Es schreibt: Jan Mareš

(6. 6. 2018)

Historische Synthesen sind beim lesenden Publikum besonders beliebt, gelten jedoch gleichzeitig von Autorenseite als anspruchsvollstes Genre. Deshalb verdient jede Neuerscheinung Aufmerksamkeit, besonders dann, wenn sie sich mit einem im Inneren so vielfältigen und heute bisweilen nostalgisch-populären Ganzen wie der Habsburgermonarchie beschäftigt. Das Werk mit dem ambitionierten Titel The Habsburg Empire: A New History (Harvard University Press, 2016) lässt sich schwerlich mit einer anderen Synthese aus der jüngsten Zeit vergleichen, ersetzt sie doch komplexe Narration nicht durch einen Überblick oder eine Aufzählung. Vielleicht ließe sie sich mit dem Buch Česká společnost 1848–1918 [Die tschechische Gesellschaft 1848–1918] von Otto Urban in Verbindung bringen, das sich jedoch – wie aus dem Titel hervorgeht – überwiegend an den nationalen Rahmen hält. Eher noch als die extensiv angelegte und thematisch strukturierte Reihe Die Habsburgermonarchie ähnelt sie dem Projekt Habsburkové [Die Habsburger, Verlag Lidové Noviny] aus dem vergangenen Jahr. Beide setzen sich nämlich zum Ziel, die aktuellen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse ganzheitlich vorzustellen und bei der Auslegung den nationalen Rahmen durch den Schwerpunkt auf die Gesellschaft und/oder den Staat zu überwinden. Bleibt das heimische Projekt eine kollektive Monografie, ist Judsons Buch das Ergebnis jahrelanger Anstrengungen, die etablierten Auslegungen zu revidieren.

 

Pieter Judson, Professor an der Europäischen Universität in Florenz, gehört unbestritten zu den bedeutendsten Erneuerern, was den Zugriff einer Geschichte Mitteleuropas angeht, und ist führend in der so genannten Schule der nationalen Indifferenz. Berühmtheit erlangte er mit Büchern wie Wien brennt! (1998), Exclusive Revolutionaries (1996) und Guardians of Nation (2006), in denen er sich mit der Revolution von 1848, der Geschichte des deutschen Liberalismus in Österreich(-Ungarn) und besonders mit der situativen Bedingung von nationaler Identifikation und der Produktion nationaler Konflikte als politischer Strategie beschäftigt, sowie mit zahlreichen anderen Studien zu verschiedenen Themen.

 

Das Buch ist konzipiert als Polemik gegen die traditionelle Schilderung Österreich-Ungarns als Staat, der scheitern musste, jenes symbolischen „Völkerkerkers“ – und somit auch gegen die Auslegung eines begrenzt nationalen Rahmens, ungeachtet dessen, ob es sich um die „Gewinner“ oder „Verlierer“ der Nachkriegsordnung handelte. In den Mittelpunkt rückt er nicht den kollektiven Akteur – das Volk –, sondern die Institution – den Staat. Die zentrale Interpretationslinie konfrontiert die Intentionen der Habsburgischen Herrscher, einen modernen Staat zu bilden, und ihre Bemühung, die Loyalität der Untertanen/Bürger zu erlangen und nachzuvollziehen, wie sie an diesem Prozess beteiligt waren. Lebhaftigkeit und Überzeugungskraft gibt dieser Interpretation Judsons ausgewogener Blick auf alle Regionen Österreich-Ungarns, der weder die ungarische Hälfte, einschließlich Dalmatiens, noch die österreichischen Regionen inklusive Galiziens und der Bukowina vernachlässigt.

 

Das Imperium als Identifikationsrahmen und Garant für gesellschaftliche Entwicklung vollzieht Judson in acht chronologisch angeordneten Kapiteln nach. Die ersten beiden schildern die Entstehung und Formierung des Habsburgischen Imperiums in der frühen Neuzeit und die aufklärerischen Reformen, die im Rahmen der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung auf dem Land die aristokratischen Privilegien zerschlugen. Sie machten die Entstehung einer modernen Bürokratie (gegründet auf ein meritokratisches Prinzip und auch für Angehörige der Intelligenz zugänglich) und Streitkraft notwendig, worauf er jedoch – auch nicht als exemplarische „Orte der Indifferenz“ – im Folgenden nicht näher eingeht. Die mentale wie rechtliche Wandlung, die aus Untertanen Bürger machte, hing mit der Vorstellung eines universellen Rechts und der Entwicklung der Bürokratie zusammen, die die regionalen, kulturellen und religiösen Unterschiede überwinden, Loyalität gegenüber dem Staat anstelle der Dynastie schaffen und zur Grundlage für den rationalistischen Patriotismus werden sollten.

 

In der Bemühung um eine Erneuerung ihrer Legitimität bedienten sich die Landesparlamente einer mit dem Nationen-Begriff operierenden Rhetorik, seine Bedeutung war allerdings vielgestaltig. Judson identifiziert fünf verschiedene Arten seiner Anwendung, von der staatlichen Bürgerschaft über den elitären politischen und historischen Rahmen bis hin zur Vorstellung, ein Landesparlament vertrete auch alle Einwohner des Landes. Die Kraft des imperialen identifikatorischen Rahmens, unterstützt von der Einführung eines bürgerlichen Gesetzbuchs sowie einer Landwehr, wird belegt durch die auffällige Ähnlichkeit der Feierlichkeiten in der gesamten Monarchie nach der Niederlage Napoleons. Gleichwohl, wenn Judson behauptet, dass die Stärke des Nationalismus eher situativ gewesen sei und sich im Rahmen großer Ereignisse gezeigt habe, wie es die Volkszählungen oder die Proteste gegen Badenis Wahlreform waren, könnte dieses Argument nicht auch bei den Feierlichkeiten zur Rückkehr Kaiser Franz I. von Paris nach Wien im Jahr 1814, die zur Loyalitätsbekundung gegenüber der Habsburger Dynastie wurden, geltend gemacht werden?

 

Das dritte Kapitel, das die Zeit des Vormärz behandelt, halte ich für eines der interessantesten. Judson polemisiert hier gegen die ältere, aus dem Kalten Krieg stammende Historiografie, die die Wurzeln der Rückständigkeit Ostmitteleuropas in dieser Zeit sucht; er baut sein Narrativ dann ähnlich auf wie andere Kritiker der Totalitarismus-Theorie: Die Ansprüche des Staates hätten bei weitem nicht der sozialen Realität entsprochen. Dem Franz-Metternich-Absolutismus stellt er das Bild eines durch eine Dauerfinanzkrise geschwächten Rechtsstaats entgegen, der jedoch intensiv das Wirtschaftswachstum und die Verkehrsentwicklung unterstützt habe (besonders die Entstehung des Eisenbahnnetzes wird sehr interessant geschildert). Auf der anderen Seite teilt Judson eines der Attribute totalitärer Geschichtsschreibung – die Träger der Macht seien die Herrscher, ihre Charaktere prägten die Formierung des Staats und ihr Apparat wird als „Regime“ bezeichnet, dessen innere Struktur und Funktionieren erst mit dem Eintritt des Konstitutionalismus berücksichtigt wird; weder für die Angehörigen der Dynastie und den Kaiserhof noch für die Beamtenhierarchie ist in den Ausführungen Platz gewesen.

 

Das Erstarken der öffentlichen Sphäre kulminierte in den Revolutionsjahren 1848–1849. Judson verweist darauf, dass das revolutionäre Geschehen umrahmt wurde von Loyalitätsbekundigungen gegenüber Staat und Dynastie, aber ebenso von dem Bestreben, den bürokratischen Zentralismus zu verbessern, der auch von den Bürokraten selbst kritisiert wurde. Über die Partizipation an öffentlichen Angelegenheiten wachte das Bürgertum, das sich als Hauptbenefizient der Konstitution und gleichzeitig als Hüter der öffentlichen Ordnung betrachtete. Dennoch erreichten die Wahlstatuten später nicht mehr einen solchen Grad an Inklusivität, war es doch auch ungebildeten galizischen Bauern möglich, sich an verfassungsgebenden Verhandlungen des Reichsparlaments zu beteiligen.

 

Gerade hier kehrt Judson zum Leitmotiv seines Buches zurück: die gegenseitige Abhängigkeit von imperialem Zentralismus und Nationalismus. In den folgenden Kapiteln widmet er sich dieser doppeldeutigen „constitutive dependency“, durch die er das herkömmliche binäre Interpretationsmodell des Übergangs von der Ethnizität zur Nationalbewegung beziehungsweise zur Nation als Ausdruck von moderner, sozial geschichteter Gesellschaft ersetzt hat. Stattdessen betrachtet er die Kultur – neben Sprache und Religiosität eines der grundlegenden Attribute der Ethnizität – als bedeutendes politisches Instrument, das es den nationalen Anführern ermöglicht habe, eine Klientel – und damit auch Legitimität – im politischen Konflikt zu erlangen. Darüber hinaus überrascht der zweite Teil des Buchs den Leser nicht mehr. Judson übersetzt das durchweg klassisch-moderne Narrativ mit allen klassischen Meilensteinen und Themen (die 1850-er Jahre als Zeit der wirtschaftlichen Blüte, die 60-er Jahre als Zeit des politischen Liberalismus, die 70-er Jahre als Zeit der Ernüchterung davon, die 80-er Jahre als Beginn des Nationalismus, Entstehung der modernen Volksparteien, Entwicklung der Städte und des munizipalen Wahlrechts, die Frauenfrage und ähnliches; eine Ausnahme stellt die Beschreibung der zivilisatorischen und kolonisatorischen Mission Österreichs auf dem Balkan dar, die in der Annexion Bosniens und der Herzegowina ihren Höhepunkt fand) bis hin zum Ersten Weltkrieg. An ihnen will er aufzeigen, dass der Aufschwung der nationalistischen Politik sich nicht zum Nachteil des Staates, sondern dank seiner vollzog, nämlich dank seiner fiskalen Schwäche sowie der Bereitwilligkeit, nationalen Aktivisten zuzuhören, beziehungsweise sie in die politische Vertretung zu inkorporieren. Schade, dass Judson nicht von den Beispielen Gebrauch macht, die er in seinem vorigen Buch gesammelt hat und die schön die Streitigkeiten um den „nationalen Besitzstand“ an der „Sprachengrenze“ nachzeichnen.

 

Den Zerfall der Monarchie interpretiert er als Folge des verlorengegangenen Vertrauens in den Rechtsstaat, der Einführung einer Militärdiktatur und des andauernden materiellen Mangels; allerdings stellt er sich nicht die Frage nach den Ursachen für den schnellen Kollaps dieses von langer Hand aufgebauten Parlamentarismus und der repräsentativen Strukturen. Ebenso ist die Interpretation der Nachfolgestaaten als Erben der Struktur und der Probleme des Imperiums nicht wirklich neu. Und die Behauptung über die (zwangsmäßige) Zuschreibung der nationalen Identitäten als Werkzeuge gegen die Unterdrückung indifferenter Einzelpersonen wie Gruppen scheint mir allzu gewagt im Vergleich zur Interpretation von Chad Bryant in Praha v černém [Prag in Schwarz], der diesen Trend bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs ansiedelt.

 

Soll das Buch als Argument fungieren, wie er es selbst im Vorwort deklariert, so stellt es – wohl im Rahmen der allgemeinen Verständlichkeit – größtenteils keine Polemik gegen konkrete Thesen dar, sondern gegen die ganze Forschungstradition, die auf der Kategorie der Nation als grundlegendem Rahmen fußt. Das Buch kann auch gelesen werden als Nachricht über den Forschungsstand zur Habsburgermonarchie, auf der eine ganze Reihe von Arbeiten und Dissertationen der letzten Jahre basieren. In dieser Hinsicht ist Judsons Buch zweifelsohne ein Gewinn und mag heute für manchen Forscher ein nützlicher Wegweiser sein. Auf der anderen Seite kann man nicht sagen, dass es diese Rolle auch für die tschechische Historiografie erfüllen könnte – Judson zitiert weder die „Klassiker“ (Miroslav Hroch, Jiří Kořalka, Otto Urban) noch die „jungen Hoffnungsträger“ (Rudolf Kučera, Jiří Hutečka) der tschechischen Geschichtsschreibung und begrenzt sich nur auf einige Arbeiten tschechischer Historiker, die in erster Linie auf Deutsch erschienen sind. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass das Buch beiden Leserschaften gleichermaßen dient. Dem kommt auch der feine angelsächsische Stil entgegen, der sich nicht mit Begriffsdefinitionen aufhält und trotzdem transparent, sehr gut lesbar und spannungsreich berichtet – wenn auch das Ende der Habsburger Monarchie allen wohlbekannt ist.

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Peter M. Judson: The Habsburg Empire: A New History. Harvard University Press, 2016, 592 S.


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