Es schreibt: Kathrin Janka

(28. 6. 2017)

Tilman Kastens Historismuskritik versus Heilsgeschichte ist eine komparatistische Arbeit von einer Art, von der man sich im tschechisch-deutschen Kontext noch viele weitere wünschen würde. Die Dissertationsschrift, die 2014 an der Universität Freiburg vorgelegt wurde, vergleicht zwei monumentale historische Romanwerke – Alfred Döblins Wallenstein (erstmals erschienen in Berlin 1920, tschechisch Prag 1931) und Jaroslav Durychs Bloudění (erstmals Prag 1929, deutsch München 1933).

 

Mit ihrer dreifachen Herangehensweise, ihren historisch-theoretischen und rezeptionshistorischen Exkursen sowie ihren analytischen Beobachtungen erweist sich Tilman Kastens Arbeit als detailreich, originell und kundig. Die Analyse erfolgt in drei Hauptkapiteln, die aufeinander aufbauend einen gattungspoetisch-narratologischen (Kap. 2), einen stoffgeschichtlichen, die Zeichnung der Wallenstein-Figur und ihres Umfelds beleuchtenden (Kap. 3) und einen rezeptionsgeschichtlichen (Kap. 4) Schwerpunkt haben. Der Autor unternimmt den Vergleich zweier deutsch- und tschechischsprachiger Werke, deren rein auf nationale Kontexte beschränkte Betrachtung den Blick auf einen Teil der historischen und kulturwissenschaftlichen Fakten verstellen würde, weil sie die historische, vielfältige Verflochtenheit der beiden literarisch-geistigen Sphären ignoriert. Kasten leistet seinen Beitrag zur „intensiveren literaturgeschichtlichen Kontextualisierung der Texte“ (S. 322) mit detailgenauem textanalytischem Auge und historischem Überblick.

 

Für deutschsprachige LeserInnen gewinnbringend sind jedenfalls das Aufgreifen spezifischer Themen wie etwa der „katholischen Literatur“ in der Tschechoslowakei oder der spezifischen Rolle des historischen Romans im Kontext der tschechischen nationalen „Wiedergeburt“ sowie die Exkurse zum Frauenideal (S. 275ff.), zur Marienfrömmigkeit (S. 277f.), zur Barock-Mode u. ä., die diesen eher unbekannt sein dürften. Umgekehrt sind für den tschechischen, traditionell ungebrochener im literaturhistorischen Paradigma verhafteten und weniger textanalytisch ausgerichteten Rezeptionskontext die stoff- und erzähltheoretisch basierten Ansätze einer komparatistischen Analyse jenseits der unmittelbaren wechselseitigen Einflussforschung interessant und erhellend. Interessant, aber auch riskant erscheint mir dagegen der Versuch, Durychs narrative Poetik als heilsgeschichtlich orientierte Individualpoetik im Kontext der katholischen Moderne zu profilieren und dies im (als faktisch begriffenen) Beleg der Rezeptionsforschung rückzuverorten.

 

Kasten legt seiner gattungspoetischen Analyse der Gesamtstruktur der Romane einen aus der Theorie und Geschichte des historischen Romans abgeleiteten, pragmatisch fundierten Fiktionsbegriff zugrunde. Dieser verortet in Anlehnung an sprechakttheoretische und/oder systemtheoretische Prämissen den literarischen Text in einem „weiteren kommunikativen Zusammenhang“ und begreift Fiktionalität „nicht als Eigenschaft von Texten, sondern als ein[en] ‚Modus‘ [...] der Kommunikation“ (S. 35f.). Daraus lässt sich eine weitgehende Kontextualisierung und Historisierung eines als fiktional verstandenen Schreibens ableiten, der zufolge „es nicht ‚primär‘ Textmerkmale sind, die einen historischen Roman zu einem fiktionalen Text machen“, sondern vielmehr „die historisch wandelbaren Regeln und Konventionen von Kommunikationsgemeinschaften, vor deren Hintergrund ein Text als ‚fiktional‘ produziert und rezipiert“ wird (S. 36). Damit wird ein Schwerpunkt auf die Rezeption gesetzt, den Kasten im Folgenden auch als der einem spezifischen, modernen Paradigma entsprechenden Struktur beider Romane immanent nachweist.

 

Zur weiteren Untermauerung dieses Moderne-Begriffs zieht Kasten – in Analogie zu den Manifesten der „Vertreter der –Ismen“ (S. 49) – die paratextuellen Äußerungen heran, in denen beide Autoren zu ihren Wallenstein-Romanen Stellung genommen haben (S. 51) und für die er mit Genette einen „unmittelbaren funktional-pragmatischen Zusammenhang mit den Romanen“ (S. 53) postuliert. Er stuft sie als „Teil des engsten Text-Umfelds bzw. der literarischen Kommunikation“ ein, als „Epitexte“, die „gezielt auf die (literarische) Öffentlichkeit einzuwirken versuchen“ (ebda.), und interpretiert sie davon ausgehend als unabdingbaren Schlüssel zum Verständnis der Poetik der beiden Autoren der Romane an sich (S. 19). Wichtige Stichworte bei der Subsumierung beider Autoren unter einen – nicht allein an „normativ-ästhetischen Kriterien“ orientierten – Moderne-Begriff sind neben einem „Traditionsbruch“ (S. 319), den Kasten bei Döblin stärker in „ästhetisch-normativer Perspektive“, bei Durych mehr unter „sozialgeschichtlichen Aspekten“ belegt findet, die „Fragmentierung des Erzählzusammenhangs“ (S. 148ff.) und die „Leseraktivierung“ (S. 151ff.). Die Auflösung der narrativen Kohärenz in beiden Romanen bewirke außerdem eine Infragestellung des „Gedanke[ns], dass Geschichte einem geordneten und übersichtlichen Prozess entspreche“ (S. 154).

 

Während bei Döblin allerdings ein medizinisch fundierter „Hang zur Beobachtung“ zu verzeichnen sei, der mit einer narrativen Strategie des „showing“ (S. 230) einhergehe und auf eine Entfesselung der „Kräfte des Materials“ bzw. des Wortes in ihrer Eigendynamik hinauslaufe, sei für Durychs „ironische“ (S. 82) Quellenrezeption die Bindung an die „historische Wahrheit“ (S. 75) fundamental. Historisch verbürgte Fakten würden im Rahmen einer polyperspektivisch angelegten, dialog-basierten narrativen Konstruktion subjektiv ausgewählt und gewichtet, womit der Autor auf die Schaffung einer „heilsgeschichtlichen Perspektive“ am „Grund aller historischen Entwicklung“ (S. 83) abzielt. Damit wird Durych im Kontext des – über das tschechische, nationale Umfeld hinausweisenden – Moderne-Streits innerhalb der katholischen Kirche um und nach 1900 verortet, in dem das Verhältnis von göttlicher Schöpfung und empirisch-wissenschaftlicher Welterkenntnis verhandelt wurde (S. 84f).

 

Ein zentraler Punkt des umfangreichen stoffgeschichtlichen Kapitels ist die Profilierung von Durychs Wallenstein-Roman als alternativem, heilsgeschichtlich fundiertem Geschichtsentwurf für die böhmischen Länder (vgl. hier u. a. die Ausführungen zu Jan Amos Komenskýs Labyrint světa a ráj srdce als „zentraler Intertext des Romans“ und „Geschichtssynekdoche“, S. 269). Kasten analysiert den unterschiedlichen Umgang beider Autoren mit der Erfahrung der zivilisatorischen Moderne. Während Döblin auf den damit einhergehenden Souveränitätsverlust des Menschen gegenüber der Natur mit dem Rückgriff auf eine „naturmythische Wirklichkeitsdimension“ (S. 317) reagiert, konstruiert Durych anhand der kontrapunktisch gesetzten Liebesgeschichte zwischen dem Rebellen Jiří und der schönen Spanierin Andělka eine heilsgeschichtliche Perspektivierung im Zeichen der Liebe (S. 274).

 

Mit dem Topos vom „Tschechen, der sich von seinen nationalen Wurzeln entfremdet hat“ (S. 267), greift Durych eines der tradierten Argumentationsmuster der Stofftradition auf, das auf die moralische Verurteilung Wallensteins abzielt, und wendet es gegen das vorherrschende „erinnerungskulturelle Opfernarrativ“ (S. 269) vom Tod der Nation nach der Schlacht am Weißen Berg. Außerdem stelle er tschechisch-national eingefärbte „Verklärungen und Instrumentalisierungen des Volkes“ im Rahmen des zeitgenössischen Diskurse infrage, bewerte aber die „im heilsgeschichtlichen Sinne zu verstehende [...] Kategorie des Volkes“ (S. 268) positiv. So entwerfe der Roman eine Gegengeschichte Böhmens, in der Kasten Durychs spezifischen, polemisch in die politischen und nationalen Diskurse der Zeit eingreifenden Beitrag zur Stoffgeschichte sieht (S. 269). Als Bestätigung hierfür werden die Wechselwirkungen in der Rezeption beider Romane herangezogen: Die Rezeption der Übersetzung von Döblins Wallenstein, Valdštejn, in der Tschechoslowakei sei instrumentalisiert worden, um den Autor des äußerst erfolgreichen Bloudění und seine katholische Geschichtsauffassung im „Streit um die tschechische Geschichte“ zu kritisieren (S. 375).

 

Ein interessanter Aspekt des – auch ansonsten informativen – Rezeptionskapitels ist die Rezeption von Friedland, der 1933 erschienenen „germanisierten“ deutschen Übersetzung des jüdischen Autors und Übersetzers Paul/Pavel Eisner (S. 383ff.). Im deutschsprachigen Kontext erhoben sich dazu u. a. auch Stimmen, die die „völkische Bodenständigkeit“ (S. 393) am Roman priesen und aus heutiger Sicht auf die Anfälligkeit solchen modern-konservativen, kulturkritischen Denkens und seine Kompatibilität mit manchen Aspekten der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ verweisen. Hier könnte eine kritische Analyse des über den tschechisch-nationalen Kontext hinausgehenden modern-katholischen Projekts ansetzen, die jenseits kontextgebundener literarhistorischer Rehabilitationsbestrebungen noch einmal vertieft die gemeinsamen ideellen Wurzeln „völkisch-bodenständiger“ und modern-konservativer Denkströmungen – z. B. im Rekurs auf mystische Tendenzen – untersucht.

 

Der narratologische Versuch, das spezifisch „Moderne“ im Sinne von Kastens Kontext-These unter Ausschluss der gängigen modernen Textmerkmale (d. h. jenseits der tradierten „normativ-ästhetischen“ Kriterien der Moderne-Forschung) zu bestimmen, wirft Analysierende wie RezipientInnen gleichermaßen auf das Thema und den Stoff zurück: auf eine semantische Kategorie also, deren Auffassung nach der These des Autors der historisierten, außertextuell bestimmten Rezeption unterliegt. Und diese ist – wie Kasten selbst einräumt – in Durychs Falle eher „konservativ“, insofern sie einer krisenhaft erfahrenen Welt eine vergessene heilsgeschichtliche Perspektive aufzeigen will. Hier zeigt sich, dass es möglicherweise doch nicht so ganz einfach ist, den tradierten Merkmalen für „modernes Schreiben“ zu entkommen: Schaltet man ästhetische Kriterien aus, besteht die Gefahr, in eine rein epochale/historisierende Zuordnung zurückzufallen. Auf semantischer Ebene ist die Wendung gegen eine konservativ-bewahrende Haltung schließlich integraler Bestandteil überkommener Moderne-Definitionen. Natürlich kann man in „modernen Zeiten“ auch „konservativ“ – z. B. heilsgeschichtlich perspektiviert – denken und dieses Denken in innovative Formen kleiden. Wird aber das konservative Denken dadurch modern, ohne dass man die Form als modernisierendes Mittel mit einbezieht? Bzw. selbst wenn man dies tut...? Auch wenn Durychs Roman innerhalb des katholischen Diskurses und der kirchengeschichtlichen Dimension des (Anti-)Moderne-Streits die Werte Sinneswahrnehmung, Wirklichkeit und Liebe zum „Moderne“-Pol hin verschiebt, bleibt er in diesem Punkt ein „Zwitter“ – und der Versuch, dieses Zwittertum (auch und gerade auf dem Umweg über die Einbeziehung der Paratexte als „Epitexte“) quasi ex cathedra zu einem eigenen genrespezifischen modernen Paradigma zu erklären, vermag zumindest die Rezensentin nicht vollständig zu überzeugen.

 

Tilman Kasten: Historismuskritik versus Heilsgeschichte. Die Wallenstein-Romane von Alfred Döblin und Jaroslav Durych. (Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 11, hg. von Steffen Höhne, Alice Stašková und Václav Petrbok) Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2016. 492 Seiten.


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