Es schreibt Martin Hořák

(11. 4. 2018)

Wer sich für den aktuellen Forschungsstand im Bereich der Rudolfinischen Kunst interessiert, hat vielleicht bemerkt, dass das Kateřina Dušková Memorial Fellowship, das vom Prager Forschungszentrum für Bildende Kunst und Kultur im Zeitalter Rudolfs II. am Institut für Kunstgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik verliehen wird, 2007 an die junge deutsche Kunsthistorikerin Evelyn Reitz verliehen wurde – damals Doktorandin an der Freien Universität Berlin. Ihren Stipendienaufenthalt in Prag verwertete Reitz in ihren Studien über zwei wesentliche Persönlichkeiten des Prager kaiserlichen Hofes, die Maler Bartholomäus Spranger und Hans von Aachen, in denen sie nicht nur den Bereich ihres eigenen Forschungsinteresses umriss, sondern auch die Breite und Tiefe ihrer Gelehrsamkeit (vgl. Bartholomäus Sprangers Selbstbildnis zwischen Herkunft und Fremde, Studia Rudolphina, 2009; Die Entwicklung Hans von Aachen zum Allegoriker, München / Prag: Studia Rudolphina, Sonderheft, 2009). Diese bestätigte sie souverän kurz danach in ihrer Dissertation, die sie 2012 verteidigte und drei Jahre später unter dem Titel Discordia Concors. Kulturelle Differenzerfahrung und ästhetische Einheitsbildung in der Prager Kunst um 1600 veröffentlichte.

 

Diese umfangreiche wissenschaftliche Synthese weckt das Interesse durch eine Fülle an zitierter Literatur, inklusive einer Reihe von Titeln auf Tschechisch, durch die Anzahl verwendeter schriftlicher und ikonografischer Quellen und durch die Sicherheit, mit der sich die Autorin auf dem Feld der antiken und frühneuzeitlichen Philosophie, Literatur und kunstwissenschaftlichen Theorie bewegt. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient das originelle und durchaus mutige Konzept dieser Arbeit, die sich um ein völlig neues Verständnis des Phänomens der Rudolfinischen Kunst bemüht.

 

In der Einführung zitiert Reitz einen Brief des flämischen Kupferstechers Jan Sadeler an Rudolf II., in dem der Verfasser 1580 den Kaiser um die Erteilung einer Drucklizenz bat, sich auf dessen Schutz berief und die Bereitschaft zeigte, sich mit der ganzen Familie ins Exil zu begeben, um den unerfreulichen politischen und religiösen Verhältnissen im eigenen Land zu entgehen. Die Lebenserfahrung, die hier Sadeler umriss und die mit doppeltem Verlust – der Heimat und des Glaubens – verbunden war, war typisch für das Schicksal einer Reihe niederländischer Künstler Ende des 16. Jahrhunderts. Reitz hält sie für eine Art „Topos“ der kollektiven Biografie der Künstler, die zum Kern der Rudolfinischen Kulturschicht gehörten. Im Unterschied zu den vorherigen Forschern, die sich mit dem Thema des erzwungenen Fortgangs der Künstler aus den vom bewaffneten Konflikt der niederländischen Stände mit der spanischen Macht betroffenen Gebieten befassten, versucht Reitz einen direkten, man könnte sagen strukturellen Zusammenhang zwischen den ideellen Strömungen (z. B. den Gedanken des Philosophen und Humanisten Justus Lipsius, 1547–1606), den sich aus der Exilerfahrung ergebenden Lebensstrategien und dem Charakter künstlerischen Schaffens in Prag um 1600 zu belegen.

 

Die bisherigen Bemühungen um eine komplexe Erfassung Rudolfinischer Kunst hält die Autorin für partiell: ob es sich um eine Auffassung handelte, welche die Annäherung an den Manierismus betont, eine, die die Rolle des kaiserlichen Mäzenatentums hervorhebt, oder um die Theorie der „Prager Schule“, deren Autor Thomas DaCosta Kaufmann, amerikanischer Kunsthistoriker und einer der führenden Experten für Rudolfinische Malerei und Grafik, sich im Rahmen dieser Genres auf die Erforschung des Gewebes literarischer Verweise und Anspielungen konzentriert; diese seien eine Art gewesen, kaiserliche Repräsentation darzustellen, seiner Meinung nach verbirgt sie sich auch hinter der scheinbaren Bizarrerie und Komik solcher Werke wie Arcimboldos „Kompositionsköpfe“ inklusive des berühmten Kryptoporträts Rudolfs II. als Vertumnus.

 

Als Alternative zu diesen Auffassungen legt Reitz ein Konzept vor, das auf dem Begriff der „kulturellen Differenz“ begründet ist und ihrer Meinung nach die inneren Widersprüche bisheriger Deutungsmodelle zu überwinden ermöglicht, wie z. B. das gleichzeitige Auftreten naturalistischer und manieristischer Tendenzen in der Rudolfinischen Kunst. Mittels eines einzigen Verweises beruft sich die Autorin auf die postmoderne Kulturtheorie, entwickelt diese Linie aber nicht weiter und bemüht sich nicht um eine tiefere Einbettung ihrer Ausführungen in den gegenwärtigen theoretischen Rahmen der Geisteswissenschaften. Dabei wären die Vorzüge und Risiken der biographischen Methode, einer der Bausteine der methodologischen Konzeption des Buches, wenigstens eine kurze Analyse wert.

 

Den Kern der ganzen Arbeit stellen vier Kapitel dar, die die verschiedenen Äußerungen und Modi „kultureller Differenz“ im Rahmen Rudolfinischer Kunst behandeln. Das erste Kapitel beschäftigt sich damit, welche Auswirkungen die oben erwähnte Lebenssituation des erheblichen Teils niederländischer Künstler, die am Hofe Rudolfs II. wirkten, auf den Stilcharakter ihres Werks hatte. Das nächste Kapitel widmet sich der Art der Darstellung religiöser Motive im rudolfinischen Kulturkreis. Das dritte Kapitel thematisiert künstlerische Selbstreflexion in den Werken rudolfinischer Maler, Grafiker und Bildhauer und erforscht die Frage ihrer Bedingtheit durch deren niederländische Herkunft. Zum Schluss wendet Reitz ihre Aufmerksamkeit der Problematik der „emulatio“ zu, also der Art künstlerischen Schaffens, die sich von der Natur inspirieren ließ, sich jedoch nicht mit der Nachahmung („imitatio“) der Erscheinungen der Welt zufriedengab. Reitz verbindet den Aufschwung dieser künstlerischen Methode – die sich auf der Auswahl und Veredelung dargestellter Naturelemente gründet – mit der Inspiration, die Rudolfs „Kunstkammer“ den Künstlern am Prager Hof um 1600 bot.

 

Die offenkundige Disproportion zwischen dem Umfang von Evelyn Reitz’ Arbeit und diesem knappen Beitrag erlaubt es nicht, die einzelnen Kapitel ausführlich vorzustellen. Darüber hinaus gliedern sich diese thematischen Einheiten in eine Reihe kleinerer analytischer Texte, die sich den ausgewählten Kunstwerken, ikonografischen Stoffen oder kulturhistorischen Zusammenhängen widmen, wie z. B. der Rolle der Gruppierungen ausländischer Künstler in Italien oder der Bedeutung der Kunstagenten. Diese Teilsondierungen sind unheimlich präzise bearbeitet. Wahlweise sei erwähnt, dass sich Reitz im ersten Kapitel unter anderem mit der italienischen Periode im Leben Bartholomäus Sprangers beschäftigt. Sie weist darauf hin, dass die Künstler aus Sprangers Generation im Unterschied zu ihren Vorgängern, den niederländischen Romanisten, nicht ausschließlich aus Studiengründen nach Italien wechselten, sondern auch unter dem Druck der Umstände. Das Bedürfnis, sich langfristig in der neuen Umgebung zu etablieren und sich auf dem dortigen Markt durchzusetzen, spiegelte sich in ihrer weiteren künstlerischen Entwicklung. Auch Spranger musste sich in Italien am Anfang auf die „niedrigeren“ Genres fokussieren, auf Landschaftsmalerei, Kabinettmalerei oder – wie Reitz an seinen frühen Aufträgen für die Familie Famese demonstriert – auf Grotesken und andere Nebenmotive („parergon“) im Rahmen der Wandmalerei. Sein malerischer Ausdruck entwickelte sich so weniger in die klassische Richtung, als wenn er die traditionelle Schule durchlaufen hätte, die vom Kopieren der Vorbilder aus Antike und Renaissance ausging. Im Zusammenhang mit dem Kapitel über die religiöse Thematik kann man auf die Analyse zweier Werke aus der Dreifaltigkeitskirche im schlesischen Żórawina/Rothsürben hinweisen, die wir vor Jahren in Prag in einer Ausstellung über die kulturellen Beziehungen zwischen Schlesien und den Böhmischen Ländern bewundern konnten: Sprangers Bilds Die Taufe Christi und die Bronzestatue Christus an der Säule von Adriaen de Vries (vergl. Andrzej Niedzielenko / Vít Vlnas: Schlesien. Die Perle in der Krone Böhmens. Drei Blütezeiten der gegenseitigen Kunstbeziehungen, Prag, 2006). Reitz zeigt an diesem Beispiel, dass die schwierige religiöse Lage am Prager Hof um 1600 zur Entstehung von konfessionell beinahe merkmallosen Werken beitrug, die sowohl in der katholischen, als auch in der protestantischen Umgebung existieren konnten und deren Religiosität eher von Psychologie und Ethos als von äußeren Attributen getragen wurde.

 

In ihrer Zusammenfassung kommt Reitz auf den Begriff „Discordia concors“ zurück, der als Anagramm aus Horaz' Wendung „Concordia discors“ – zwieträchtige Eintracht – entstand. Durch die Betonung des Wortes „discordia“ stellt die Autorin den polyfonen und polyvalenten Charakter der Rudolfinischen Ära in den Vordergrund, der ihrer Meinung nach das eigentliche Attribut der Prager Kunst um 1600 ist. Gleichzeitig zeigt Reitz dadurch, dass sie sich zum Ziel gesetzt hat, diese Kunst so zu erfassen, dass die synthetisierenden Ausführungen der Heteronomie historischer Wirklichkeit nicht zu Lasten fallen. Die Grundthese, mit der sie aufwartet – dem inneren Zusammenhang zwischen dem Exil niederländischer Künstler und den formalen und inhaltlichen Merkmalen Rudolfinischer Kunst –, wird in Fachkreisen sicher noch Stoff zur Diskussion geben. Auch Reitz selbst gibt zu, dass das Paradigma der „kulturellen Differenz“ nicht der einzige Schlüssel zur Interpretation Rudolfinischer Kunst sein muss. Ihr Versuch um eine ganzheitliche Erfassung dieses komplexen Phänomens verdient jedoch gewiss Aufmerksamkeit und seine Impulse werden noch durch die Tatsache gesteigert, dass er die zurzeit so aktuelle Frage der Migration berührt, ohne dass die Autorin hinsichtlich der Zeit der Entstehung ihrer Arbeit einer gezwungenen Aktualisierung verdächtigt werden soll.

 

Übersetzung: Katka Ringesová

 

Evelyn Reitz: Discordia concors: kulturelle Differenzerfahrung und ästhetische Einheitsbildung in der Prager Kunst um 1600. Berlin / Boston, Mass.: De Gruyter, 2015 (Ars et Scientia, Bd. 7), 644 S.


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