Es schreibt: Adéla Rossípalová

(25. 4. 2018)

Bis zu seiner Entlassung aus der Neuen Leipziger Zeitung nach Hitlers Machtübernahme galt der aus Prag stammende Schriftsteller Hans Natonek in der Weimarer Republik als renommierter Romancier, Redakteur und Feuilletonist. Mit dem Gang als Jude ins Prager Exil verlor er dann aber nicht nur seine neu erworbene Heimat, in der er seit 1913 lebte, sondern auch seine Leser, zu denen er bis zu seinem Tod im amerikanischen Exil nie wieder den Weg gefunden hat.

 

Nach den in den letzten Jahren von der Publizistin Steffi Böttger herausgegebenen Artikelsammlungen (Im Geräusch der Zeit. Gesammelte Publizistik 1914–1933 [2006] und Letzter Tag in Europa. Publizistik von 1933–1963 [2013]) und nach ihrer Biografie über Natonek (Für immer fremd. Das Leben des jüdischen Schriftstellers Hans Natonek [2013], alle erschienen im Leipziger Lehmstedt-Verlag) wurde im Jahre 2016 der Persönlichkeit Hans Natoneks eine weitere Publikation gewidmet, die im Rahmen eines internationalen studentischen Projektes zwischen der Universität Leipzig und der Karls-Universität Prag entstanden ist. Der Band wurde von seinen Herausgeberinnen Viera Glosíková (Lehrstuhlleiterin der Germanistik an der Pädagogischen Fakultät der Karls-Universität in Prag), Sina Meißgeier (freie Journalistin) und Ilse Nagelschmidt (Professorin der germanistischen Literaturwissenschaft in Leipzig) „Ich träumte: ich saß in der Schule der Emigranten…“ Der jüdische Schriftsteller und Journalist Hans Natonek aus Prag überschrieben, was jedoch irreführend wirken kann. Das im Berliner Frank & Timme-Verlag herausgegebene Buch beschäftigt sich nämlich in rund zwanzig Beiträgen neben Natoneks Lebenslauf fast ausschließlich mit einem Werk und zwar seinem autobiografischen Roman Die Straße des Verrats (von Wolfgang U. Schütte erst im Jahre 1982 veröffentlicht), wobei seine anderen Werke außer ein paar Feuilletons kaum beachtet werden.

 

Der Band ist zweckmäßig, wenn auch nicht ganz übersichtlich, in thematische Sektionen gegliedert, in denen stufenweise Natoneks Verortung in der literarischen Welt und die wichtigsten Lebensphasen (Prag als Geburtsort, Deutschland, Prag als Exilstätte, Amerika) behandelt werden. Danach werden die zentralen Themen/Motive/Konzepte/Aspekte des Romans (Fiktions- und Autorenkonzept, Autobiografie, Verrat, Schuld und Vergebung, Figurenanalyse, „Judesein“, Antisemitismus und Heimat) analysiert und mit der Wirklichkeit verglichen. Auf diese Weise versuchen die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur die fast vergessene Persönlichkeit Hans Natoneks der breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, sondern sie beabsichtigen auch, anhand des Romans Die Straße des Verrats eine eingehende Untersuchung und ein solides Porträt der Zwischenkriegsjahre zu leisten. Die Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse nach der Machtübernahme 1933 wird an der Ehe zwischen dem jüdischen Publizisten Peter Nyman, der seine Ehefrau mit einer Jüdin betrügt, und seiner deutschen, immer mehr nationalsozialistisch gesinnten Gattin Margaret aufgezeigt. Der Ehekonflikt wird treffend „als eine Mikrodarstellung des Weltgeschehens“ (S. 118) interpretiert, womit die ganze Epoche als durch Ungewissheit, Angst vor Verlust und Hass-Liebe-Beziehungen sowohl zum Land, als auch zum Gegenüber und zu sich selbst bestimmt dargestellt wird. Das Motiv der Schuld und der Opfertopos spielen in der Analyse eine gewichtige Rolle, wobei sich Peter Nyman als der Schuldige bzw. als ein Schwächling entpuppt: „Nyman wird zum Symptom seiner Zeit.“ (S. 112) Wegen seiner Unfähigkeit, sich zwischen der Jüdin Ruth und seiner Ehefrau Margaret, also zwischen dem Judentum und dem Exil einerseits und dem Deutschtum und der Familie andererseits, zu entscheiden, vermag er nämlich die ganze Situation nicht zu lösen. Gefühle des Verrats und der Ungewissheit werden dabei als epochenspezifisch interpretiert. Außerdem werden die damit thematisch verbundenen Motive der Heimat und des Heimatverlustes analysiert, die üblicherweise in keiner Publikation über einen Exilautor fehlen. Auch in diesem Band wird von daher auf den oft zitierten Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? von Jean Améry eingegangen, und es wird bestätigt, dass auch Natonek sowie seine autobiografische Hauptfigur Peter Nyman von dem Verlust der Sicherheit/Heimat stark geprägt waren, denn, wie es im Titel eines Kapitels heißt: „Heimat ist ein Sicherheitskonstrukt“ (S. 197). Dieses Kapitel wiederholt allerdings vieles über Natoneks Leben, was bereits in den vorangehenden Kapiteln beschrieben wurde.

 

Ein unbestreitbarer Vorteil des Bandes ist seine Auseinandersetzung mit der Thematik der deutschböhmischen bzw. Prager deutschen Literatur, da diese an den Lehrstühlen für Germanistik in Deutschland nur am Rande unterrichtet wird. Die erschöpfende Analyse des Romans Die Straße des Verrats und das Aufzeigen seiner Parallelen mit Natoneks Leben garantieren ein gutes Verständnis der Epoche am Ende der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus nach Hitlers Machtübernahme. Die im Vorwort versprochene detaillierte Charakterisierung der ganzen Zeitepoche, die auf Grund von Natoneks Schicksal und seinem Zeitroman präzise geschildert ist, kann als gelungen gelten und bildet ein Verdienst des Buches. Als Ganzes erweckt der Band jedoch gelegentlich den Eindruck, ein Lehr- bzw. Übungsbuch für Studierende zu sein, in dem sie ihre Interpretationsfähigkeiten und erzählanalytischen Kenntnisse (aus Genettes Die Erzählung sowie Martínez’ und Scheffels Einführung in die Erzähltheorie) an einem spezifischen, begrenzten Gegenstand überprüfen können. Es werden literarische und soziologische Grundbegriffe erläutert (Feuilleton, Assimilation) und theoretische Einführungen zitiert (z. B. Josef Peterkas Teorie literatury pro učitele und Andreas Anters Theorien der Macht. Zur Einführung), was die Nähe des Bandes zu einem Lehrbuch für Literaturstudierende unterstützt. Der literaturwissenschaftliche Ertrag einer solchen Einzelwerkanalyse bleibt aber begrenzt.

 

Was die Genauigkeit der präsentierten Informationen betrifft, wird in mehreren Beiträgen ein unterschiedliches Datum von Natoneks erzwungenem Umzug nach Prag angegeben – an einigen Stellen heißt das Jahr richtig 1934, an anderen jedoch fälschlicherweise 1933 (siehe die Beiträge von Polcarová, Richter und Ohlshausen). Auch werden als die Entstehungsdaten des Romans einmal die Jahre 1933–1939 (Richter und Ohlshausen), einmal korrekt 1935–1938 (Volfová) angeführt. In den einzelnen Artikeln, größtenteils in ihren Einleitungen, werden häufig Grundinformationen über den Roman oder Autor wiederholt, was bei der Lektüre irritierend wirkt. Dies ist jedoch meist unvermeidlich, weil diese in allen Fällen zu weiteren Erläuterungen führen. Außerdem begegnet man kleineren stilistischen und grammatischen Fehlern, Ungenauigkeiten in der Zitierung (Anführungszeichen werden einmal vor, einmal nach der Interpunktion angeführt; einige in nachfolgenden Aufsätzen neu erwähnte Titel werden in der Fußnote manchmal voll zitiert, manchmal nur verkürzt; an einigen Stellen beginnen die Fußnoten mit „ebd.“ ohne Angabe des Autornamens/Titels usw.) oder fehlenden Namen (Beitrag Hinführung, S. 193).

 

Darüber hinaus sind die einzelnen Kapitel des Bandes leider nicht nummeriert und könnten auf eine sinnvollere Weise zusammengestellt werden. So könnten u. a. die Artikel von Hofmann und Heidel in einem gemeinsamen Unterkapitel behandelt werden und nicht getrennt, oder ähnlich könnten die ersten biografischen Kapitel eine abgetrennte Einheit bilden. Ein Literaturverzeichnis und kurze Biografien der einzelnen Autorinnen und Autoren am Ende des Bandes wären wünschenswert gewesen, um einen Überblick über die verwendeten Titel sowie über die Beitragenden zu erhalten. Die Zeittafel am Ende des Bandes gibt dem Leser einen guten Überblick über Hans Natoneks Leben.

 

Trotz mancher Mängel ist die Gesamtleistung des Bandes nicht zu vernachlässigen. Er entdeckt auf einem ansprechenden Niveau den heute erneut an Popularität gewinnenden Autor Hans Natonek mitsamt seiner publizistischen Arbeiten als einen begabten Romancier wieder und zeigt an seinem Beispiel die schwierige Situation, in der sich jüdische Autoren während des Nationalsozialismus und im Exil befanden. Die Studentinnen und Studenten zeigen sehr gute erzähltheoretische, literaturanalytische und sprachliche Kenntnisse, was einen guten Verlauf des deutsch-tschechischen Projektes beweist.

 

 

Viera Glosíková / Sina Meißgeier / Ilse Nagelschmidt (Hrsg.): „Ich träumte: ich saß in der Schule der Emigranten…“ Der jüdische Schriftsteller und Journalist Hans Natonek aus Prag. Berlin: [Literaturwissenschaft, Bd. 61] Frank & Timme Verlag, 2016, 232 S.


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