Es schreibt: Martina Niedhammer

(E*forum, 1. 8. 2018)

Unsichtbare Loyalität? lautet der Titel eines 2016 erschienenen Sammelbandes, in dem sich tschechische Historiker, Kunst-, Theater- und Literaturwissenschaftler gemeinsam mit Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Spur eines Analysekonzepts begeben, das in jüngerer Zeit vermehrt an Bedeutung gewann. Wie Václav Petrbok, einer der drei Herausgeber, in der Einleitung betont, spielt Loyalität, verstanden als horizontale oder vertikale Bindung, die sich durch ein gewisses Maß an Freiwilligkeit ebenso wie durch Wechselseitigkeit auszeichnet, jedoch bislang vor allem in der deutsch- und englischsprachigen Forschung eine Rolle. In tschechischsprachigen Publikationen taucht der Begriff hingegen nur selten auf, obwohl er, wie Petrbok zeigen kann, bereits in frühen lexikographischen Standardwerken aus den böhmischen Ländern Niederschlag fand. Wohl nicht zufällig geschah dies jedoch häufig unter anderen, sinnverwandten Bezeichnungen, so etwa bei Josef Jungmann, dessen bekanntes Slovník česko-německý mit dem Begriff der „věrnost“ (Treue) arbeitet – ein erster Hinweis auf mögliche Ursachen für die „Unsichtbarkeit“ des Loyalitätskonzepts im tschechischsprachigen Diskurs. Die dreißig, mehrheitlich auf Tschechisch, gelegentlich aber auch in deutscher Sprache verfassten Beiträge des vorliegenden Bandes verstehen sich daher als erster Anstoß im Sinne einer besseren Sichtbarmachung von „Loyalität“ als kulturwissenschaftliches Analyseinstrument.

 

Die Bandbreite, die der Loyalitätsbegriff dabei aufweist, ist groß und in jedem Falle geeignet, seine semantische Vielschichtigkeit und das damit eng verknüpfte Assoziationspotenzial offenzulegen. Vier thematisch ausgerichtete Kapitel strukturieren diese Fülle, indem sie jeweils das Verhältnis von Grenze, von Staat und Untertan, von visueller Kultur sowie von Sprache zu Loyalität in den Blick nehmen. Eine abschließende Sektion widmet sich Fragen des gruppenbezogenen respektive des individuellen Zugangs zu Loyalität. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle Aufsätze, die in vielen Fällen aus der Feder einschlägiger Kenner ihres Faches stammen, gebührend zu würdigen. Daher seien stellvertretend nur wenige Beiträge genannt, die beispielhaft einen für den Band charakteristischen Umgang mit dem Loyalitätsbegriff zeigen, der gleichermaßen als methodisches Instrument wie auch als stilistisches Mittel dient.

 

In letzterem Falle wird Loyalität vor allem bildlich eingesetzt, um ethnische und/oder sprachliche Zugehörigkeiten zu veranschaulichen und deren Grenzen aufzuzeigen, ohne dass diese Identifikationsmuster im Hinblick auf ihr emotionales Moment, das ihnen innewohnende Ordnungspotenzial oder einen möglichen Wandel tiefer hinterfragt würden. Der Begriff der Loyalität verbleibt somit auf der Ebene eines wenig trennscharfen Etiketts. Dies ist etwa im Beitrag von Ursula Stohler der Fall, die sich mit tschechischsprachigen Übersetzungen deutschsprachiger Bestsellerliteratur aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Gerade weil populäre Unterhaltungsliteratur aus Deutschland aufgrund ihrer zumindest mittelbar sozialkritischen Tendenzen auch in den böhmischen Ländern auf Interesse stieß, war man aus nationalen Erwägungen heraus bestrebt, Hinweise auf den deutschsprachigen Ursprung dieser Werke zu tilgen. Die „marktwirtschaftliche Loyalität“ (S. 236) zum deutschen Buchmarkt wurde auf diese Weise geschickt geheim gehalten.

 

Konkreter wird der Rekurs auf das Konzept in Beiträgen, die sich mit materieller Kultur auseinandersetzen, da die Loyalität hier gewissermaßen „steingeworden“ ist. Dies führt der Beitrag von Zdeněk Hojda vor Augen, der sich mit deutschböhmischen und deutschmährischen Personendenkmälern im langen 19. Jahrhundert beschäftigt. Indem der Autor zwischen Monumenten mit überregionalem und lokalem Zuschnitt sowie zwischen externen und internen Adressaten unterscheidet, gelingt es ihm, das potentielle Loyalitätsspektrum der Denkmalerbauer, wie es sich auch in der Trias des Bandtitels widerspiegelt – österreichisch, deutsch und tschechisch – nachzuzeichnen. Freilich verbleibt der Beitrag an manchen Stellen im Vagen oder ist, wohl aus Platzgründen, gezwungen, auf einschlägige Forschung zu verweisen, ohne diese näher referieren zu können. Hier hätte möglicherweise die Konzentration auf wenige ausgewählte Beispiele zu einer größeren Textdichte geführt.

 

Allerdings muss das Problem des beschränkten Umfangs in einem Band dieser Größenordnung notorisch sein; dies belegt exemplarisch der lesenswerte Beitrag von Kamila Mádrová zur Führung von Namen kaiserlicher Familienmitglieder auf Werbe- und Anzeigetafeln. Nicht nur kann die Autorin auf profunde Archivrecherchen im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien verweisen, mithilfe derer sie einen bis dahin kaum beachteten Aspekt habsburgischer Loyalitätspolitik nachzeichnen kann. Es gelingt ihr darüber hinaus auch, die Beziehung zwischen Loyalitätsgeber – der Gewerbetreibende – und Loyalitätsnehmer – dem Kaiserhaus – und den daraus resultierenden wechselseitigen Nutzen – erhöhte Gewinne aufgrund kaiserlich verbriefter Seriosität respektive eine vertiefte Verankerung des Monarchen und seiner Familie in der Bevölkerung – plastisch darzustellen. Doch ist auch hier der limitierte Seitenumfang zu bedauern: Gern hätte die Rezensentin noch mehr über die Verwendung kaiserlicher Namen als Produktbezeichnungen erfahren.

 

Mit den Konflikten, die aus der Präsenz mehrerer Loyalitätsnehmer herrühren, und damit auch mit dem Phänomen der Illoyalität beschäftigt sich der Beitrag von Martin Krummholz. Er befragt das künstlerische Schaffen des tschechischen Bildhauers Stanislav Sucharda (1866–1916), der unter anderem das bekannte Prager Palacký-Denkmal schuf, auf seine Anbindungen an verschiedene künstlerische Traditionen innerhalb der Prager Bildhauerszene. Die Tatsache, dass Sucharda zu seinem früheren Lehrer Josef Václav Myslbek in gestalterischer Hinsicht auf Distanz ging, wog dabei weniger schwer als seine hochambivalente Haltung gegenüber dem „tschechenfeindlichen“ Wien, in dem er gleichwohl wiederholt ausgezeichnet wurde.

 

Inwieweit Loyalität tatsächlich „messbar“ ist, ist Teil des spannenden Aufsatzes von Václav Smyčka, der Widmungen in wissenschaftlichen Publikationen aus den böhmischen Ländern im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert untersucht. Mittels einer quantitativen Analyse kann er einen Form- und Funktionswandel in der seit der Frühen Neuzeit intensiv gepflegten Praxis der Dedikation feststellen, der um 1800 einsetzte und mit einer Veränderung hergebrachter Codes einherging: Die in der Widmung zum Ausdruck gebrachte Loyalität spiegelte nun weniger ein hierarchisches Gefälle zwischen Autor und Gönner wider, sondern zeugte vielmehr von einer gemeinsamen ideellen Grundlage – etwa der Liebe zum Vaterland oder zur Muttersprache. Dies ermöglichte eine emotionale Einbeziehung des Lesers und damit der interessierten Öffentlichkeit, die der frühere, rein repräsentative Dedikationsstil nicht adressiert hatte.

 

Dass sich das Konzept der Loyalität aufgrund seiner Mehrdeutigkeit und seiner emotionalen Dimension ganz besonders zur Analyse von Minderheiten und ihren Lebenswelten oder auch einzelner Akteure mit scheinbar widersprüchlichen sprachlichen und gesellschaftlichen Anbindungen eignet, belegen etliche Beiträge des Bandes: so etwa derjenige von Michal Frankl zum Diskurs über die vermeintlich mangelnde Loyalität der tschechischen Juden während des Ersten Weltkriegs, der Aufsatz von Marek Nekula zum Sprachgebrauch des ursprünglich deutschsprachigen Bedřich (Friedrich) Smetana (1824–1884) oder Michal Topors Studie zu Alfred Klaar (1848–1927), einem aus einer Prager jüdischen Familie stammenden, zunächst zweisprachigen Journalisten und Literaturkritiker, der sich zu einem vehementen Verfechter der deutschen Seite wandelte.

 

Diese Liste ließe sich ergänzen durch weitere innovative Beiträge aus dem Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaften, wie beispielsweise Dalibor Turečeks Überblick über Loyalitätsmuster in der tschechischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts oder Pavla Machalíkovás Aufsatz zu Stilrichtungen in der Malerei und den nationalen Konnotierungen, mit denen sie im vormärzlichen Prag belegt wurden. Sie alle bieten neue Perspektiven auf ein reizvolles Forschungskonzept. Doch nicht allein deshalb, sondern auch wegen seiner beeindruckenden thematischen Vielfalt sei der Band jedem Leser, der sich für die Kulturgeschichte der böhmischen Länder respektive Österreichs im 19. Jahrhundert interessiert, ans Herz gelegt.

 

 

Václav Petrbok / Taťána Petrasová / Pavla Machalíková (Hg.): Neviditelná loajalita? Rakušané, Němci, Češi v české kultuře 19. století. [Unsichtbare Loyalität. Österreicher, Deutsche, Tschechen in der böhmischen Kultur des 19. Jahrhunderts] Sborník příspěvků z 35. ročníku sympozia k problematice 19. století, Plzeň, 26. – 28. února 2015. Praha: Academia, 2016, 354 S.


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