Es schreibt: Libuše Heczková

(5. 4. 2017)

Die Vielfalt der Vereinsamung

 

Gegen Ende 2016 gab das Masaryk-Institut und Archiv der tschechischen Akademie der Wissenschaften Lucie Merhautovás Paralely a průniky. Česká literatura v časopisech německé moderny (1880–1910) [Parallelen und Überschneidungen. Die tschechische Literatur in den Zeitschriften der deutschen Moderne (1880–1910)] heraus. Das Buch beobachtet von Beginn der 1880-er Jahre bis zum Vorkriegsjahrzehnt (einer Zeit, die den Beginn eines neuen Kapitels deutsch-tschechischer literarischer Kontakte bedeutet) fünf deutsche Zeitschriften: Auf der Höhe (1881–1885), Die Gesellschaft (1885–1902), Aus fremden Zungen (1891–1910), Monatsschrift für Neue Literatur und Kunst (1896–1898), Das literarische Echo (1898–1924), ebenso deren Herausgeber und Vermittler, die über tschechische Literatur schrieben, Übersetzer und Übersetzerinnen. Die historische Interpretation wird um eine Anthologie von Artikeln zur tschechischen Literatur aus diesen Zeitschriften ergänzt, selbstverständlich fehlt auch nicht eine detaillierte Bibliografie sowie die umfangreiche Auflistung von Quellen und verwendeter Literatur.

 

Lucie Merhautová hat mit ihrer Interpretation, Anthologie und Bibliografie ein polyperspektivisches Bild geschaffen, das gleichermaßen Bohemisten, Germanisten, Translatologen sowie ein breiteres Publikum interessieren kann, das die frische Art der Arbeit zu schätzen weiß, auch wenn die Autorin nicht versucht, sich mit einfachen Bildern anzubiedern. Es geht nicht nur um die Geschichten der jeweiligen Zeitschriften und konkrete Fälle, im Buch finden wir obendrein aufschlussreiche Portraits von Persönlichkeiten, die im bohemistischen Umfeld zwar bekannt sind, doch meist begnügen wir uns bei ihnen mit tradierten und einfachen Etikettierungen. Ich denke etwa an Leopold von Sacher-Masoch, Herausgeber der Zeitschrift Auf der Höhe, dessen Namen wohl jeder tschechische Leser kennt (auch wenn er eng mit dem böhmischen Umfeld verbunden war, wurde sein Werk, mit Ausnahme der Venus im Pelz, kaum ins Tschechische übersetzt). Von den weiteren gelungenen Portraits dieses Buches sollen die Darstellungen Bronislav Welleks, Vater des Literaturhistorikers und -theoretikers René Wellek, des Schriftstellers Paul Leppin, des Übersetzers und Dichters Adolph Donath, Oskar Wieners, Camill Hoffmanns, Arnošt Kraus‘ oder der Übersetzerin und Dichterin Otilie Malybrok-Stieler Erwähnung finden. Einen wertvollen Beitrag zur besseren Kenntnis der Literatur des Fin de siècle liefert die neue Facette in der Charakterisierung Rainer Maria Rilkes als Vermittler zwischen der tschechischen und der deutschen Kultur. Merhautová widmet nicht nur deutschsprachigen VermittlerInnen aus Deutschland und Österreich (Böhmen, Mähren, Wien) Aufmerksamkeit, als ebenso wichtig erachtet sie die vermittelnden Aktivitäten der tschechischen SchriftstellerInnen, unter ihnen vor allem Arnošt Procházka, Redakteur der Moderní revue.

 

Aus den Texten zur tschechischen Literatur und ihren Übersetzungen in den deutschsprachigen Zeitschriften erwächst unter anderem ein ungewöhnliches Bild vom literarischen Geschehen, aber auch von der modernistischen tschechischsprachigen Literatur selbst. In ihrem Zentrum steht bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Vrchlický – nicht als alter, überwundener Götze, sondern als außerordentlicher Dichter, der über die Provinzialität der heimischen Literatur hinausragt. Das Thema der Bedeutung und des Falls Jaroslav Vrchlickýs Ende des 19. Jahrhunderts durchdrang bereits die vorangegangenen Arbeiten Lucie Merhautovás zu Persönlichkeiten, die andere Wege des intellektuellen und literarischen Bewusstseins propagierten als den dargestellten. In der modernen Selbstpräsentation der tschechischen Kultur hat Vrchlický die Rolle des „gestürzten“ Vaters inne. Die Arbeiten Lucie Merhautovás, die sich mit den drei zentralen Spielern dieser „literarischen Revolution“ – F. V. Krejčí, J. S. Machar und T. G. Masaryk – und deren Allianzen mit der Wiener Moderne beschäftigen, sind heute unabdingbare literarische und historische Quellen. Jede von ihnen registriert und beleuchtet sorgfältig die uneindeutige Dynamik der Konflikte, die sich durch die gesamten 1890-er Jahre zogen. Der wissenschaftliche Weg Merhautovás ist ungewöhnlich logisch und kontinuierlich: von ihrer Magisterarbeit zu F. V. Krejčí, über die erweiterte Dissertation Mezi Prahou a Vídní (Zwischen Prag und Wien, 2011) zur Beziehung Hermann Bahrs und der Zeitschrift Die Zeit zu Machar, Krejčí und anderen tschechischen Mitstreitern für eine moderne Kultur, bis hin zum zweibändigen Werk über die Zeitschrift Die Zeit (2011, 2013), das aus der Zusammenarbeit mit Kurt Ifkovits und Vratislav Doubek hervorgegangen ist. Zu diesen Arbeiten kommt bald die Publikation über die bislang unbekannte Korrespondenz T. G. Masaryks und J. S. Machars hinzu, die im Team des Masaryk-Instituts und des Archivs der tschechischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Helena Kokešová entsteht.

 

Der Großteil der Arbeiten Lucie Merhautovás konzentrierte sich also auf die Zeit des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, als sich auch die Beziehungen zwischen der tschechischen und der deutschen Linie der Habsburgermonarchie radikal veränderten (politisch und wirtschaftlich wurden sie ausgeglichener), als sich das Verhältnis zwischen Provinz und Zentrum veränderte und sich verschiedene neue Typen von Nationalismus bildeten. Parallel entstanden neue Bündnisse zwischen den „jungen“ Pragern, Wienern, Berlinern, denen künstlerische Probleme viel grundlegender schienen, auch wenn diese Probleme in den Mehrheitsgesellschaften in Prag, Wien oder Berlin kaum Widerhall fanden. Dabei ignoriert das neue Buch auch nicht die Fragen des Jüdischen und weist anhand der Schicksale der Zeitschriften, ihrer Herausgeber und Redakteure, die sich immer öfter mit ihrem Judentum oder dem Judentum der für sie Schreibenden konfrontiert sahen, auf Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten hin. Die Dynamik dieser kurzen Zeit ist, wie Merhautovás Texte und auch die jeweiligen abgedruckten Artikel der Anthologie implizieren, ihrer Vielschichtigkeit und ihres Konfliktreichtums wegen brisant. Die Autorin formuliert umsichtig und gleichzeitig radikal eine Reihe neuer Thesen zu den Beziehungen zwischen den jeweiligen literarischen, kulturellen und gesellschaftlichen Strömungen, zwischen „fremden“ und „eigenen“ Positionen, zwischen dem „Zentrum“ und der „Peripherie“, zwischen dem „Neuen“ und dem „Alten“, zwischen „Tradition“ und „Modernität“.

 

Das Buch Parallelen und Überschneidungen wendet sich hin zu Übersetzungen, Essays und Kritiken, zu weiteren Typen der Vermittlung. Es ist jedoch nicht nur in historischer Hinsicht bemerkenswert, sondern auch in methodologischer. Lucie Merhautová bekennt sich zu den theoretischen Arbeiten Michel Espagnes und Werner Greilings, wobei die Theorie allein nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht – sie ist der Impuls, aus dem sich die sorgfältige literaturhistorische Arbeit entwickelt, in der auch Spuren weiterer Kulturtheorien zu beobachten sind (z. B. die Feldtheorie Pierre Bourdieus). Sie bedient sich auch eines jener markanter Verfahren, die die zeitgenössischen methodologischen, in die Interpretation von Kultur und letztendlich auch Literatur eingreifenden Ansätze mit sich gebracht haben und für das sich der englische Begriff „turn“ etabliert hat (im deutschsprachigen Umfeld beschäftigt sich Doris Bachmann-Medick mit diesen kulturologischen Konzepten). Dieses zuweilen missbrauchte Wort bedeutet einen Typ methodologischer Wende, der eine Änderung des Blickwinkels, des Fokus‘ ermöglicht und damit auch eingefahrene Vereinfachungen und Wiederholungen abschafft, die unseren Horizont begrenzen, die Stereotypen bestärken, aber auch Eintönigkeit mit sich bringen.

 

Ein grundlegendes Buch über dieses Verfahren der Vermittlung ist der translatologische „Klassiker“ Descriptive Translation Studies and Beyond von Gideon Toury aus dem Jahr 1995. Mit seinen Theorien arbeitet in Tschechien beispielsweise Eva Kalivodová in ihrem Buch Browningová nebo Klášterský? Krásnohorská nebo Byron? [Browning oder Klášterský? Krásnohorská oder Byron?] über das Übersetzen englischer Literatur ins Tschechische (siehe das Echo vom 10. 08. 2011). Toury betrachtet die Übersetzung als einen konstitutiven Teil der Literatur, in die übersetzt wird: Die Art, wie übersetzt, wie vermittelt wird, was der Zweck der Vermittlung ist, bewertet er als eine der wichtigsten Erkenntnisquellen literarischen Lebens. Diese These integriert die „natürliche“ Eigenart des „fremden“ Blicks, der eine wichtige Bedeutungsverschiebung bietet. Auf der anderen Seite ist die Art, wie Übersetzungen betrachtet werden, ebenfalls grundlegend für die Ausgangskultur – woher die Quelle kommt, wer sie auswählt und warum. In den von Lucie Merhautová beobachteten Fällen geht es methodologisch um ein mehrschichtiges Problem der Vermittlung, nämlich um den Transfer zwischen Sprachen, die zu einem bestimmten historischen Moment (aus damaliger Sicht) nicht gleichwertig sind, topografisch aber nebeneinander existieren, wobei gleichzeitig die eine vielfach über ihren Platz hinausgreift, die andere wiederum mit dem Raum dieses historischen Gebiets auf fatale Weise verbunden ist. Diese Asymmetrie des Großen und Kleinen, des Peripheren und Zentralen wirkt, wie die Arbeit zeigt, ebenso „ungünstig“ auf das deutschsprachige Schaffen, das gerade aus der begrenzten Peripherie des böhmischen Gebiets hervorgeht. Diese nicht symmetrischen literarischen Situationen und Übergänge, die es u. a. möglich machen herauszufinden, wer sich für tschechische Literatur interessierte, wer sie übersetzte, welche Texte und für welche Zeitschriften, dokumentiert Merhautová mit großer heuristischer Akribie. Es gelingt ihr auch, die Lage der in sprachlicher Hinsicht tschechischen Kultur innerhalb der deutschen zu erklären, ebenso die Wege der Überwindung dieser Marginalität; auf der anderen Seite beleuchtet sie die Entstehung einer neuen deutschen Kultur, der so genannten Heimatkultur, in der auch die Zugehörigkeit zur böhmischen Region weitaus stärker akzentuiert wurde. Sie beobachtet jedoch nicht ausschließlich die Bewegung vom tschechischen Marginalen zum tschechischen Emanzipierten, sondern auch parallele deutsche Prozesse, die nicht nur zur Radikalisierung der Misshelligkeit führten, die nach den Badeni-Sprachgesetzen in den Straßenunruhen von 1897 explodierte. Einige deutsche AutorInnen nahmen ihre Identität als weitaus enger an den Ort geknüpft wahr; die Einheit und Vielfalt schien im gemeinsamen Haus vorteilhaft und inspirierend zu sein. In diesem Sinne spielte das modernistische Suchen nach den primordialen Wurzeln der Kultur, das die Rückbesinnung auf die Folklore und ihre Reinterpretation mit sich brachte, eine wichtige Rolle. Das deutsche Interesse an der tschechischen Volksdichtung und vor allem am Volkslied muss aus dieser Perspektive nicht als romantische Rückkehr zur Reinheit oder einer „kolonialen“ Zuneigung zur nicht entwickelten oder bislang unverdorbenen Quelle interpretiert werden, sondern in Vielem als Anerkennung des Selbstbewusstseins jener anderen Kultur, mit der man die Heimat teilte.

 

Die Modernität der tschechischen und deutschen Literatur, die sich in Böhmen und Mähren entwickelte, beschädigte immerhin die Mauer der Sprachen, die vor aller Augen wuchs. Wie der österreichische Wissenschaftler Kurt Ifkovits in seinem Artikel über Hugo von Hoffmannsthal und seine Prager Besuche schrieb: „Es wäre allerdings vereinfachend, Prag bloß als ein Prisma eindeutig abgrenzbarer Nationalitäten und damit ausschließlich vor der Folie von Konflikten, Symbiosen und Vermittlungen zu betrachten“ (In: Politici, umělci a vědci ve veřejném prostoru na přelomu 19. a 20. století [Politiker, Künstler und Wissenschaftler in der Öffentlichkeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert], hg. von H. Kokešová. Prag: Masarykův ústav und Archiv AV ČR, 2015, S. 121). Lucie Merhautová tut dies nicht: Durch die lebendigen und zahlreichen gelebten Kontakte, Beziehungen, Dialoge spricht sie in Konsequenz von einer gemeinsamen modernen „Prager“ religiös, geografisch und künstlerisch potenzierten Vereinsamung.

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Lucie Merhautová: Paralely a průniky. Česká literatura v časopisech německé moderny (1880–1910) [Parallelen und Überschneidungen. Die tschechische Literatur in den Zeitschriften der deutschen Moderne (1880–1910)]. Praha: Masarykův ústav a Archiv AV ČR, 2016, 480 S.


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