Es schreibt Michal Topor

(25. 10. 2017)

Die folgenden Zeilen sollen auf zwei 2014 vom Kitab-Verlag Klagenfurt-Wien herausgegebene Bücher aufmerksam machen: zwei Untersuchungen, welche die bisher weniger reflektierten Hintergründe sowie die Residuen von Musils Schaffensbahn aufdecken, dazu noch – vor allem im ersten Fall – mit einem böhmischen, bzw. mährischen Schwerpunkt.

 

Das erste Buch wurde von Karl Corino ediert, gewissermaßen am Rande seiner langjährigen Forschungstätigkeit, die sich auf Musils Leben und Werk konzentriert und sich hauptsächlich in der Teilnahme an der digitalen Klagenfurter Ausgabe (2009), im robusten Band Robert Musil. Eine Biografie (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2003), weiter im Sammelband Erinnerungen an Robert Musil (Wädenswil: NIMBUS, 2010) und in einer ganzen Reihe kleinerer Studien äußerte, kürzlich beispielsweise im Artikel „[Z]war Freund des tschechischen Volkes aber durchaus nicht seiner Politik“. Robert Musil und die Tschechoslowakei, der in der Zeitschrift Studien zur Literatur der klassischen Moderne (34, 2015/2016 – Musil-Forum) erschien. Zur Grundlage für die Komposition des schmalen, etwa 60-seitigen Buches mit dem Titel Begegnung dreier Berggipfel. Alfred, Alois und Robert Musil nahm Corino ein Konvolut an Briefen, die Musils Vater Alfred (1846 in Timişoara – 1924 in Brünn), Ingenieur und ab 1891 Professor an der Technischen Hochschule in Brünn, an seinen Neffen Alois Musil (1868 in Rychtářov u Vyškova/Richtersdorf b. Wischau – 1944 in Otryby u Českého Šternberka/Wotrib bei Böhmisch Sternberg) schrieb, letzterer Theologe und ab der zweiten Hälfte der 1890er Jahre Star der europäischen Orientalistik. Corino verwertete auf diese Weise erneut und konzentriert das im Nachlass Alois Musils im Regionalmuseum Vyškov (Wischau) erhaltene Material (einschließlich einiger Briefe, die Alois Musil von Robert und seiner Mutter, „Tante Hermine“, bekommen hatte), das er bereits in der Biografie von 2003 verstreut präsentierte. Die Briefe vermittelt er durchgehend in ihrer Gänze, begleitet sie mit Ausführungen zu ihrem Kontext – die sich zwischen dem Genre der Familiengenealogie und der literarisch-geschichtlichen Mikrologie bewegen – und mit weiteren Schrift- und Bilddokumenten. Zur Orientierung: Alois' und Roberts Großväter waren Brüder – geboren wurden sie Anfang des 19. Jahrhunderts im bereits erwähnten Rychtářov, Alois' Familie blieb dort, Alfreds/Roberts Familie näherte sich dem Ort auf Umwegen wieder, als sie nach Jahren, die sie in der Steiermark verbracht hatte, nach Brünn zog; Corino weist (auf S. 14) auf das Pseudonym „Matthias Rychtářov“ hin, das R. Musil nach dem Krieg in der Prager Presse benutzte – Matthias war der Vorname seines Großvaters.

 

Bis zu den Jahren von Musils Zusammenarbeit mit dieser Prager Tageszeitung verfolgt das Buch die drei Lebensbahnen, ihr Kreuzen allerdings nicht – der älteste Brief Alfreds datiert vom Januar 1892, der letzte vom September 1918. Als die grundlegende Verwicklung im gemeinsamen, über diese Jahre aufrechterhaltenen Kontakt kann man die Veränderung in Alois' Relevanz für das mögliche Schicksal Roberts bestimmen (wenigstens aus der Sicht von Roberts Eltern). Nachdem Alois im April 1909 zum Professor für biblische Studien und Arabisch an der Wiener Universität ernannt wurde, schien es, dass er für die Bemühungen, Robert als Volontär an der dortigen Hofbibliothek unterzubringen, nützlich sein könnte: Alfreds Briefe aus Wien zeichnen sich aus durch elterliches Patronat und lange Zeit auch durch Anmerkungen zu nicht realisierten Begegnungen beider Cousins. Im Mai 1911 trafen sie sich endlich nach langen Jahren wieder, jedoch nicht besonders erfolgreich und – wenigstens für die untersuchte Zeit – auch zum letzten Mal. Die letzten Briefe Alfreds fallen in die Monate, in denen die staatliche Rahmung von Alfreds und Alois' loyalen Diensten auf ihren Zerfall zusteuerte: Alfred thematisierte seine Krankheiten und die Sorge um die Höhe seiner Pension, Alois – ein Kenner türkischer Verhältnisse – bereitete unter anderem die Reise des jungen Kaiserpaares nach Konstantinopel vor. Ihr Nachkriegsleben betrachtet Corino nur noch flüchtig (Alfred starb bald darauf in Brünn, Alois zog – im Gegensatz zu Robert – von Wien nach Prag) –, und nur flüchtig erinnert Corino an die Prager Presse als gemeinsame Plattform von Roberts und Alois' öffentlichem Auftreten.

 

Corino ist auch im zweiten der anfangs erwähnten Bücher präsent. Die Autorin Regina Schaunig untermauert nämlich ihren Band Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg mit zwei Texten, mit denen Corino seinerzeit (1973 bzw. 1988) ihre Arbeit vorwegnahm. Die Buchkomposition entspricht der im Eingangskapitel entworfenen These: In Musils Textkorpus existiere ein reiches Gebiet, das oft am Rande der Bemühungen um das Verständnis von seinem Werk (übrigens im Einklang mit seinem eigenen Schweigen in diese Richtung) als etwas fremdes, nicht-eigenes liegen bleibt, auf verschiedene Weise in den Hintergrund gerückt, marginalisiert und dabei de facto nicht gelesen wird. Dieses Gebiet stellt die militärische Propagandapublizistik aus der Zeit des Ersten Weltkriegs dar, als Musil zunächst – vom Sommer 1916 bis April 1917 – die Bozener (Tiroler) Soldaten-Zeitung redigierte, ab Frühling 1918 dann die Redaktion des ähnlich orientierten Blattes leitete, das in mehreren Sprachversionen (Heimat, Üzenet, Domov usw.) existierte. Die Autorin ist überzeugt, dass die Texte dieser Provenienz mit bedeutenden Elementen von Musils Werk und überhaupt seinem Lebenshabitus (unter expliziter Berücksichtigung von Bourdieus Terminologie) in vielen Punkten zusammenhängen und berücksichtigt werden müssen, trotz einer Reihe von Schwierigkeiten – angefangen bei der Unsicherheit, was die eindeutige Zuschreibung dieser Texte angeht. Sie argumentiert einerseits durch ein Exposé, das etwa das erste Drittel des Buches ausmacht (der Problematik und Geschichte der Zuschreibung ist dessen Schlussteil gewidmet), andererseits durch Editionsmaßnahmen: Der Rest des Bandes – außer den bereits erwähnten Artikeln Corinos und der abschließenden bibliografischen Übersicht von Musils Kriegspublizistik (mit einer differenzierten Aufzählung der Dubien) – besteht aus einer substanziellen Auswahl der Kriegsartikel, die hier zugänglich gemacht werden.

 

Die These, dass Musils Habitus einen längerfristigen militärischen Schwerpunkt gehabt habe, unterstützt die Autorin durch Hinweise der äußerlich biografischen Art (zu den institutionell-militärischen Aspekten von Musils Bildung und weiterer Laufbahn), vor allem sodann durch die Konstruktion ideeller (philosophischer und politischer) Momente, die den gegebenen Zusammenhang ermöglichten bzw. mit ihm korrespondierten. Eine der bemerkenswerten Stellen in den Ausführungen der Autorin ist die Evokation von Musils Bozener, anscheinend keineswegs konfliktreicher, wohl eher übereinstimmender redaktioneller Zusammenarbeit mit dem Feldmarschall Alfred Krauß, dem die (Tiroler) Soldaten-Zeitung für die Propaganda spezifischer politischer Ansichten (u. a. seiner Aversion gegenüber dem Parlamentarismus) diente und der für Musil 1917 die Auszeichnung mit dem Ritterkreuz des Franz-Josef-Ordens erwirkte: Noch Anfang 1938, kurz vor seiner Emigration nach Zürich, meldete sich Musil bei Krauß – inzwischen NSDAP-Mitglied, Reichstagsabgeordneter und SA-Brigadeführer – mit einem Brief, in dem er ihn, als ehemaliger ihm unterstellter Mitarbeiter, um Hilfe in Sachen der eigenen Pension bat: „Ich habe als Landsturmoffizier unter Ihnen sowohl an der Front gedient als auch beim Kommando der Heeresgruppe Erzherzog Eugen, wo ich Herausgeber der ‚Soldaten Zeitung‘ gewesen bin, die immer in einer sehr freimütigen Weise und, wenn ich nicht irre, in Ihrem Sinne für den engsten Anschluß an Deutschland eingetreten ist. Ich bin für diese Dienstleistung als Oberleutnant mit dem Ritterkreuz des Franz Josef Ordens ausgezeichnet worden und vorher für tapferes Verhalten vor dem Feinde mit dem Signum laudis“ (S. 60–61). Belege für ihre These findet die Autorin quer durch Musils Texte unterschiedlicher Gattungsarten (einschließlich Tagebucheinträgen und Fragmenten, Entwürfen und Varianten, die zugleich erst im Rahmen der digitalen Klagenfurter Ausgabe von Musils Werk publiziert wurden), sie stammen hauptsächlich aus der Zeit um die Kriegsjahre, mit Abstechern in die spätere Welt des Romans Der Mann ohne Eigenschaften, der ihrer Meinung nach manches – obwohl in ironischen Inversionen und Szenen – beibehielt. Die Autorin betont Musils – noch vorkriegszeitliche – Hinwendung zum politisch, ja sogar volkswirtschaftlich interessierten Denken, die während der Kriegsmonate in die Einschätzung mündete, der Kriegszustand sei eine exzessive und dadurch potenziell die Gesellschaft erneuernde Situation. Der Horizont der Erneuerung bildete für Musil dabei das kaiserliche „Kakanien“: Gerade die projektive Gestalt dieser Loyalität ist für die Autorin der Schlüssel zum Verständnis von Musils Kriegspublizistik als einem ideellen, kritisch-erziehenden Experiment, dessen Kern die Idee eines neuen, nachkriegszeitlichen Österreichers bzw. Österreichs gewesen sei.

 

Übersetzung: Katka Ringesová

 

 

Karl Corino: Begegnung dreier Berggipfel. Alfred, Alois und Robert Musil. Klagenfurt: Kitab Verlag, 2015, 72 S.

Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Klagenfurt: Kitab Verlag, 2014, 367 S.


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