Es schreibt: Radka Šustrová

(E*forum, 4. 7. 2018)

Das Gedächtnis, ein geteiltes Bild von der Vergangenheit, das unser Bewusstsein über historische Epochen und deren AkteurInnen formt, bildet für Historiker die Matrix der eigenen Interessen, aber auch etwas, womit sie sich immer aufs Neue auseinandersetzen müssen. Die Grundlage jedes Gedächtnisses bildet die Erfahrung, die jedoch in den darauf folgenden Jahren von ideologisch bedingten Interpretationen und Bedeutungen überlagert wird. In den Texten von Wenzel Jaksch, die unter dem Titel Verlorene Dörfer, verlassene Menschen… Reportagen aus dem tschechischen Grenzland 1924–1928 (tsch.: Ztracené vesnice, opuštění lidé… Reportáže z českého pohraničí 1924–1928, Praha: Academia, 2017) erschienen sind, geht es weder um das Gedächtnis, noch werden hier umfassende Interpretationen geliefert. Die Texte halten den heutigen populären Vorstellungen von der sog. Ersten Republik, die meist mit Schlagworten wie Demokratie, Freiheit und Prosperität assoziiert wird, den Spiegel vor. Gleichzeitig zeigen die Reportagen auch ein nur wenig bekanntes Wirkungsfeld des sudetendeutschen Sozialdemokraten und späteren Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei (DSAP) Wenzel Jaksch (1896–1966).

 

Im tschechischen historischen Bewusstsein wird Wenzel Jaksch am häufigsten mit den wachsenden Spannungen zwischen dem deutschen und dem tschechischen antifaschistischen Widerstand in Verbindung gebracht. Als der führende Kopf der sudetendeutschen Opposition im Exil gegen den (Exil)Staatspräsidenten Edvard Beneš kam er wohl zurecht zu diesem Ruf. Beneš’ Theorie von einer rechtlichen Kontinuität, die es ihm ermöglichte, die Wiederherstellung der Tschechoslowakei in den Grenzen vor dem Münchner Abkommen anzustreben, verstand Jaksch jedoch gleichzeitig auch als eine Fortsetzung der ungeklärten innenpolitischen Konflikte in der Republik, vor allem in der Nationalitätenfrage. Jaksch führte somit einen Kampf an zwei Fronten: um ein anderes, besseres Bild der Sudetendeutschen und um die Zukunft der Deutschen in der befreiten Tschechoslowakei. Die wachsenden Animositäten gegen die deutsche Minderheit – als Folge des Separatismus der Nationalsozialisten und der darauf folgenden Besatzung Europas – gepaart mit Beneš’ Widerwillen, dieser nationalen Minderheit ihr Recht auf Selbstbestimmung zu gewähren (und dadurch eine nationalitätenorientierte und nicht nur nationalistische Ausrichtung der Tschechoslowakei zu verfolgen), versetzte den sudetendeutschen Politiker in eine schwierige Lage und nahm seine politische Trennung von Beneš vorweg. Vielleicht ist Jaksch eben deswegen vor allem als Exilpolitiker bekannt, denn zu der Zeit stand er auf dem Höhepunkt seiner Karriere und war, aus dem tschechischen Blickwinkel, am umstrittensten. Kontrovers wahrgenommen wurde er jedoch schon damals auch unter den deutschen Sozialdemokraten, beispielsweise bei seinen Exilmitstreitern und „Beneš’-Verbündeten“ Josef Zinner und Johann Wolfgang Brügel.

 

Auch wenn im Exil, angesichts der Konflikte um die geplante Aussiedlung der Deutschen nach Kriegsende, Jakschs nationale Identität im Vordergrund stand, war sie nicht immer die einzige oder dominante. Als Journalist brachte er vor allem seine politische Identität oder genauer gesagt seine Identität als Sozialdemokrat zum Ausdruck. Deutlich spürbar ist dies in den Reportagen, die Jaksch zwischen 1924 und 1928 für das Prager Zentralorgan der DSAP, den Sozialdemokraten, geschrieben hat. Seine Reisen, die ihn ins Adlergebirge, in den Böhmerwald, ins nordböhmische Industriegebiet von Teplice/Teplitz, zu den Glasmachern nach Nový Bor/Haida, zu den nordböhmischen Webern oder ins Erzgebirge führten, zeugen von Jakschs politischer Überzeugung und sozialer Empathie. Seine Beschreibungen mit eindringlichen Schilderungen von Armut, Not und Elend liefern damit ein starkes Gegenbild zu der gängigen Erzählung von den „goldenen zwanziger Jahren“ der Ersten Republik. Dabei waren seine Reportagen keine oberflächliche Kritik, sondern sie offenbarten die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums sowie die mangelnde Wirkungskraft des Staates dort, wo staatliche Interventionen bitter notwendig gewesen wären. Dank Jakschs Unmittelbarkeit, seiner Dringlichkeit sowie seinem Gespür für Kontraste zeigen seine Texte kein gefälliges, sondern ein sehr realistisches Bild des frühen Kapitalismus in den Böhmischen Ländern. Gravierende wirtschaftliche wie soziale Unterschiede, die Wenzel Jaksch in den bereisten Regionen mit eigenen Augen beobachten konnte, beschrieb er in der Sprache eines überzeugten Sozialdemokraten.

 

Thomas Oellermann, der Herausgeber des Buchs, entschied sich für eine chronologische Reihenfolge der Reportagen. Vor den Augen der Leserinnen und Leser entfalten sich so nicht nur bittere menschliche Schicksale, sondern auch die Schlüsselprobleme, mit denen die Bevölkerung der Grenzgebiete konfrontiert war. Denn es sind die ganz konkreten Geschichten, die wohl in jeder Erzählung die größte Suggestivkraft entwickeln. In Jakschs Reportagen spielen sie, schon im Hinblick auf das Genre selbst, eine tragende Rolle. Sie kommen jedoch nicht mit einer sich aufdrängenden Emotionalität daher, vielmehr bieten sie einen Einblick in den rauen Alltag und die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung im ländlichen Raum. Jaksch interessierte sich vor allem dafür, wie die Menschen lebten und welche Umstände sie dazu gebracht hatten, so zu leben. Dabei handelt es sich meist nicht um Situationen, die auf eine individuelle Entscheidung zurückzuführen wären, sondern die vor allem infolge der Nachkriegskrise zustande gekommen waren und denen die ProtagonistInnen in Jakschs Reportagen im täglichen Kampf ums nackte Überleben mit Vehemenz trotzten. Der Autor bezeichnet die Region dieser alltäglichen Überlebenskämpfe als „Brennpunkte des menschlichen Elends“ (S. 61), die nach dem Ersten Weltkrieg von der Wirtschaftskrise in beiden Ländern entlang der Grenze – in der Tschechoslowakei wie in Deutschland – betroffen waren.

 

Das sog. Sudetenland, mit dem sich Wenzel Jaksch in seinen Reportagereisen beschäftigte, hat bis heute seinen spezifischen Charakter. Und dessen war sich auch der Autor sehr wohl bewusst. Die geografischen, wirtschaftlichen, politischen, verwaltungstechnischen und nicht zuletzt nationalen Besonderheiten des Grenzlandes hatten das Ihre zur wachsenden Arbeitslosigkeit und zum immer größeren Wohnungsmangel beigetragen. Es scheint, als stünde die dortige Situation in komplettem Widerspruch zum Aufbauprogramm der neuen Republik und der damit verbundenen Betonung der sozialen Frage, wodurch der junge Staat schnell auf eine nicht militärische Industrieproduktion und den maximalen Export umgestellt werden sollte. Eben diese Leistungsparameter in Gestalt der sich erweiternden Handelsverträge, die Steigerung des Bergbaus und der Produktion sowie die Konzentration auf Umsätze und Erträge führten zu dramatisch anwachsenden sozialen und wirtschaftlichen Differenzen in der Bevölkerung. „Herodes war ein Waisenknabe gegen die kapitalistischen Machthaber, die ungezählte Proletarierkinder kaltblütig verderben lassen“ (S. 94), schrieb Jaksch trefflich über das Teplitzer Industriegebiet im Juli 1926.

 

Jaksch stellte sich die Frage, wer für die ganze Misere verantwortlich war, und er kennt auch die Antwort: der Staat. Die unzureichende Handlungsfähigkeit der staatlichen Strukturen, die keine arbeitsfördernde Politik in den Regionen führten, sondern die Menschen an der Armutsgrenze und mit drohender Unterernährung leben ließen, nichts gegen Korruption unternahmen und keinen angemessenen Wohnraum für Familien mit Kindern garantieren konnten, belegen laut Jaksch das Versagen des Staates. An einigen Stellen räumt er ein, dass die Existenz solcher Probleme schlicht und einfach nicht zu verstehen sei. In seinen Reportagen setzte er sich mit dem Phänomen des Sozialstaats auseinander und unterzog sein effektivstes Mittel – die gesetzliche Sozialversicherung – einer starken Kritik. In den Grenzregionen, wo sich die Menschen aus Mangel an Arbeitsplätzen und aus der schieren Not heraus für Heimarbeit entschieden hatten, fand das Gesetz zur Regelung der Kranken-, Invaliden- und Altersversicherung der Arbeitnehmer kaum Anwendung. Das Gesetz, das meist für einen der größten Erfolge der sozialistischen Parteien in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit gehalten wird, hatte seine Grenzen, die vor allem Heimarbeiter und Landarbeiter zu spüren bekamen. Die Ausbreitung der gesetzlichen Sozialversicherung war eine komplizierte Angelegenheit, besonders in Hinblick auf die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen den Einnahmen und Ausgaben der Versicherungsanstalten, und Jaksch hätte den Versicherungsmathematikern, die das Gesetz erarbeitet hatten, wohl nur sehr schwer seine Forderung nach noch mehr Erweiterung erklären können. Doch er wollte in seinen Texten gar keine Expertendebatte aufmachen, er stellte lediglich die Unmöglichkeit des Einzelnen fest, zu seinem Recht zu kommen und Hilfeleistung seitens des Staates zu bekommen.

 

Auch das Genter System der Arbeitslosenversicherung durch Gewerkschaften hatte ganz deutlich seine Grenzen. Die Langzeitarbeitslosigkeit führte zum Verlust der Mitgliedschaft in Gewerkschaften und dadurch auch zum Verlust des Anspruchs auf Unterstützung. Dieser bekannte Missstand der Arbeitslosigkeitsbekämpfung in der Zwischenkriegszeit traf in erster Linie die Bevölkerung der Grenzregionen. Jaksch beschreibt, mit welcher unglaublichen Steigerung „die Angst der Arbeiterschaft vor dem Gespenst der Erwerbslosigkeit“ (S. 139) ausgenutzt wurde, was im Grunde das Wesentliche des „Unternehmerabsolutismus“ ausmachte. Doch so sehr Jaksch auch über hauptsächlich deutschsprachige Regionen schrieb und dabei die radikale „Ausbeutung“ seitens der reichen Großindustriellen und landwirtschaftlichen Großunternehmer unterstrich, seine Kritik hat keinen verflachenden nationalistischen Charakter. In seinen Reportagen kritisierte er nicht die tschechische Regierung, die seine deutschsprachige Bevölkerung unterdrückte, sondern er richtete seine Kritik an den Staat, an sein Sozialsystem und seine innenpolitischen Strategien.

 

Jakschs sozialdemokratische Identität kommt in seinen Texten jedoch auch anders zur Geltung als durch die bloße Betonung sozialer Themen. Für ein sehr beunruhigendes Zeichen hielt er das mangelnde politische Bewusstsein der Grenzlandbevölkerung, das sich darin zeigte, wie wenig sie sich zu organisieren vermochte. Vor allem „[d]ie politische Interesselosigkeit unter der ‚revolutionierten’ Jugend und unter einem großen Teil der Frauen“ (S. 145) fand er besorgniserregend. Jaksch sah den einzigen Weg, der Bevölkerung mehr Selbstbewusstsein zu verleihen, damit sie das Wort ergreifen und den ersten Schritt zur Verteidigung der eigenen Rechte und zur Verbesserung der eigenen Lage tun könnte, darin, ihr politisches Bewusstsein anzuregen und sie in die Reihen der Sozialdemokraten zu bringen. Als überzeugter Sozialdemokrat hielt Jaksch das Organisieren der Arbeiterschaft innerhalb der demokratischen Linken für den besten Weg.

 

Jakschs Texte bieten eine eindrucksvolle und lehrreiche Lektüre über eine Zeit, über die meist mit Nostalgie gesprochen wird. Seine Reportagen sind nicht nur der Inhalte wegen sehr lesenswert, überzeugend ist auch ihre literarische Qualität sowie die Art und Weise, wie Jaksch darin seine sozialdemokratische Gesinnung zum Ausdruck brachte. Schade nur, dass in der Edition, außer der obligatorischen editorischen Notiz und einem knappen Vorwort, eine grundlegende Studie fehlt, die Jakschs Reportagen in einen breiteren Kontext setzen würde. Doch auch so ist die Publikation eine wichtige und gelungene editorische wie übersetzerische Leistung.

 

Übersetzung: Martina Lisa

 

 

Wenzel Jaksch: Ztracené vesnice, opuštění lidé… Reportáže z českého pohraničí 1924–1928 (Verlorene Dörfer, verlassene Menschen… Reportagen aus dem tschechischen Grenzland 1924–1928). Aus dem Deutschen von Zuzana Schwarzová. Praha: Academia, 2017, 286 S.


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