Es schreibt: Jakub Raška

(29. 3. 2017)

„Zu jeder Zeit gibt es viel mehr Literatur, als im literaturgeschichtlichen Gedächtnis behalten werden kann. Auf die Entdeckung unbekannter Meisterwerke ist nicht zu hoffen. Ich meine aber, es hat einen Sinn, einen Schriftsteller, der einen wesentlichen Beitrag zum literarischen Leben seiner Zeit geleistet hat, wieder sichtbar werden zu lassen, um der Entropie der Literaturgeschichte entgegenzuwirken.“ So erklärt der U.S.-amerikanische Germanist Jeffrey L. Sammons (Yale University), der sich auf die Literatur des 19. Jahrhunderts spezialisiert, die wichtigste Motivation, die ihn zum Verfassen der allerersten Monografie über den deutschböhmischen Schriftsteller Alfred Meißner geführt hat.

 

Wohl kaum würde man heute unter Laien Leser finden, die aus reiner Freude an der schönen Literatur zu einem Buch des gebürtigen Teplitzers Alfred Meißner (1822–1885) greifen. Ja selbst unter Studierenden der Geschichte, Bohemistik und größtenteils auch der Germanistik gehört die Kenntnis seiner Schriften oder gar seiner Person heutzutage nicht zur Grundausstattung. Trotzdem erfährt Meißner in diesen Disziplinen noch ein gewisses Interesse. In der internationalen Germanistik hauptsächlich aufgrund seiner engen Beziehung zu Heinrich Heine, dem er zwei Schriften widmete, wobei die zweite das einzige Buch Meißners ist, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurde (Ich traf auch Heine in Paris: Unter Künstlern und Revolutionären in den Metropolen Europas, Hrsg. Rolf Weber, Berlin 1973 und 1982). Auf diese indirekte Weise gelangte wohl auch Sammons, selbst ein führender amerikanischer Kenner von Heines Werk, zu Meißner.

 

Für die tschechische Geisteswissenschaft ist Meißner vor allem als bedeutender Vertreter der deutschböhmischen Literatur des Vormärz und der Zeit nach 1848 interessant sowie als Herausgeber von Memoiren und anderen Schriften von mit diesem Gebiet verbundenen Persönlichkeiten, wie z. B. Karl Postl/Charles Sealsfield, Augustin Smetana oder sein Großvater August Gottlieb Meißner, der erste Protestant, der nach der Schlacht am Weißen Berg an der Karl-Ferdinands-Universität wirkte.

 

Mehrere Studien und Lexikoneinträge sind Alfred Meißner gewidmet: unter anderen noch in Ottos Konversationslexikon (Ottův slovník naučný), im Lexikon der tschechischen Literatur (Lexikon české literatury) wäre sein Name jedoch nur schwer zu finden, denn dieses verzeichnet die deutschsprachige Literatur aus den böhmischen Ländern nicht. In den Texten, die bisher über ihn geschrieben wurden, zerfällt sein Leben und Werk – nicht ganz zu Unrecht – in zwei Einheiten: Während man bis 1849 sein literarisches Schaffen in Zusammenhang mit der Entwicklung seines politischen Engagements verfolgt, werden in der Zeit nach dem Scheitern der Revolution, in der der rebellierende Dichter versuchte, ein großer Romancier und Dramatiker seiner Zeit zu werden, mehr die literarischen Aspekte seiner Werke in Augenschein genommen und dabei der dramatische Streit mit dem Schriftsteller Franz Hedrich betont, dessen Drohungen, die (bis heute nicht nachgewiesene) Mitautorenschaft an Meißners Werken an die Öffentlichkeit zu bringen, Meißner gar in den Selbstmord trieben.

 

Außer zwei Dissertationen vom Anfang des 20. Jahrhunderts (Rudolf Humborg: Alfred Meißner: eine literarhistorische Studie, Erfurt 1911; Hans Christoph Ade: Der junge Meißner, München 1914) wurde dem Autor bislang kein Buch gewidmet, was teilweise auch durch die Mutmaßungen und die Verlegenheit bezüglich der von Hedrich angefochtenen Autorenschaft der Meißner zugeschriebenen Werke verursacht wurde. Gerade diesen gewissen Missstand versucht Sammons mit seiner Publikation zu begleichen.

 

Sammons' Arbeit gründet nicht auf eigener Forschung, sondern schöpft nur aus Aufsätzen, die über Meißner bereits geschrieben wurden, sowie aus dessen eigenen veröffentlichten Werken. (Unveröffentlichte) Archivquellen berücksichtigte er überhaupt nicht; als einzige Quelle zu Meißners Leben und vor allem zur Deutung der Ereignisse, an denen Meißner aktiv beteiligt war, dient ihm die Autobiografie aus den Jahren 1884/1885. Der marginale Anteil originärer Forschung und die wenigen „neuen“ Fakten in der vorliegenden Arbeit müssten an sich überhaupt kein Problem darstellen: Kompilationsarbeiten bzw. analytische und reflektierende Werke können oft gedanklich anregender sein als originäre Monografien. Mich würde nicht einmal die Tatsache stören, dass das Buch seinen Zugang zur Problematik nicht theoretisch eingrenzt – Sammons versucht Meißner unter Laien zu popularisieren, die sich nicht allzu sehr dafür interessieren, ob sich der Buchautor methodologisch zum Marxismus, Strukturalismus oder Poststrukturalismus bekennt.

 

Das Hauptproblem des Buchs, das an manchen Stellen an einen rasch geschriebenen studentischen Text erinnert, liegt darin, dass der Autor nicht „fragt“ und statt einer problemorientierten Arbeit eine etwas mehr als 100-seitige Publikation vorlegt, in der er die Fakten ohne einen tieferen Zusammenhang und ohne eine klare Hierarchie ihrer Bedeutungen anhäuft. Der Fehler scheint so schon am Anfang zu liegen: Sammons hat keine grundlegende Forschungsfrage formuliert. Nachdem er Ereignisse aus Meißners Leben vorstellt (die größtenteils auch anderswo zu finden sind), widmet er einzelne Kapitel den Gattungen, mit denen sich Meißner beschäftigte. Auch hier spart Sammons an analytischen Passagen – meistens erzählt er lediglich die Handlung eines konkreten Werks mit einem „interpretierenden“ Satz (im besseren Fall einem Absatz). Über Schwarzgelb. Roman aus Oesterreichs letzten zwölf Jahren (1862–1864), einen der bekanntesten der insgesamt zwölf Meißners Romane, erfährt man neben der Schilderung verschiedener Geschichtsstränge und der Charaktereigenschaften der Figuren z. B. nur soviel, dass es sich „vor allem [um] eine einzige erbitterte Kritik an den nachmärzlichen Zuständen in Österreich“ (S. 92) handele. Es ist jedoch nicht besonders schwierig auch ohne Sammons' Hilfe darauf zu kommen. Ein weiteres Genre, an das das Buch erinnert, ist deshalb die kommentierte Bibliografie. Darin liegt wohl auch der größte Vorzug von Sammons' Arbeit: Wenn sich der heutige Forscher schnell und grundlegend in Meißners Schriften orientieren möchte, stellt das Buch eine bessere Quelle dar als beispielsweise so manche Internetseite.

 

Alle Probleme, Problematiken und Denkanstöße, die am Beispiel von Meißners Leben und Werk auftauchen, scheint der Autor folglich nicht zu sehen. Er schweigt über sie oder erwähnt sie nur am Rande. Mit nur einem Satz tut er z. B. Meißners Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Deutschen und Tschechen ab oder dessen erfolglosen Versuch, eine gemeinsame Koalition beider Ethnien während der Revolution 1848 zu gründen, der jedoch von den tschechischen Nationalliberalen mit František Palacký an der Spitze abgelehnt wurde. Dabei war Meißner kurz vor seiner Emigration nach Leipzig einer der Stammautoren der Prager Zeitschrift Ost und West, die sich neben ihren unbestrittenen intellektuellen Qualitäten gerade um die Brückenbildung zwischen dem deutschen und tschechischen Ethnikum in Böhmen bemühte. Meißners Einstellung zum aufkommenden Nationalismus Mitte des 19. Jahrhunderts hätte eine eigene Analyse verdient.

 

Damit hängt auch ein weiterer möglicher Weg zusammen, wie man Meißners Persönlichkeit begreifen könnte. Einen bedeutenden, ja sogar formativen Bruch im Denken der ganzen Generation der „Vormärzrebellen“ stellt der allmähliche Übergang vom Radikalismus (in Meißners konkretem Fall vom Sozialismus) zum Nationalismus dar. Gerade so als sagten ihnen von der gedanklichen Mannigfaltigkeit der Romantik deren konservativsten Töne schließlich am meisten zu. Kurz vor 1848 gehörte Meißner zusammen mit beispielsweise Ferdinand Freiligrath oder eben Heine zu den radikalsten Schriftstellern der ganzen deutschsprachigen Welt. Ein anderer böhmischer Landsmann Karl Herloßsohn schrieb in seiner lobenden Rezension von Meißners Gedichten (1845), die er in seiner Leipziger Zeitschrift Der Komet veröffentlichte: „Bis jetzt hatten wir viele und geistreiche Theoretiker des Sozialismus in Deutschland, aber diese neue Religion hat erst in Meißner ihren Dichter gefunden.“

 

Meißners Faszination für den Sozialismus gipfelte – wie auch Sammons richtig beobachtet –1849 im Buch Revolutionsstudien aus Paris. Andererseits kam nach der Revolution die Ernüchterung und Meißner wandte sich immer mehr dem deutschen Nationalismus zu, obwohl er noch während der Revolution (im Gegensatz zu Moritz Hartmann, Abgeordneter der Frankfurter radikalen Linken und sein engster Freund aus der Vormärzzeit) ein Verfechter der kleindeutschen Lösung gewesen war. Die ganze Sache wird auch dadurch verkompliziert, dass er später in der Meinung zum deutschen Nationalismus mit seinem engsten Freund und Denkgefährten „die Rollen tauschte“ – Hartmann beispielsweise reagierte auf die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 sehr reserviert.

 

Diese wichtigen Denk- und Forschungsansätze streift Sammons leider nur mit einer knappen Feststellung, anstatt sich mehr mit ihren Ursachen zu beschäftigen – dass dies die Erfahrung der Zeit war, legt zum Beispiel auch der Wandel eines weiteren Meißner-Freundes nahe, des Komponisten Richard Wagner, der sich, bevor er die deutsche Volksmythologie in seine Opern einfließen ließ, mit dem Gedanken der Gründung einer egalitären Republik beschäftigte.

 

Zum Schluss kann man sagen, dass Sammons' Meißner-Monografie keinen wertvollen Beitrag zum Genre der „Auffrischung des Vermächtnisses vergessener Größen“ darstellt – im Gegensatz z. B. zu der gründlichen Analyse, die Zuzana Urválková über das Werk des bereits genannten Karl Herloßsohn verfasst hat (Dvojlomná zrcadlení. Dílo Karla Herloše-Herloßsohna v českém literárním kontextu [Doppelte Spiegelungen. Das Werk Karls Herloßsohns im tschechischen Literaturkontext], 2009). Natürlich wäre Freude darüber angebracht, dass sich nach einer sehr langen Zeit jemand mit dem Werk dieses Schriftstellers beschäftigt hat. Dennoch denke ich, dass wir von der gegenwärtigen Literaturwissenschaft etwas mehr als das Genre „lebte und schrieb“ verlangen sollten, welches hier außerdem sehr zweifelhaft bewältigt wurde. Bald hört hoffentlich auch die auf Deutsch geschriebene Literatur aus den böhmischen Ländern auf, als uneheliches Kind der Literaturgeschichte wahrgenommen zu werden, und die tschechische Literaturwissenschaft gelangt dahin, eine territorial und nicht national (oder gar ethnisch) aufgefasste Literaturgeschichte aus Böhmen und Mähren zu verfassen. Es bleibt nur zu hoffen, dass darin dann der Abschnitt über Meißner sensibler behandelt wird, denn sein Leben und Werk wirft bis heute viele aktuelle Fragen auf.

 

Übersetzung: Katka Ringesová

 

 

Jeffrey L. Sammons: Alfred Meißner. Hannover: Wehrhahn, 2014, 128 S.


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