Es schreibt Petr Brod

(E*forum, 8. 11. 2017)

Der Band Das deutschsprachige Prag, der Ende letzten Jahres vom Adalbert Stifter Verein, einer bekannten Münchener Kulturinstitution der Sudetendeutschen, herausgegeben wurde, hat eine etwas kuriose Entstehungsgeschichte und man kann sich nicht mit dem Buch befassen, ohne zuvor ausführlicher auf die tschechische Ausgangspublikation von 2014 einzugehen. Diese trägt den Titel Německy mluvící Praha. Galerie osobností. [Das deutschsprachige Prag. Eine Galerie der Persönlichkeiten.] Der Übersicht halber wird des Weiteren im Text die deutsche Publikation als DP und die tschechische als NMP abgekürzt.

 

Das NMP ist ein kollektives Werk von etwa fünfzig Schülerinnen und Schülern des Prager Gymnasiums Na Zatlance, die sich unter Anleitung ihres Lehrers Radek Aubrecht längere Zeit mit der Rolle der Deutschen in der tschechischen Gesellschaft ab dem 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges beschäftigt haben. Aus den gewonnenen Erkenntnissen erarbeiteten sie Texte, die sie in der zweigeteilten Publikation zusammenfassten: zum einen in einem dreißigseitigen narrativen Einleitungskapitel über Das Leben der deutschen Gemeinschaft, zum anderen im 220-seitigen Biografischen Lexikon. Herausgegeben wurde der Band vom Gymnasium selbst, in Kooperation mit dem Prager Franz-Kafka-Verlag [Nakladatelství Franze Kafky] und mit finanzieller Unterstützung einiger Geldgeber, unter anderem des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.

 

Anders als es die Überschrift des einleitenden Kapitels suggeriert, wird die Situation der Prager Deutschen nicht in einen breiteren Kontext der Geschichte Prags eingebettet. Vielmehr handelt es sich um eine Reihe kurzer Porträts deutschsprachiger Institutionen in Prag (wie z. B. die Deutsche Universität, das Neue Deutsche Theater, der Verein Deutsches Casino) sowie kultureller Phänomene (wie der sog. „Prager Kreis“ deutschsprachiger Schriftsteller), gesellschaftlicher Gruppen (wie die deutsch-jüdische Bevölkerung Prags) oder Vereine (wie deutsche Fußballvereine). Der Fokus liegt dabei auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Zwar wird dem sehr hohen Anteil der jüdischen Bevölkerung bei den Prager Deutschen genügend Aufmerksamkeit gewidmet, doch die antisemitischen Klischees von den reichen Israeliten konnten dadurch, zumindest an einer Textstelle, dennoch nicht verhindert werden (S. 37: „Einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Prager Deutschen bildete die sehr große und reiche Gruppe der deutschsprachigen Juden.“). Da hätten sich vermutlich die Eltern von Lenka Reinerová sowie viele andere deutschsprachige Juden in Prag sehr gewundert, dass sie hundert Jahre später automatisch derselben gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet würden wie beispielsweise die Petscheks oder Werfels. Das Fehlen einer sozial-historischen Dimension in der Darstellung der Entwicklung der deutschsprachigen Minderheit in Prag führt zu einem etwas verengten und teilweise sogar verfälschten Blick auf den „Forschungsgegenstand“. Doch man darf nicht das Alter und den damit zusammenhängenden Erfahrungshorizont der jungen Autorinnen und Autoren aus den Augen verlieren. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich um SchülerInnen handelt, kann man das Ergebnis ihrer Arbeit als eine durchaus gelungene und nützliche Übersicht über zumindest einige Aspekte im Leben der Prager Deutschen sehen.

 

Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob es unbedingt notwendig sei, die Ergebnisse der Projektarbeit einer SchülerInnengruppe einer breiten Öffentlichkeit vorzulegen. Noch dringlicher erscheint die Frage bei dem zweiten Teil der Publikation, dem Biografischen Lexikon. Dies ist, um es auf den Punkt zu bringen, nicht gelungen. Der Grund dafür ist nicht unbedingt die Auswahl oder der Inhalt der jeweiligen Einträge, sondern viel mehr das fehlende faktografische, orthografische und sprachliche Lektorat. Zwar wird im Impressum Jana Pepelanová als verantwortliche Lektorin genannt, doch man bekommt schon nach einigen Seiten Lektüre den Eindruck, der Text sei nicht einmal gegengelesen worden, und das auch an Stellen, die man durchaus mit einem Telefonat hätte klären können. (So wird zum Beispiel im Text über meinen Vater Lev/Leo Brod eine Anekdote über das sog. Radio Jerevan erwähnt – „ja, aber ...“. Mein Vater hat nie bei der tschechischen Versicherungsanstalt in Triest gearbeitet, und weder kehrte er später aus Triest nach Prag zurück, noch war er beim Innenministerium tätig.) Und bei Deutschlernenden tut es beinahe weh, zu lesen, Otto Brod sei der Autor von Der Berauschten – es fand sich offenbar niemand unter ihnen, dem hier ein Fehler aufgefallen wäre. An den Stellen, wo sich die AutorInnen auf das Gebiet des Exils in die angelsächsischen Länder wagen, sieht es faktografisch zum Teil noch schlimmer aus. So erfahren wir beispielsweise, dass Carl Ferdinand Cori der Einladung der „Washingtoner Saint Louis University“ gefolgt sei, während Victor Leopold Ehrenberg in „Bedford in London“ unterrichtet habe. Bedauerlicherweise könnte man noch einige solche Beispiele auflisten, wodurch der Eindruck entsteht, man könne den biografischen Teil des NMP zu ähnlich misslungenen Werken zählen wie dem dreibändigen Handbuch des verstorbenen Rudolf Wlaschek, Biographia Judaica Bohemiae, das 1995, 1997 und 2003 an der Universität Dortmund veröffentlicht wurde.

 

Sowohl Wlascheks Werk wie auch das NMP sind in der Zeit der Hochkonjunktur von wissenschaftlichen biografischen Publikationen zu den böhmischen Ländern entstanden. Ihr Vergleich zeigt jedoch, dass Veröffentlichungen solcher Werke von einzelnen bzw. von Gruppen junger Enthusiasten weniger sinnvoll sind, mit allem Respekt gegenüber den gut gemeinten Absichten der AutorInnen. Enthusiasmus kann wissenschaftliche Fachausbildung nicht ersetzen, ebenso wenig wie präzise Quellenarbeit, gute Sprachkenntnisse oder ein ordentliches Lektorat. All das muss dem Herausgeber und Übersetzer der deutschen Version des NMP, Wolfgang Schwarz bewusst gewesen sein (selbst sein Name wurde im NMP auf S. 264 verballhornt). Er ist Kulturreferent für die Böhmischen Länder beim Adalbert Stifter Verein, der seinen Sitz im Münchener Sudetendeutschen Haus hat. Dort entstand die Idee, das NMP auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen, als ein Beleg für das Interesse junger Pragerinnen und Prager an der multinationalen Geschichte ihrer Stadt. Schwarz, ein erfahrener Historiker für deutsch-tschechische Geschichte, stand somit vor der Frage, wie mit solch einem Text umzugehen sei, der das Interesse der breiten Öffentlichkeit wecken sollte, doch in der vorliegenden Form ohne eine grundlegende Bearbeitung nicht publizierbar war. Er entschied sich für eine radikale Lösung – er ließ den kompletten biografischen Teil weg; die deutsche Version beschränkt sich so auf einen 76 Seiten langen Torso des Originals. (Schwarz weist, jedoch ohne den Grund dafür zu nennen, auf Seite 5 darauf hin, das auf die kurzen Biografien der tschechischen Ausgabe verzichtet wurde.) Um etwas attraktiver auf die Leserschaft zu wirken, enthält die entstandene deutsche Broschüre neben der Übersetzung des einleitenden Kapitels etliche historische und aktuelle Fotografien. Laut Schwarz sollen sie es ermöglichen, sich selbst auf die Spuren der deutschen Bevölkerung im heutigen Prag zu begeben. (Dem Autor dieser Rezension fällt nebenbei ein, dass dafür eine deutsche Übersetzung der sehr gelungenen literarischen Topografie von Dan Hrubý, Cesta Pražským kruhem [Der Weg durch den Prager Kreis] von 2009 viel geeigneter wäre.) Als leichte, intellektuell nicht sonderlich anspruchsvolle Skizze des deutschen Phänomens in der neuzeitlichen Geschichte Prags kann die Publikation ihren Zweck allerdings durchaus erfüllen.

 

Übersetzung: Martina Lisa

 

Das deutschsprachige Prag. Hg. Radek Aubrecht und Wolfgang Schwarz. München: Adalbert Stifter Verein, 2016, 76 S.


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