Es schreibt: Lena Dorn

(9. 5. 2018)

Die so genannte „schöne“ Literatur kann ein hässlicher Kampf sein. Und es gibt Tote. Man denke an die Worte von Eliška Krásnohorská aus den 1860er Jahren: Wichtig sei das Bekenntnis zur tschechischen Nation nicht im eigenen Herzen, sondern auch laut und öffentlich, auf dem Kampfplatz der Gedichte … („nejen v tajnosti srdce svého, ale hlasně a veřejně, na kolbišti literatury básnické.“ Světozor 20, Nr. 8, 1886, S. 285)

 

Oder anders gesagt: Nationale Identität ist nicht einfach da, sondern sie wird in gesellschaftlichen Kämpfen hervorgebracht. Solche Kämpfe sind eingebettet in die aktuellen sozialen und politischen Themen. Das, was schließlich als Selbstverständlichkeit erscheinen soll, die „Nation“, trägt die Spuren dieser Kämpfe in sich. Und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bleiben auf diese Art und Weise in den kulturellen Repräsentationen und symbolischen Praxen langfristig aufgehoben.

 

Marek Nekulas Analyse der nationalen Auseinandersetzung und der Ritualisierung von „Nationalbegräbnissen“ in der Arbeit Tod und Auferstehung einer Nation: Der Traum vom Pantheon in der tschechischen Literatur und Kultur (Wien: Böhlau, 2017) ist ein erhellender Blick auf das 19. Jahrhundert, das europäische Jahrhundert der Formierung von Nationen als modernen Gebilden. Nekula widmet sich Detailbeobachtungen der tschechischen Kultur, seine Deutungslinien aber sind keineswegs dem nationalen Blickwinkel verhaftet. Das Buch ist parallel in zwei Sprachen erschienen; mit umfangreichem Kontextwissen und stilistisch ideenreich erarbeitete Kathrin Janka die Übersetzung ins Deutsche.

 

Der Autor orientiert sich am Konzept der „dichten Beschreibung“ (S. 45, er knüpft hier an den Ethnologen Clifford Geertz an) und zeichnet Prozesse nach, durch welche die Historiografie der tschechischen Literatur ihre große Erzählung der Sprache und der Nationalliteratur erschuf. Es ist ein Narrativ von „Geburt“, „Aufblühen“, „Blütezeit“, „Verfall“ und „Erneuerung“. Die Symbolik von Tod und Auferstehung hat darin eine große Bedeutung und die Beerdigungen ermöglichen eine Konkretisierung des Narrativs, gleichsam eine Umwandlung in gemeinschaftliches Handeln und Erleben. Zehntausende Menschen kamen mitunter bei diesen Begräbnissen zusammen und die Zeitungen berichteten ausführlich darüber. Die Begräbnisrituale als „erfundene Tradition“ (nach Hobsbawm), nämlich als tschechische „Nationalbegräbnisse“ unter die Lupe zu nehmen, erweist sich deshalb als ein produktives Unterfangen, bei dem auf mehreren Ebenen interessante Verflechtungen ans Licht kommen: Es sind Rituale, durch die das Versammlungsverbot quasi legal umgangen werden kann, bei welchen man außerdem das persönliche Opfer, das für das nationale Kollektiv erbracht wurde, feiert und lobt; es sind Zusammenkünfte, durch die in konkreter Form christliche Sinngebung in nationale transferiert sowie auch die Ewigkeit des nationalen Kollektivs beschworen werden kann (innerhalb welcher die Endlichkeit des eigenen Lebens durch die Unendlichkeit der Nation transzendiert wird) – und bei welchen überhaupt die Symbolik von „Tod“ und „Auferstehung“ durch konkrete gemeinsame Handlungen inhaltlich angefüllt wird. Die Persönlichkeiten, deren Begräbnisse wir hier nachverfolgen dürfen, sind in erster Linie Schriftsteller.

 

Bekanntlich machte die tschechische Nationalbewegung ihre Identifikation mit der tschechischen Sprache sehr explizit und gab der Sprache und Literatur als Abgrenzung vom dominierenden Deutschen ein besonders deutliches politisches Gewicht. Nekula setzt sich denn auch pointiert damit auseinander, wie (teilweise) deutsch schreibende oder anderweitig nicht ausreichend tschechisch-national politisch aktive Autoren aus dem Kanon der tschechischen Literatur aktiv verdrängt wurden (etwa Kapitel 1.5.). Die Verwendung der tschechischen Sprache war zentral, sie reichte jedoch nicht immer aus und funktionierte nicht als die einzige Eintrittskarte in das tschechische nationale Kollektiv. Wer nicht ausreichend Ansehen erworben hatte, bekam auch kein so genanntes „Nationalbegräbnis“, auch wenn er zu Lebzeiten tschechische Texte veröffentlicht hatte (etwa Kapitel 5). Dass das kollektive Identitätsangebot sich zwar als allgemein und gleich geriert, dabei aber auf realen Ausschlüssen und Widersprüchen aufbaut, wird im Laufe des 19. Jahrhunderts in Europa bekanntlich auch an den antisemitischen und misogynen Tendenzen deutlich.

 

Ein großer Analysestrang behandelt die Repräsentation der Nation im öffentlichen Raum und die Entstehung und Bedeutung von Denkmälern und „Pantheons“, in welchen an nationale Helden erinnert wird. Es sind dies zunächst die Realisierungen in Stein und Bild, in Kapitel 8 aber auch „literarische Pantheons“ wie Biografien-Sammlungen. Diesen Vorgang kann man als Weiterführung des Nationalbegräbnisses verstehen: Es findet eine Transformation der Persönlichkeit in ein nationales Symbol statt (S. 323). Das Konzept „Pantheon“ wird zunächst in einer breiten europäischen Perspektive vorgestellt (Kapitel 2), wobei es auch um die Bewegung von universalen hin zu den nationalen Pantheons geht (darunter etwa auch die Walhalla bei Regensburg).

 

Kapitel 6 widmet sich schwerpunktmäßig dem Schriftstellerverein Svatobor. Der Leser bekommt hier einen Einblick in die materiellen Grundlagen und Interessen der literarischen und vorgeblich allgemein-nationalen Arbeit. – Geht es in der literarischen Kanonbildung darum, in einem sorgfältigen Auswahlprozess die qualitativ besten Werke, die geschrieben wurden, zu identifizieren? Wohl eher nicht – hier finden sich Fragen wieder, die in den letzten Jahren auch in anderen Forschungsbereichen, etwa zur „World Literature“, aufgeworfen wurden. Der Svatobor verwaltete seit seiner Gründung 1862 Spendengelder und errichtete zum einen Denkmäler und Grabmale für die „großen Männer“ der Nation, die sich um die tschechische Sprache verdient gemacht hatten, zum anderen verwaltete er verschiedene Fonds, die Preise und Reisestipendien an vielversprechende Autoren auszahlten. In Nekulas Ausführungen wird deutlich, dass die Ausschüsse des Svatobor zwar einen gesamtnationalen Anspruch formulierten, dabei aber eigene politische und ökonomische Interessen in den Vordergrund stellten und mitunter Geld an sich selbst auszahlten, also an Autoren, die im Ausschuss saßen. „So könnte man ohne Übertreibung konstatieren, dass ihre Funktion im Svatobor ihnen bei der Durchsetzung ihrer eigenen literarischen und ökonomischen Interessen diente oder dienen konnte.“ (S. 420) Der Verein funktionierte auch unter Ausschluss von Frauen. Als der Amerikanische Damenklub (Americký klub dam) 1869 eigenmächtig ein Denkmal für Božena Němcová errichtete, hatte dies zur Folge, dass die Polizei die Satzung des Klubs überprüfte; der Damenklub wurde daraufhin 1870 verboten. Frauen wurden zwar durch den Svatobor finanziell unterstützt, aber nur als die Hinterbliebenen von wichtigen Männern. Hier zeigt sich unter anderem, dass das „Opfer“ für die Nation, das zu erbringen erwartet wurde und um das es auch bei den Begräbnissen ging, geschlechtlich zugewiesen ist.

 

Weitere Kapitel beleuchten an umfangreichen Materialanalysen entlang die Symboliken und Namen von europäischen und tschechischen Pantheons, die Begräbnisse und die Berichterstattung darüber sowie Kanonisierungsprozesse und die Literaturgeschichtsschreibung in ihrem Verhältnis zum Nationalpantheon. Durch den europäischen Blickwinkel treten die tschechischen Spezifika heraus, darunter die Form der Biografien-Sammlungen, die Nekula in ihrer Funktion innerhalb der kollektiven Identitätsbildung untersucht. Solche Sammlungen seien in den böhmischen Ländern zunächst mehrdeutig, „sprachlich hybride“ und damit ein Stück weit deutungsoffen gewesen, erst allmählich wurden sie „tschechoslawisch vereindeutigt und damit ethnonational re-konstruiert“ (S. 643).

 

Auf der theoretischen Ebene ist es eines von Nekulas Anliegen aufzuzeigen, dass die symbolische Praxis der Nation nicht erst in einer Spätphase der Nationwerdung Relevanz erlangt, sondern dass die Nation von Anfang an in ihrer symbolischen Praxis hervorgebracht wird. Er positioniert sich damit also im Feld der Erforschung von Begriff und Geschichte der Nation und vertritt einen Hybriditätsbegriff in Anschluss an Homi Bhabha. Das Buch hätte insofern das Potential, in vielen Fachbereichen rezipiert zu werden; nicht nur in der Literaturgeschichte, sondern auch in der kritischen Nationalismusforschung, der Kunstgeschichte oder der historischen Anthropologie. Eine breite Rezeption ist diesem Buch zu wünschen.

 

 

Marek Nekula: Tod und Auferstehung einer Nation: Der Traum vom Pantheon in der tschechischen Literatur und Kultur. Wien: Böhlau, 2017, 726 S.

Marek Nekula: Smrt a zmrtvýchvstání národa: Sen o Slavíně v české literatuře a kultuře. Praha: Karolinum, 2017, 594 s.


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