Es schreibt: Jürgen Serke

(21. 6. 2017)

Der deutsche Schriftsteller und Publizist Jürgen Serke (geb. 1938) befasst sich in seinem gesamten Werk mit verfolgten und lange Zeit übergangenen Künstlern. Moderne tschechische Autoren wie auch deutschsprachige Schriftsteller aus den böhmischen Ländern nehmen hierbei einen wichtigen Platz ein. Mit dem tschechischen Milieu kam Serke erstmals 1967/68 in Prag in Berührung, wo er als Korrespondent der Frankfurter Nachrichtenagentur UPI über den „Prager Frühling“ berichtete. Seine später in Zeitschriften (v. a. im Stern) erschienenen literarischen Reportagen wie auch die von ihm konzipierten Ausstellungen (derzeit die Dauerausstellung Himmel und Hölle 1918 bis 1989 im Museum der verfolgten Künste Solingen), in denen er langjährig gesammelte Fotografien, Dokumente, Manuskripte, Briefe und vor allem Bücher präsentierte, machten das deutsche Publikum mit führenden Vertretern der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts und mit der untergegangenen Welt der deutschsprachigen Literatur aus Prag, Böhmen und Mähren bekannt.

 

Verfolgten Autoren gelten auch mehrere von Serkes Büchern: Neben deutschen Schriftstellern und Dichtern, deren Werke während des Hitlerregimes verbrannt wurden (Die verbrannten Dichter, 1977), befasste er sich mit Autoren, die in den totalitären Regimen der Nachkriegszeit Verfolgungen ausgesetzt waren. So skizzieren die literarischen Porträts in seinem Buch Die verbannten Dichter (1982) Leben und Werk ostdeutscher, tschechischer und polnischer Exilschriftsteller und enthalten u. a. Beiträge zu Jiří Gruša, Milan Kundera, Pavel Kohout oder Ivan Blatný – insbesondere Letzteren hat Serke für die westliche Welt buchstäblich entdeckt. In einer separaten Buchpublikation befasste er sich zudem mit frei denkenden Schriftstellern aus Ostdeutschland, die „Zuhause im Exil“ (1998) blieben und sich in ihrem Widerstand gegen das Regime von Persönlichkeiten der Charta 77 inspirieren ließen.

 

Dem Leben und Werk deutschsprachiger Autoren aus den böhmischen Ländern wandte sich Serke während der sogenannten „Normalisierung“ zu, als in der Tschechoslowakei weder Forschungen zu diesem Thema noch die öffentliche Behandlung dieser Problematik erwünscht waren. Sein Buch Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft enthält nahezu fünfzig Porträts von Schriftstellern, die aus den böhmischen Ländern stammen, auf Deutsch schrieben und vom Nazi-Regime, manche auch von der darauffolgenden kommunistischen Diktatur, verfolgt wurden. Dabei handelt es sich um Autoren, die im wahrsten Sinne des Wortes aus unserem Gedächtnis entschwunden waren. Die 1987 auf Deutsch erschienene Publikation machte jenseits der tschechischen Landesgrenzen auf die komplizierte kulturelle und geopolitische Entwicklung dieser Region aufmerksam. Die tschechische Übersetzung des Buches (Triáda 2001), die vom Autor um ein Porträt des Malers und Dichters Peter Kien erweitert wurde, gewann 2002 den Hauptpreis des tschechischen Magnesia Litera Book Awards.

 

Serkes Bücher und Artikel öffneten vielen Menschen einen Weg zu wichtigen literarischen wie auch persönlichen Begegnungen und Entdeckungen. Von einer solchen Begegnung erzählt der von Serke für das E*forum verfasste Text über den Schriftsteller und Ivan-Blatný-Übersetzer Frank-Wolf Matthies, den wir an dieser Stelle veröffentlichen. Jürgen Serke wird am Freitag, dem 23. Juni 2017, mit dem Gratias-Agit-Preis zur Förderung des Ansehens der Tschechischen Republik im Ausland geehrt.

 

Eva Jelínková

 

 

Eine Liebe auf den ersten Blick

Ein deutscher Dichter lernt tschechisch, um Ivan Blatný zu übersetzen

 

Dies ist eine wunderbare Geschichte, in der Vergangenheit in die Zukunft geschrieben ist. Im November vergangenen Jahres bekam ich ein außergewöhnliches Buch mit einem Schreiben: „Sehr geehrter Herr Serke, ich hoffe jetzt einfach mal, dass Sie sich meiner zumindest vage erinnern werden – und schicke Ihnen dieses eben erschienene Buch, denn schließlich bin ich Ihnen zutiefst dankbar dafür, mich mit dem Dichter Ivan Blatný bekannt gemacht zu haben. Es war für mich das, was man oft viel zu leichtfertig eine ‚Liebe auf den ersten Blick‘ nennt.“

 

Das Buch, das ich in Händen hielt, war Band IV der Lyrik von Ivan Blatný mit dem Titel Hilfsschule Bixley – die Gedichte Pomocná škola Bixley galten bisher als unübersetzbar. Inzwischen habe ich all diese bibliophil gestalteten Bände. Es sind Nachdichtungen aus dem Tschechischen des deutschen Lyrikers Frank‑Wolf Matthies, der Blatnýs Sinnlichkeit, seine Rhythmik und klanglichen Gestaltungsmomente kongenial getroffen hat. Dazu Collagen des Berliner Malers Lutz Leibner (geb. 1949) von einer Intensität, wie sie zu spüren ist in den Collagen Jiří Kolářs (1914–2002), des Freundes Ivan Blatnýs. Ich erinnere mich, wie der 31jährige Matthies mit seiner Frau Patricia, die das Zentrum seiner Lyrik ist, 1982 in meinem Haus in Großhansdorf bei Hamburg auftauchte – allein wegen Ivan Blatný. Den hatte ich ein Jahr zuvor im St. Clement's Hospital im englischen Ipswich, einer psychiatrischen Anstalt, aufgesucht und ein Porträt im STERN-Magazin veröffentlicht. 33 Jahre zuvor hatte sich Blatný von einer tschechischen Schriftstellerorganisation bei einem Besuch in London kurz nach dem kommunistischen Putsch 1948 in der Tschechoslowakei abgesetzt, war in eine psychiatrische Anstalt geflohen und der kommunistischen Verfolgung in seinem Land entkommen.

 

Ivan Blatný, 1919 in Brünn geboren, war in seinem Heimatland als Verfasser von vier Gedichtbänden berühmt. Nach seiner Flucht nach London wurde er zum Vaterlandsverräter gestempelt. Die Krankenschwester Frances Meacham hatte ihn in Ipswich entdeckt. Sie, die im Zweiten Weltkrieg einen tschechischen Piloten geliebt und Tschechisch gelernt hatte, sorgte dafür, dass Blatnýs Gedichte, die er in der Anstalt schrieb, nicht mehr in den Müll wanderten. Mrs. Meacham bewahrte die Gedichte bei sich zuhause und schickte viele von ihnen nach Kanada zum tschechischen Exil-Verlag Sixty‑Eight Publishers, der sie veröffentlichte.

 

Das alles ist heute in der Tschechischen Republik bekannt. Als Blatný 1990 in England starb, wurde seine Urne auf dem Friedhof in Brünn beigesetzt. Sein Werk ist wieder in der Tschechischen Republik erhältlich. Auch in deutscher Übersetzung gibt es einen Lyrikband: Stará bydliště, übertragen von Christa Rothmeier unter dem Titel Alte Wohnsitze. Das Opus magnum, die Hilfsschule Bixley, vor einem Jahrzehnt angekündigt, ist nicht erschienen. Deshalb mein unglaubliches Erstaunen, als ich Band IV der Gedichte in der Hand hielt.

 

Frank-Wolf Matthies hat die vier Bände zusammen mit seinem Malerfreund Lutz Leibner auf eigene Kosten drucken lassen. In einer Auflage von 5o Exemplaren, die an Freunde verschenkt werden. In einem der Blatný‑Bände steht: „Gewidmet Jürgen Serke, ohne den es dieses Buch nicht gäbe.“ In einem anderen: „Für Jürgen Serke, der mir diese Welt geöffnet und somit den Einlass ermöglicht hat.“

 

Man liest das beglückt und zugleich erschrocken, kramt alle Bücher von Frank‑Wolf Matthies hervor, die im Bücherschrank stehen, und sucht nach einer Erklärung der Verklärung des Dichters Blatný. Matthies, 1951 in Ostberlin geboren, wird 1979, 1980 und 1981 mit drei Bänden Lyrik und Prosa sichtbar, nicht in der DDR, sondern im Westen beim Rowohlt‑Verlag. Mit einer sicheren Liebe an seiner Seite, seiner Frau Patricia, die ihm noch heute Sicherheit gibt. Er lebt und schreibt wahrhaftig in einem Land, in dem man nicht wahrhaftig sein darf.

 

Zweimal wird er in Ostberlin verhaftet. Was er geschrieben hat, wird von der Staatssicherheit (Stasi) als „Beleidigung und Herabwürdigung“ des SED-Systems gewertet. 1981 lässt man ihn und seine Familie ausreisen. Günter Grass nimmt die Familie in seinem Westberliner Haus auf. Er bleibt, was er in Ostberlin immer gewesen ist: unbeugsam. Das macht ihn auch im Westen schnell unbequem. „Beuge dich nur für die Liebe.“ Dieser Satz des einstigen Résistance‑Kämpfers René Char könnte auch seine Lebensmaxime sein.

 

Noch einmal wird er sichtbar mit seiner kraftstrotzenden Verzweiflung bei einem bedeutenden Verlag: bei Suhrkamp mit seinem Tagebuch Fortunes. Zahlreiche Bücher folgen bei kleinen Verlagen. Der Kampf mit sich, gegen seine Verletzungen und mit der DDR dauert lange. Der Dichter als sein eigener Therapeut. Seine zeitgenössische Version der Aeneis ist ein großes Prosawerk, das in der Bundesrepublik schon nicht mehr wahrgenommen wird. Immer wieder geht es darum, aus der traumatischen Situation Jugendjahre in der DDR herauszufinden.

 

Im Tagebuch Fortunes (1985) taucht Ivan Blatný erstmals mit einem Gedicht aus meinem Porträt über den Dichter in Ipswich (Die verbannten Dichter, 1982) auf. Jiří Gruša, der bei meinem Besuch Blatnýs dabei war, hatte es für mein Porträt übersetzt. Gruša sollte aus dem Tschechischen dolmetschen. Es war nicht nötig. „Sprechen Sie deutsch“, sagte der damals 61jährige zu mir, „Deutsch ist die Sprache meiner Großmutter. Es ist die Sprache meiner Wünsche. Großmutter habe ich sie gesagt.“

 

Matthies sagt: „Seit Ihrem Text im STERN und dann in Ihrem Buch ist Ivan Blatný immer in mir anwesend. Er lässt mich weiterleben. Wenn es mir schlecht geht, zieht er mich hoch.“ Im Jahre 2013 erlitt Frank‑Wolf Matthies einen schweren Schlaganfall. Es grenzt an ein Wunder, dass er die Lähmungen nach einem Jahr überwunden hatte.

 

Matthies wohnt heute am Rande Oranienburgs bei Berlin. Die vier Kinder sind längst erwachsen. Seine Frau, eine Lehrerin, ist inzwischen pensioniert. Und so erlebe ich bei meinem Besuch der beiden ein Paar wie Philemon und Baucis. Er, ein schmaler hochgewachsener Mann, hat gerade eine Lungenentzündung überwunden.

 

Nach dem Schlaganfall begann Matthies mit den Blatný‑Nachdichtungen. „Ich sagte mir, jetzt wird es langsam Zeit, wenn du es lesen willst.“ Und nun traute er sich, das Tschechisch, das er sich selbst beigebracht hatte, umzusetzen für seine deutschen Nachdichtungen. Das Lernen der tschechischen Sprache nennt er ein Vertrautmachen. „Wenn ich mich selbst befragen würde, danach, ob es Dichter gibt, zu denen ich Vertrauen habe und die mir vertrauen können, dann wären das Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche und Ivan Blatný.“

 

Matthies spricht so, als lebten sie alle noch, deren Namen er nennt. Er trägt sie in sich. Wenn er von Blatný spricht, sagt er: „Die Sprache singt. Jedes Wort gibt das nächste Wort. Blatný lebte 4o Jahre in einer völlig fremden Kultur. Niemand war eigentlich da in seiner eigenen Sprache. Und dann das Wunder dieser Lyrik.“

 

Den drei von Matthies bewunderten Dichtern wird Wahn, Wahnsinn zugeschrieben. Wenn es so ist, war es die hohe Zeit der Dichtung. Matthies gibt den Zuschreibungen einen anderen Sinn: „Einzig, was in der Phantasie existiert, existiert tatsächlich – lebt, einzigartig, universal, unsterblich.“

 

In der Nachdichtung Hilfsschule Bixley gibt Matthies dem Durcheinander des desaströsen 2o. Jahrhunderts die Struktur einer Erinnerung aus der Einbildungskraft Blatnýs. Blatný und Matthies zeigen die Dissonanz als Geheimnis der Harmonie. Matthies hat den Gedichten des Tschechen einen voluminösen Anmerkungsapparat als Anhang hinzugefügt – wegen der häufigen Verwendung von realen Personen- und Ortsnamen und Geschichtsdaten. Er zeigt auch, wie Blatný im Wechsel von tschechischer Sprache in die englische oder deutsche sein Europa verteidigt und zusammengehalten hat.

 

 

Übersetzung der Einleitung: Ilka Giertz


zpět