Es schreibt: Luis Carlos Cuevas

(30. 3. 2018)

Das Werk des deutschsprachigen Prager Autors Egon Erwin Kisch (1885–1948) hat noch nicht den ihm gebührenden Platz in der Germanistik gefunden. Ein Grund dafür könnte die öffentlich vertretene kommunistische Ideologie des sogenannten „rasenden Reporters“ sein. Sie verkomplizierte während des Kalten Krieges und auch darüber hinaus die Rezeption seiner Texte und prädisponierte den (potenziellen) Leser, Kischs literarische Reportagen als programmatisch zu etikettieren und diese so systematisch zu vernachlässigen. Da seine Texte in dieser Sicht ausschließlich zur Verbreitung einer politischen Gesinnung dienen sollten, wurden sie oft bloß gefeiert oder ignoriert, selten aber in ihren vielfältigen Dimensionen gelesen. Kischs belletristische Bestrebungen begannen jedoch nicht erst 1925 mit dem Eintritt in eine Partei, und das Politische ist keinesfalls die einzige interessante Dimension seines Werks. Genau diese Mehrdimensionalität im Werk des „rasenden Reporters“ wird vom Sammelband Im Einzelschicksal die Weltgeschichte: Egon Erwin Kisch und seine literarischen Reportagen, herausgegeben von Viera Glosíková, Sina Meißgeier und Ilse Nagelschmidt (Berlin: Frank & Timme, 2016) auf eine hervorragende Weise beleuchtet. Nur einer der 18 spannenden Beiträge konzentriert sich dabei allein auf die politische Ebene von Kischs Buch Marktplatz der Sensationen (1942). Die restlichen aber setzen sich so intensiv mit unterschiedlichen literarischen und biographischen Aspekten des Autors auseinander, dass der Band als ein erklärendes und ideenreiches Kisch-Kaleidoskop zu loben ist.

 

Die gut begründeten Argumentationen sowie der im Allgemeinen lesefreundliche Stil der Verfasser eignen sich sowohl für Fachleute als auch für nicht spezialisierte Leser. Die Beiträge füllen alte Forschungslücken – wie die Frage der Übersetzbarkeit des Humors von Kisch –, und in einigen Fällen finden sich Ansätze, die bisher in Kisch-Studien kaum zur Anwendung kamen, wie etwa die Kosmopolitismus-Theorie. Damit öffnet dieser Sammelband auch neue Forschungsperspektiven.

 

Allerdings kommen ein paar Beiträge etwas zu abrupt zum Schluss. Dies erschwert es, manche Schlussfolgerungen, die sich aus der Analyse von einzelnen Fragmenten ergeben, als repräsentativ für das gesamte Werk des Autors zu betrachten. Dieser argumentativen „Eile“ begegnet man aber eher selten, und wenn man den Kontext der Entstehung des Buches im Auge behält, muss man den Herausgeberinnen dafür danken, talentierte Studierende früh in die literaturwissenschaftliche Arbeit integriert zu haben. Wie im Vorwort zu lesen ist, entstand der Sammelband im Rahmen eines binationalen Projektes zwischen der Karls-Universität Prag und der Universität Leipzig. Die Herausgeberinnen haben die Aufenthalte der Studierenden in beiden Städten organisiert und begleiteten die Beiträge bereits von ihrer Konzeption an. Diese interkulturelle Zusammenarbeit prägt das Ergebnis sehr positiv. Aufgrund ihrer Beherrschung des Tschechischen untermauern die Autoren ihre Thesen nicht nur mit den Arbeiten der bekanntesten Kisch-Forscher im deutschsprachigen Raum wie Marcus Patka, Dieter Schlenstedt und Karin Ceballos Betancur, sie bringen auch aktuellere tschechische Publikationen ins Spiel, die leider häufig außerhalb der Debatten der deutschsprachigen Germanistik bleiben, wie zum Beispiel die Beiträge des Prager Symposiums: Egon Erwin Kisch známý a neznámy (2005).

 

Das Buch unterteilt sich in fünf Sektionen. In der ersten finden sich die Beiträge, die sich mit der von Kisch praktizierten Gattung auseinandersetzen. Hier wird die Spezifität seiner literarischen Reportagen gründlich erklärt und die ästhetische Komposition von Marktplatz der Sensationen erörtert. Die zweite Sektion widmet sich den Auseinandersetzungen mit Kischs Darstellungen von Menschengruppen am Rande der österreichisch-ungarischen Gesellschaft und seiner Kritik an der Doppelmoral der höheren Schichten seiner Heimatstadt. Ebenfalls wird von Julia Heidel spannend analysiert, wie Kisch sich selbst verkleidete, um für seine bekannten abenteuerlichen Rollenreportagen vor Ort zu recherchieren, zum Beispiel als er sich als Obdachloser in einem Asylheim in der Peripherie Prags tarnte.

 

Die Beiträge, die die literarische Inszenierung von biografischen Aspekten des Autors in den Mittelpunkt stellen – wie sein Verhältnis zum Judentum und die Heimatkonstruktion in seinen Texten aus dem mexikanischen Exil in den 1940er Jahren –, sind in der dritten Sektion zusammengestellt. Hier wird erörtert, wie Prag mit seinen verschiedenen Sammelpunkten von Deutschen und Tschechen zu einem wesentlichen und wiederkehrenden Thema in Kischs Werk geworden ist und wie er sich in einer zweisprachigen Stadt mit unterschiedlichen Identitäten als eine vermittelnde Instanz selbst inszenierte. In dieser Sektion zeichnet sich ein Beitrag über die Prager Kaffeehauskultur besonders aus. Sie entfaltete sich in Kischs Zeit als ein sehr beliebter Diskussionsraum für Schriftsteller. Kaffeehäuser werden um 1900 für Prager Journalisten eine Art „Nachrichtenbörse“, in deren Rahmen sie „frische“ Auskünfte für die Zeitungen ausgetauscht haben sollen. Der ausgezeichnete Text von Katrin Heilen und Charlotte Ristein beinhaltet ebenso eine Beschreibung mit Fotos der in Prag heute noch existierenden Lokale der Epoche.

 

Die nächste Sektion besteht ausschließlich aus einem einzigen, aber exemplarischen Beitrag. Sina Meißgeier und Karin Polcarová wenden die Kosmopolitismus-Theorie an, die bereits im Kontext anderer literaturwissenschaftlicher Studien sehr bekannt ist, aber nie so überzeugend auf Kischs Reportagen angewendet wurde. Sie plädieren zu Recht für die Anerkennung von Kisch als Kosmopolit und nicht mehr als Eurozentrist – was ihm oftmals vorgeworfen wurde –, weil seine mehrperspektivischen Inszenierungen Raum für die „anderen“ Kulturen öffnen und er sich diese sogar aneignet.

 

Die feine (Selbst-)Ironie – vor allem bezüglich seines journalistischen Berufes – ist einer der Hauptmerkmale in den Texten des „rasenden Reporters“. Die Beiträge der letzten Sektion sind den Funktionen der Komik in seinen literarischen Reportagen gewidmet. Hervorzuheben ist die vergleichende Studie zur Übertragung des Humors von Kisch aus dem Deutschen ins Tschechische. Lucie Semérádová nimmt die Arbeit der literarischen Übersetzerin Jarmila Haasová-Nečasová – die mit Kisch befreundet war – unter die Lupe und beschreibt, wie sie die Zwischenbemerkungen des Autors auf eine gelungene Weise ergänzen konnte, so dass der humoristische Punch der Texte nicht verloren geht.

 

Obwohl sich die Beiträge des Sammelbandes gelegentlich thematisch überschneiden, tauchen keine Wiederholungen auf. Die Herausgeberinnen haben einen Band veröffentlicht, der von A bis Z genossen werden kann und nicht nur als Nachschlagewerk zu verstehen ist. Sie liefern eine exzellente Gesamtschau von Kischs Werk.

 

Nichtdestotrotz lässt sich (auch) Kritik an dieser Publikation üben. Die Hauptlektüre der Beiträge beschränkt sich meistens auf Marktplatz der Sensationen. Obwohl es eines der in aller Welt bekannten Kisch-Bücher ist und es die wichtigsten Reflexionen über seinen lebenslangen Reporterberuf beinhaltet, sollte man dieses Buch der Gattung der Autobiografie und nicht der der literarischen Reportage zurechnen – worauf schon vor längerer Zeit Karin Ceballos Betancur (Egon Erwin Kisch in Mexiko. Die Reportage als Literaturform im Exil, 2000) hinwies. Darüber hinaus wurde das Buch bereits im Exil publiziert. Kisch hat jedoch die Mehrheit seiner Texte verfasst, als er noch freiwillig reiste. Seinen Abenteuern auf den fünf Kontinenten widmete er hunderte – wenn nicht tausende – von Reportagen. Obwohl aber genau diese Sammelbände seinen Weltruf als literarischer Reporter begründeten, sind sie auch diejenigen, die hier unbeachtet bleiben. Das Exil und das „goldene Prag“ besitzen eine Anziehungskraft, die immer wieder die Blicke beanspruchen. Es scheint ungerecht, dass nur ein einziges von seinen mehr als dreißig Büchern, das außerdem nicht unbedingt der vom Autor meist praktizierten Gattung zugehört, als Kischs repräsentativstes Buch schlechthin ausgewählt und fast ausschließlich untersucht wird. Diese Bemerkung gilt aber nicht allein für diesen Sammelband, sondern ebenso für die meisten Kisch-Studien.

 

Der von Glosíková, Meißgeier und Nagelschmidt herausgegebene Sammelband ist alles in allem eine ausgezeichnete Einladung für Fachleute, Kischs Leben und Werk aus neuen Perspektiven zu recherchieren. Der nicht spezialisierte Leser wird ebenso gut „ausgerüstet“, um die belletristischen Arbeiten eines der bedeutendsten Prager Schriftsteller zu entdecken.

 

Viera Glosíková / Sina Meißgeier / Ilse Nagelschmidt (Hg.): Im Einzelschicksal die Weltgeschichte: Egon Erwin Kisch und seine literarischen Reportagen. Berlin: Frank & Timme, 2016, 184 S.


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