Es schrieb: Peter Demetz

(8. 8. 2018)

Der Artikel Zum Begriff der Sudetendeutschen Literatur entstammt der Publikation Hluboká stopa. Nezávislá revue Skutečnost 1949–1953 (Tiefe Spur. Unabhängige Revue Skutečnost [Wirklichkeit] 1939–1953. Hg. vom Tschechoslowakischen Dokumentationszentrum, Prag 2008, vorbereitet von Vilém Prečan). Bei der Erläuterung des Autorenkürzels Pitt wird der Name von Peter Demetz in seiner tschechischen Variante, als Petr Demetz, angegeben. Laut Anmerkung auf S. 177 wurde der Artikel ursprünglich ohne Titel in Skutečnost, Jahrgang 2, Ausgabe 5–6 (Mai-Juni 1950) auf S. 123–124 unter der Rubrik Diskussionen und Anmerkungen abgedruckt. Im Inhaltsverzeichnis der Ausgabe wird er unter dem Titel Nový literární monopol (Das neue literarische Monopol) geführt.

 

Die Skutečnost. Nezávislá revue wurde von der jüngeren Generation der tschechoslowakischen Emigranten nach 1948 herausgegeben. Die Initiative hierzu entstand in Genf, wo die Revue ab März 1949 erschien, zunächst noch als Zyklostil. Später wechselten mehrfach Erscheinungsort und Sitz der Redaktion – kurz war es Paris, dann zeitgleich London und München, bis es 1953 zum endgültigen Wechsel nach München kommt, wo die Revue aber Ende 1953 eingestellt wird. Im tschechischen Umfeld ist diese Revue im Unterschied etwa zu Tigrids Svědectví (Zeugnis) praktisch unbekannt, Vilém Prečan schätzt, dass „von unseren heutigen tschechischen und slowakischen Historikern und Politologen, die jünger als 80 Jahre sind, nur etwa ein halbes Dutzend die Skutečnost je in den Händen gehalten haben, wenn ich den Kreis der Herausgeber von Hluboká stopa abziehe.“ Umso wichtiger ist es, an die darin veröffentlichten Artikel zu erinnern.

 

Über den Autor des vorliegenden Artikels Peter Demetz (*1922) schrieb Karel Schwarzenberg im Vorwort zu dessen Buch Böhmen böhmisch zu Recht, dass er allen drei Völkern angehöre, die gemeinsam den Charakter des geistigen Lebens der böhmischen Länder bildeten. Er wuchs in einer Familie auf, deren Linie väterlicherseits bis nach Südtirol reicht, während seine Mutter dem böhmisch-jüdischen Umfeld entstammte. Bis 1938 besuchte er das deutschsprachige Gymnasium, die Mittelschule beendete er jedoch auf einem tschechischen Gymnasium. Sein Studium der Germanistik an der Karlsuniversität 1945–1948 vollzog sich zwangsläufig in einem tschechischsprachigen Umfeld. 1949 emigrierte er nach Deutschland, von wo er 1953 in die USA übersiedelte. Hier studierte er zunächst an der Columbia- und danach an der Yale-Universität, wo er ab 1960 bis zu seiner Emeritierung 1991 ohne Unterbrechung als Professor für vergleichende deutsche Literatur tätig war. In den 1990-er Jahren lehrte er an der Ostrauer Universität, später auch an der Masaryk-Universität in Brünn.

 

Peter Demetz war nie ein strenger Akademiker, der sich ausschließlich auf seinen Fachbereich konzentrierte. Oder anders ausgedrückt: Er fasste seinen Fachbereich weiter, begriff ihn nicht nur als Philologie, sondern in Beziehung zu Kultur, Geschichte, Philosophie und anderen Gesellschaftswissenschaften. Ein wichtiger Bestandteil seiner Persönlichkeit war auch sein Wirken in der Öffentlichkeit (unter anderem mit Jiří Gruša, Peter Kosta, Eckhard Thiele und Hans Dieter Zimmermann als Herausgeber der 33-bändigen Ausgabe tschechischer Literatur in deutscher Übersetzung, der sogenannten Tschechischen Bibliothek), das mit zahlreichen prestigehaften Auszeichnungen geehrt wurde (wie dem Großen Verdienstkreuz der BRD, dem Europäischen Kulturpreis der Europäischen Kulturstiftung, der Verdienstmedaille der Tschechischen Republik). Unvergessen sind auch Demetz‘ eigene Übersetzungen aus der tschechischen Literatur: Er übersetzte unter anderem die Großmutter von Božena Němcová wie auch Lyrik von Halas, Seifert und vor allem Orten.

 

Im Laufe seines Lebens gab Peter Demetz eine Reihe Fachbücher heraus, nach seiner Emeritierung wechselte er jedoch das Genre und widmet sich nun vor allem dem Verfassen von Essays und Erinnerungen. Dabei konzentriert er sich thematisch auf die böhmischen Länder sowie die Zeit seiner Jugend. 1996 gab er das Buch Böhmische Sonne, mährischer Mond heraus (tschechisch 1997 als České slunce, moravský měsíc), darauf folgte Prag in Schwarz und Gold (1998, tschechisch 2004 unter dem Titel Praha černá a zlatá). 2006 erschien der bereits genannte Essayband Böhmen böhmisch (tschechisch Dějiště: Čechy, 2008); das bislang letzte Buch mit tschechischer Thematik Mein Prag: Erinnerungen 1939–1945 erschien 2007 (tschechisch 2010 unter dem Titel Praha v ohrožení: 1939–1945).

 

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Petr Demetz: Zum Begriff der Sudetendeutschen Literatur

 

Das neue literarische Monopol steckt die Schriften vertriebener Deutscher, wozu man Franz Kafka und Franz Werfel, ganz zu schweigen von Rilke, zählt, in die so genannte „Sudetendeutsche“ Literatur. Difficile est satiram non scribere, wenn wir beobachten, dass beispielsweise der neonazistische Europa-Kurier einen Auszug aus Werfels Musa Dagh abdruckt (wenn sie wüssten, dass der alte Werfel mit seiner Emigration nie einverstanden war), oder wie einige, ehemals für den Prager Neuen Tag schreibende Redakteure die Größe der Sudetendeutschen Literatur mit dem Namen Kafkas belegen wollen.

 

Es ist offensichtlich, dass der Begriff „Sudeten“ dreifache Gültigkeit besitzt: geographische, ideologische und administrativ-politische. Freilich lässt sich die eine durch die andere nicht ersetzen. Die geographische Bedeutung war bereits vor 1918 in den deutschen Lehrbüchern geläufig und meint eine Gebirgskette von der Elbe bis nach Schlesien, also keinesfalls das Erzgebirge, den Böhmerwald oder andere Regionen. Die geographische Gültigkeit ist Basis für die ideologische Bedeutung, die böhmische, mährische und schlesische Deutsche überhaupt bezeichnet, sofern die Separierung von der Tschechoslowakischen Republik ihr politisches Programm ist. Terminus a quo der ideologischen Gültigkeit sind, nach eigenem Bekenntnis der Sudetenanführer, die zwanziger Jahre, als der frühere Begriff „deutschböhmisch“ in der Terminologie der neuen Konflikte schwindet. Jüngsten Datums ist die administrativ-politische Gültigkeit; sie entstand nach dem Münchner Abkommen, als bedeutende – wenn auch nicht alle – Teile des abgekoppelten Gebiets, dessen geographische Wirbelsäule eben das Sudetengebiet war, das Verwaltungsgebiet „Gau Sudetenland“ bildeten (wenn dieser Tage der Bayerische Innenminister Weisung erteilt, dass er den Begriff „Sudetenland“ als administrativen versteht und ihn bei Verwaltungsangelegenheiten empfiehlt, zeigt er damit nur, dass Bayern die letzte Großmacht ist, die das Münchner Abkommen noch anerkennt). Was also ist Sudetendeutsche Literatur im wissenschaftlichen Wortsinn? Reflektieren wir über die drei Bedeutungsschattierungen des Adjektivs „sudetisch“, ist es 1. das Schrifttum, das auf dem Gebiet des Sudetengebirges entstand; 2. das Schrifttum, das die sudetendeutsche Ideologie, wie sie nach 1918 entstand, ausdrückt; 3. das Schrifttum, das auf dem Gebiet des sogenannten Sudetengaus entstand oder 4. das Schrifttum von Vertriebenen, das in Deutschland nach 1945 entstand. Kafka und Werfel zählen offensichtlich nicht zu den Sudetendeutschen: Als Juden und gebürtige Prager hegten sie nicht das geringste Interesse für die sudetendeutsche Sache und waren auch nie Bürger eines der Sudetengebiete, wenn wir schon die anachronistische Terminologie des Bayerischen Innenministers bemühen wollen.

 

Für jemanden, der wissenschaftlich arbeitet, ist es eine gewagte Frechheit, die historische Gesamtheit deutschen Schrifttums in Böhmen und Mähren als Sudetendeutsche Literatur zu bezeichnen. Nehmen wir zum Beispiel Adalbert Stifter. Er wurde in Oberplan, etwa 300 Kilometer vom Sudetengebiet entfernt, geboren, war gläubiger Katholik und als k.k. Beamter in Wien und in Linz tätig. Falls er an der böhmischen Sache (über die er den größten Roman der deutschen Literatur geschrieben hat) interessiert war, so betrachtete er sie vom Standpunkt des katholischen Universalismus aus, der nur, ganz im Sinne des Gründungsdokuments der Karlsuniversität „fideles incolae regni Bohemiae“, kennt. Keine Spur also von sudetendeutscher Ideologie. Mit welchem Recht also bezeichnet man Stifter als sudetendeutschen Schriftsteller?

 

Im Fall Kafkas und Werfels kommt noch eine pikante Nuance hinzu: Die offiziellen Kreise der Sudetendeutschen Literatur der Ersten Republik distanzierten sich deutlich von jüdischen Autoren. Die Leute um die Sudetendeutschen Monatsblätter und den Kraft-Verlag hielten Werfels Genossen für von der tschechischen Regierung bezahlte demokratische Kollaborateure, weil sie mit Laurin in der Prager Presse zusammenarbeiteten. Doch war es einfach eine großstädtische, zivilisierte, europäische Literatur im Gegensatz zur sudetendeutschen Rustikalität, zu engstirnigem Regionalismus und Chauvinismus. Ein Kenner der Umstände zur Zeit der Ersten Republik sieht genau den Unterschied zwischen Werfel und Watzlik, Kafka und Strobl, Brod und Hohlbaum. Freilich ändern sich die Zeiten, heute entdeckt die sudetendeutsche Presse, dass Werfel und Kafka Autoren von Weltrang sind und dass es der sudetendeutschen Sache dient, diese berühmten Namen im Ausland für die eigene Ziele zu annektieren. Und so beruft sich so mancher auf Kafka als sudetendeutsche Größe und denkt sich gewitzt, er könne die Reinheit seines Werkes zum Weißwaschen seiner angekratzten sudetendeutschen Firma missbrauchen.

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 


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