Es schreibt Jana Dušek Pražáková

(E*forum, 4. 10. 2017)

Karlsbad, Marienbad und Franzensbad, die auch als Westböhmisches Bäderdreieck bezeichnet werden, waren seit der Goethezeit ein angesagtes, attraktives Ziel für wohlhabende Kreise. Dank der wohltuenden Wirkung der hiesigen Heilquellen nahmen sie auch führende Persönlichkeiten des Kulturlebens aus ganz Europa in ihr Itinerar auf und die Reportage Mark Twains über die „österreichische Gesundheitsfabrik“ erschien sogar auf den Seiten des Chicago Daily Tribune. Von der verführerischen Kurortatmosphäre erzählt das neue Buch Literarischer Reiseführer Böhmisches Bäderdreieck. Karlsbad, Marienbad, Franzensbad (2016) der Autoren Roswitha Schieb und Václav Petrbok, das beim Leser die Lust hervorruft, gleich nächste Woche zur Kur herzukommen. Zwischen den einzelnen wohltuenden Prozeduren kann man mit diesem Reiseführer in der Hand durch die Straßen schlendern und den Zauber der wunderbar vielschichtigen Geschichte der Orte entdecken.

 

Das Buch stellt den Lesern die bekanntesten Kurgäste vor, die wiederholt herkamen,um die hiesige Atmosphäre wortwörtlich an der eigenen Haut zu erfahren. Vor allem die Schriftsteller hielten sie dann in verschiedenen literarischen Formen fest, sei es in Gedichten, Tagebüchern oder Briefen; manch einen inspirierte die Umgebung jedoch zur intensiven Arbeit an Texten, die heute zu den Kleinoden der Weltliteratur gehören – Ivan Alexandrovič Gončarov z. B. schrieb hier grundlegende Passagen seines Romans Oblomov, Goethe wiederum wurde durch den Heiratsantrag, den die neunzehnjährige Ulrike von Levetzow abgelehnt hatte, zur Marienbader Elegie angeregt. Viele der entstandenen Werke spielen direkt in der hiesigen Umgebung.

 

Neben den Aufzeichnungen scharfer Beobachter aus den Reihen der Schriftsteller beschreibt das Buch, wie Komponisten, Philosophen, Maler und auch Herrscher auf den Kuraufenthalt reagierten – neben den österreichischen waren hier der russische Zar Peter der Große oder der britische König Edward VII. zu Gast. Die älteste und bekannteste der Städte spricht zu den Lesern am eigentümlichsten in den Eindrücken Friedrich Schillers, Charles Sealsfields, Adalbert Stifters, Theodor Fontanes oder Nikolaj Vasil'jevič Gogols. Johann Wolfgang von Goethe besuchte Karlsbad zwischen 1785 und 1823 sogar dreizehnmal, seine durch die Besuche angeregten Überlegungen zur Geologie der Erde spiegeln sich auch im Faust. Die jüngste der Städte, Marienbad, lockte manch einen Patienten durch ihren Ruf: Sie galt als in einen melancholischen Schleier gehüllt, wozu gerade das Aufflammen der Liebe Goethes beitrug. Unter anderem kamen auch Arthur Schnitzler, Friedrich Nietzsche, Frédéric Chopin, Richard Wagner oder Gustav Mahler hierher. Die kleinste und ruhigste Stadt, Franzensbad, die im Unterschied zu den anderen beiden in einer Ebene liegt, ist außer den Heilquellen durch das eisen- und schwefelhaltige Moor bekannt. Auch seinetwegen kamen vor allem Frauen hierher zur Kur. In ihren frühen Texten zielt Marie von Ebner-Eschenbach scharf auf die Zusammensetzung der hiesigen Gesellschaft ab, Szenen von den Promenaden kommentierten aber auch Božena Němcová und Fanny Lewald oder der junge Nietzsche.

 

Das Kurtreiben rund um die Quellen, die Erholungsspaziergänge und gesellige Konversation entlang der Promenaden und in den angrenzenden Parks, die geschniegelte Eleganz der Kursäle – diese Szenen brachten manch einen Intellektuellen auf den Gedanken, er beobachte Theaterszenen und befinde sich gleichzeitig auf einer Bühne, in einer Art verkleinerter Welt. Während einer für gewöhnlich mehrwöchigen Heilkur hatten die Gäste genug Zeit zu beobachten, wie hier in höherer Konzentration nicht nur kostbare Quellen sprudelten, sondern auch, wie sich der Kreislauf von Leben und Tod drehte – als verstärkte die Umgebung durch die unterirdischen Prozesse die Sinneseindrücke. In Reichweite der Quellen erwachten die schöpferischen Kräfte der Künstler – falls ihre körperlichen Leiden sie herführten, liegt es übrigens nahe anzunehmen, dass sich die schöpferische Blockade durch die Ruhe gelöst hat. Doch nicht jedem bekam der Aufenthalt hier gut. Setzt man das Kurtreiben mit der Metapher des Theaters in Verbindung, findet man im Buch zahlreiche Belege dafür, dass die Katharsis bei weitem nicht immer eintrat, beziehungsweise dass – wenn man eine Metapher verwendet, die sich direkt anbietet – ein Kurortaufenthalt nicht für jeden ein wohltuendes Bad bedeutete, sondern manchmal eher eine kalte Dusche war. Davon zeugen Briefe und Tagebucheinträge von Gästen, deren ursprüngliche Vorstellungen sich aufgrund von Langeweile, Verstellung und Snobismus oder einfach wegen einer Abneigung gegenüber der aus der Erde sprudelnden Flüssigkeit nicht erfüllten.

 

Die lebhafte Geschichte der Plätze, Straßen und Häuser illustrieren die Buchautoren anhand einer beträchtlichen Menge sorgfältig zusammengetragener Zitate hauptsächlich von der Aufklärung bis zur Zwischenkriegszeit. Aus dem Text wird deutlich, warum Karlsbad, Marienbad und Franzensbad zum Magnet auch für einen bestimmten Teil der intellektuellen Elite wurden. Das Buch ist nämlich konzipiert als multiperspektivische Darstellung des Genius loci einer der bemerkenswertesten Regionen Europas der damaligen Zeit, einer Region, in der alle zusammenkamen, die hier einerseits ihre körperlichen Leiden heilen, andererseits das Geheimnis der Orte ein wenig lüften wollten, über die man überall so viel redete. Den Wert des Buchs erhöhen jedoch nicht nur die übersichtlich aufgestellten Zitate und ihre Anordnung, die es seinen Autoren ermöglichte, ein plastisches Bild einer außerordentlichen Lokalität zu zeichnen. Man findet auch weitere nützliche Bestandteile eines richtigen Reiseführers wie z. B. ein Namensverzeichnis, eine Liste von mit dem Bäderdreieck in Verbindung stehender Literatur, des weiteren auch illustrative Karten, historische Postkarten und Fotos oder Zeichnungen – wie z. B. jene, die Goethe selbst, fasziniert durch die unbändige Kraft des unterirdischen Wassers, nach einem ästhetisch erstaunlichen Ereignis in einer der Karlsbader Straßen anfertigte, durch deren Pflaster sich eine gewaltige Quelle ihren Weg gebahnt hatte.

 

Die Hauptautorin Roswitha Schieb studierte Germanistik und Kunstgeschichte. Neben Essays und Büchern zum Theater veröffentlichte sie kulturhistorische Reiseführer über Rügen (Deutschlands mythische Insel, 1999) oder über Schlesien und Galizien (Reise nach Schlesien und Galizien. Eine Archäologie des Gefühls, 2000). Sie schrieb auch den Literarischen Reiseführer Breslau. Sieben Stadtspaziergänge (2009). Ko-Autor des Bandes ist Václav Petrbok, der am Institut für tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und an der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur an der Karlsuniversität in Prag tätig ist. Im Buch beschreibt er, wie das kulturelle Leben und die deutsch-tschechischen Beziehungen in der Region in der tschechischen Literatur reflektiert wurden.

 

Vor den Augen des Lesers öffnet sich eine ganze Palette an Mitteln zu deren Erfassung: Josef Hora belächelte 1927 das hartnäckige Bemühen der Tschechen, gegenüber den mehrheitlich deutschen Kurorten eine ausgeprägte Position einzunehmen, welche die tschechische Einzigartigkeit hervorhob und sich beispielsweise schon vor dem Ersten Weltkrieg durch eine gezielte Bewerbung des Kurorts Luhačovice in den Národní listy [Nationalblättern] manifestiert hatte.

 

Milan Kundera zeigte in seinem Roman Valčík na rozloučenou [Abschiedswalzer] von 1972 den morbiden Charakter der westböhmischen Kurorte, der durch das vernachlässigte Antlitz der städtischen Bebauung zustandekam, während z. B. Miroslav Kapek, ein mit dem sozialistischen Regime konformer Schriftsteller, im gleichen Jahr den Roman S Elvírou v lázních [Mit Elvira auf Kur] veröffentlichte, der von stereotypen Missverständnissen zwischen den deutschen Kurgästen und den Tschechen lebt. Die Atmosphäre der Kurorte spiegelt sich auch in der zeitgenössischen Literatur, wie Václav Petrbok anhand einer ironischen Schilderung des Karlsbader Internationalen Filmfestivals in David Zábranskýs Roman Šternův pokus milovat [Šterns Versuch zu lieben, 2008] illustriert.

 

Die Buchautoren schenken ihre Aufmerksamkeit auch den drastischen Ereignissen, die sich in den Kurorten während des Zweiten Weltkriegs und danach abspielten, angefangen beim Massaker an den Juden bis hin zum gewaltsamen Zerreißen der natürlichen kulturellen Bande deutschsprachiger Einwohner zu ihrem Geburtsort durch die Vertreibung. Das folgende totalitäre Regime blieb in der Drosselung des Genius loci keineswegs hinterher. Eine wichtige Dimension des Buchs liegt sodann in der Hoffnung, die in neue Initiativen und Festivals gelegt wird, die seit der Wende dazu beitragen, die Region wieder zu beleben. So bemüht sich beispielsweise das Deutsche Kulturforum östliches Europa, den Dialog zwischen den Völkern zu fördern, indem es den gegenwärtigen Bewohnern osteuropäischer Länder das kulturelle Erbe der einstmaligen deutschen Bevölkerung vermittelt. In diesem Sinne können wir uns wünschen, dass dieses Buch, das vom Kulturforum herausgegeben wurde, auch in einer tschechischen oder russischen Übersetzung erscheint und dadurch möglichst viele Leser und Leserinnen aus der Gegend der westböhmischen Kurorte erreicht und mit vereinten Kräften hilft, die Geschichte und den Geist der Orte, in denen sie selbst bzw. ihre Vorfahren erst vor einer relativ kurzen Zeit zu leben begannen, zum Leben zu erwecken. Das Buch von Roswitha Schieb und Václav Petrbok stellt einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Region vermittels ihrer Geschichte und der mit ihr verbundenen Persönlichkeiten dar – zu denen letztendlich nicht nur die gehörten, die zur Kur herkamen, sondern auch diejenigen, die sie behandelten und sich um neue Heilmethoden sowie um die Entwicklung der Region bemühten.

 

Übersetzung: Katka Ringesová

 

 

Roswitha Schieb / Václav Petrbok: Literarischer Reiseführer Böhmisches Bäderdreieck. Karlsbad, Marienbad, Franzensbad. In Zusammenarbeit mit Václav Petrbok und Tanja Krombach. Potsdam: Potsdamer Bibliothek östliches Europa – Kulturreisen, 2016, 361 S.


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