen, sofern wir Klostermanns Schaffen in diese Schublade einordnen wollen – siehe die oben zitierte Äußerung des Autors). Die angelegten Maßstäbe fungieren dann als Instrument der Textanalyse und als Hilfsmittel bei der Enthüllung etwaiger Widersprüche gegenüber der dargestellten Realität wie auch innerhalb der Texte selbst.

 

Gerade in der detaillierten Textanalyse sehe ich Hořejšís Stärke. So schätze ich z. B. seine Beobachtungen zu den verschiedenen Arten von Urwald, die Klostermann in seinen Texten in Bezug auf den Böhmerwald schildert (genauer gesagt: in Bezug auf Podroklaní, denn, wie Hořejší richtig anmerkt, schreibt Klostermann zwar über den „Böhmerwald“, tatsächlich konzentriert er sich jedoch ausschließlich auf denjenigen Teil, den wir heute am ehesten als mittleren Böhmerwald bezeichnen würden). Ebenso schätze ich Hořejšís Verweis auf die Widersprüchlichkeit zwischen der Schilderung konkreter Orte und dem von Klostermann deklarierten Zustand des mittleren Böhmerwaldes in seiner Gesamtheit.

 

Hořejší versteht Klostermann zweifelsohne. Er versteht seine Einzigartigkeit bei der Darstellung des Verhältnisses von Mensch und Natur, einer Natur, die (vor allem Leser und Touristen) mit ihrer Schönheit und Wildheit bezaubern, aufgrund dieser Wildheit, der klimatischen Bedingungen und Wetterumschwünge jedoch (vor allem für Einheimische) auch gefährlich sein kann. Diesbezüglich wie auch in Verbindung mit Klostermann als Autor des entschwindenden ursprünglichen Böhmerwaldes böte sich vielleicht ein Vergleich mit der fiktiven Böhmerwaldwelt Josef Vacháls an, der ein Bewunderer und in gewissem Sinne auch Nachfolger Klostermanns war (Šumava umírající a romantická [Sterbender Böhmerwald, romantischer Böhmerwald]). Dies würde eigentlich nur Hořejšís Feststellungen zu Klostermanns Changieren zwischen Romantik und Realismus bestätigen (und uns Klostermanns Verlegenheit bei seiner Selbsteinordnung in eine künstlerische Strömung verständlicher machen).

 

Ebenso kann man zustimmen, wenn Hořejší das Changieren des Autors zwischen dem deutschen und dem tschechischen Sprachkontext anspricht. (Dieser Aspekt von Klostermanns Persönlichkeit wurde in den 1990er Jahren insbesondere auf bayerischer Seite entdeckt und „ausgeschöpft“, und zwar vor allem dank der unermüdlichen Übersetzungstätigkeit des aus Kašperské Hory /Bergreichenstein/ stammenden Gerold Dvorak /1928–2002/. An das erwachende Interesse bezüglich dieses Autors knüpfte auch die bayerische Sektion des Vereins Karl Klostermann – Dichter des Böhmerwaldes mit ihrer Tätigkeit an.)

 

Hořejší hat auch recht, wenn der darauf hinweist, dass dank Klostermanns Schaffen der Böhmerwald das einzige der deutsch besiedelten Grenzgebirge war, das als ein „mit der tschechischen Welt verbundenes Gebiet“ betrachtet wurde. Klostermann macht dabei kein Hehl aus dem Deutsch der dortigen Gebirgsbewohner bzw. aus deren schwer verständlichem Dialekt. Die sprachliche Realität bleibt jedoch im Hintergrund und im Text selbst finden sich nur kleinere Bemerkungen zum Dialekt u. Ä. (so z. B. der Name der Hauptfigur, Steinzen-Agnes, in der Erzählung Červené srdce [Das rote Herz], wobei der Erzähler entscheidet: „Wir wollen sie nach tschechischer Art einfach Anežka nennen.“ In derselben Erzählung erklärt er den Spitznamen einer anderen Figur, „Kolomaz“ („Wagenschmiere“), damit, dass die deutschen Bergbewohner des Böhmerwaldes das Wort „Wagenschmiere“ nicht in ihrem Wortschatz hätten. Die Titelfigur der Erzählung Poručík [Der Lieutenant] wird als Böhmerwäldler charakterisiert, der „[b]öhmisch und italienisch radebrechte […] allerdings mit einem schauderhaften Akzent und […] grausam die Regeln jeglicher Grammatik [misshandelte]“ u. Ä.). Klostermann ging wohl von der – zu seinen Lebzeiten noch selbstverständlichen und offenkundigen – Annahme aus, seine tschechischen Zeitgenossen wüssten, dass hier vorwiegend deutschsprachige Bevölkerung lebte, und dass es daher nicht nötig sei, eigens auf diese Tatsache hinzuweisen. In den nachfolgenden Lesergenerationen, insbesondere nach 1945, ging das Wissen um den „deutschen“ Böhmerwald langsam verloren, umso leichter erfolgte dessen „Tschechisierung“.

 

Was Klostermanns Verhältnis zur Realität betrifft, verdient eine Studie Jan Lhotáks (Tři neznámá svědectví o velikonoční katastrofě v Sušici v roce 1859 [Drei unbekannte Zeugnisse über die Osterkatastrophe in Sušice 1859]) Erwähnung, die 2013 in einem Sammelband der Historischen Gesellschaft Klatovy mit Arbeiten zu Geschichte und Kunstgeschichte erschienen ist und einige von Hořejšís Schlussfolgerungen bestätigt. Lhoták vergleicht in seiner Studie die in Klostermanns Erzählung Osudné velikonoce [Schicksalhafte Ostern] und vor allem im Erinnerungstext Za ranních červánků [Im Morgenrot] enthaltenen Schilderungen vom Einsturz der Brücke in Sušice (Schüttenhofen) Ostern 1859 mit den Aufzeichnungen dreier damals schon erwachsener Augenzeugen (Klostermann selbst war seinerzeit ein elfjähriger Junge), die in den Sammlungen des Böhmerwaldmuseums Sušice und im Staatlichen Bezirksarchiv Klatovy aufbewahrt werden und bis zu Lhotáks Studie unbeachtet geblieben sind. In den Vergleich bezieht er zudem Realien des damaligen Lebens aus Amtsdokumenten und Berichten ein (die Zahl der an Typhus erkrankten Personen im Jahr 1859, den Wasserstand des Flusses zu Ostern) und gelangt auf diese Weise zu der Feststellung, dass Klostermann gehörig übertreibt: Ist bei Klostermann von einer Typhusepidemie die Rede, so belegen die Sušicer Personenstandsbücher für den Zeitraum von 1858 bis zum 30. April 1859 lediglich sieben an Typhus verstorbene Personen. Lässt Klostermann die Trümmer der eingestürzten Brücke in der vom Frühlingstauwetter angestiegenen Otava versinken, so konstatiert ein von Lhoták entdecktes deutschsprachiges Dokument, „der Wasserstand [sei] gering“ gewesen. Lhotáks Vergleich führt uns damit letztlich zu Goethes Dichtung und Wahrheit: Kann ein Autor, eine emotional bewegte Person (und eine solche war Klostermann zweifelsohne, obgleich es natürlich auch andere Typen von Autoren gibt) als nüchterner Dokumentarist aufgefasst werden? – Nicht einmal in einem Genre wie den Memoiren, geschweige denn in seiner Prosa. Ich bin daher froh, dass Hořejší Klostermann am Ende seines Vorwortes auch als einen Prosaiker von Rang betrachtet, dessen Werk „im Rahmen der einheimischen Prosa des ausgehenden 19. Jahrhunderts dennoch ein einzigartiges Phänomen bleibt“ (S. 15). Auf dieser Ebene sind wir uns tatsächlich einig.

 

Übersetzung: Ilka Giertz

 

 

Karel Klostermann: Velebnost, melancholie, hrůza. Hrsg. und Vorwort: Michal Hořejší. Praha: Nakl. Nikola Klímová – Take Take Take, 2016, 144 S.


zpět | stáhnout PDF