Es schreibt: Martin Hořák

(15. 3. 2017)

Im September letzten Jahres sind in der neu gegründeten Museumsenklave in der Masaryk-Straße im nordböhmischen Liberec (Reichenberg) zwei thematisch miteinander verbundene Ausstellungen zu Ende gegangen. Das Nordböhmische Museum (Severočeské muzeum) und die Regionalgalerie (Oblastní galerie) präsentierten gemeinsam in vier Sälen eine Installation über die sog. Deutschböhmische Ausstellung, die hier vor genau 110 Jahren gezeigt worden war. Die damalige Ausstellung, die nun unter dem tschechischen Titel Německočeská výstava präsentiert wurde, stützte sich auf ein klar nationales Programm. Die Besucherzahlen sowie die Einnahmen waren 1906 zwar weit hinter den Erwartungen geblieben, dennoch lässt sich die Ausstellung als eine repräsentative und authentische Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation sehen, in der ein wichtiger Teil der deutschsprachigen Bevölkerung Böhmens in der letzten Dekade vor dem Ersten Weltkrieg lebte. Bei der aktuellen Auseinandersetzung mit der damaligen Ausstellung ist aus fachlicher Perspektive besonders der Erkenntnisgewinn über die deutschböhmische Kunstszene an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert bis hin zur Zwischenkriegszeit hervorzuheben. Zur Erforschung dieser Szene haben in den letzten Jahren vor allem die Kunsthistoriker Anna Habánová und Ivo Habán beigetragen, deren erster Beitrag die Ausstellung „Junge Löwen im Käfig“ / „Mladí lvi v kleci“ im Jahre 2013 war (vgl. dazu das Echo von Eva Jelínková vom 17. 2. 2014).

 

Die Publikation Německočeská výstava Liberec 1906 / Deutschböhmische Ausstellung Reichenberg 1906, um die es in diesem Beitrag vor allem gehen soll, wurde unter der Leitung von Anna Habánová von insgesamt elf AutorInnen aus unterschiedlichen regionalen Institutionen zusammengestellt. In dem zweisprachig deutsch-tschechischen, Band mit zahlreichem Bildmaterial, sind dreizehn frei aufeinander aufbauende Studien vertreten, die sich in umfangreichen Synthesen oder kürzeren Beiträgen mit unterschiedlichen Aspekten der Ausstellung oder aber einzelnen KünstlerInnen beschäftigen.

 

In der Einführung setzen sich Anna Habánová und Milan Svoboda mit der tschechischen Übersetzung des Adjektivs „deutschböhmisch“ auseinander. Sie räumen ein, dass der von ihnen verwendete Begriff „německočeský“ nicht ganz eindeutig und historisch unpräzise sei, da das Tschechische keine Möglichkeit habe, die territoriale und nationale Zugehörigkeit begrifflich voneinander zu trennen, wie es im Deutschen mit den beiden Begriffen „böhmisch“ und „tschechisch“ der Fall ist. Ich kann nachvollziehen, dass die AutorInnen bemüht waren, statt komplizierter Umschreibungen eine kurze und praktikable Bezeichnung für die deutschsprachigen BewohnerInnen des damaligen Königreichs Böhmen zu finden. Dennoch kann ich ihrer Behauptung, die Bezeichnung „německočeský“ sei sprachlich korrekt, nicht ganz zustimmen. In der Bedeutung, in der der Begriff nicht nur hier, sondern auch in anderen Publikationen der Herausgeberin sowie auf der Webseite Deutschböhmische Kunst verwendet wird, widerspricht er einerseits dem sprachlichen Usus (vgl. dazu der Eintrag „německočeský“ im Příruční slovník jazyka českého [Handwörterbuch der tschechischen Sprache]) und impliziert andererseits das unsinnige sprachliche Konstrukt „němečtí Češi“ (wörtlich: deutsche Böhmen/Tschechen) als Übersetzung von „Deutschböhmen“. Es zeigt sich also, dass man wohl um solch komplizierte Umschreibungen nicht herumkommt.

 

Die Publikation eröffnet ein ausführliches Kapitel von Miloslava Melanová und Tomáš Okurka zur Entstehung der Ausstellung vor dem Hintergrund der damaligen nationalen Situation in Böhmen im Allgemeinen und in Liberec / Reichenberg und Umgebung im Speziellen. Des Weiteren wird hier an die geplatzten Träume der Stadt erinnert, die Metropole des deutschsprachigen Böhmens werden zu wollen. Aus der darauf folgenden Übersicht zum Ablauf der Ausstellung, zu ihren Ergebnissen sowie ihrer zeitgenössischen Resonanz auf deutscher und tschechischer Seite geht hervor, dass die Reichenberger Ausstellung einem damaligen europäischen Trend entsprang, der seinen Widerhall auch in anderen nordböhmischen Städten fand: in Most (Brüx, 1898), Ústí nad Labem (Aussig, 1903) oder Chomutov (Komotau, 1913, vgl. dazu: Ondřej Děd: Německo-česká výstava 1913 / Deutsch-böhmische Landesschau Komotau 1913, Chomutov 2014). Von den anderen nordböhmischen Ausstellungen unterschied sich die in Liberec einerseits durch ihren deutlich größeren Umfang und andererseits durch eine viel radikalere Rhetorik.

 

Das Reichenberger Ausstellungsprojekt – dessen Vorbild im Positiven wie im Negativen die Prager Landes-Jubiläumsausstellung von 1891 war – zeichnete sich durch scharfe nationalistische Töne und konfrontative Positionen gegenüber der tschechischsprachigen Bevölkerung aus. Melanová und Okurka zitieren hier den Aufruf an künftige Aussteller vom Dezember 1904, in dem es heißt, das Ziel der Ausstellung sei es: „den Beweiß [zu] liefern, daß gerade das deutsche Volk Böhmens der vornehmste Träger der wirtschaftlichen Wohlfahrt des Reiches ist“ und dadurch „die Berechtigung der darauf fußenden politischen und nationalen Forderungen unseres deutschböhmischen Volkes [zu] erhärtern“ (S. 46). In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass bereits 1900 im Berliner Verlag Concordia die fünfhundertseitige Publikation Deutsche Arbeit in Böhmen (online verfügbar) erschienen war, der ähnliche Prämissen zugrunde lagen wie der Ausstellung in Liberec. Auch sie sollte die Früchte der fleißigen Arbeit der deutschböhmischen Bevölkerung in Böhmen präsentieren und das ebenfalls vor allem im Bereich der Kunst.

 

Der Anspruch auf die dominante Rolle der Deutschen in Böhmen sollten im Rahmen der Deutschböhmischen Ausstellung vor allem die Erfolge der deutschen Industrie beweisen. So widmet sich Tomáš Okurka im zweiten Beitrag der Publikation einzelnen Industriezweigen, allen voran der Textil- und Chemieindustrie, die in den deutschsprachigen Regionen Spitzenreiter waren. Weitere Kapitel beschäftigen sich dann mit Themen wie der Fotografie, der Architektur der Ausstellung, der Präsentation des Kunstgewerbes oder aber des kunstgewerblichen Fachschulwesens. Erwähnt sei hier zumindest der Artikel von Kateřina Nora Nováková, in dem sie sich dem Nordböhmischen Industriemuseum (Severočeské průmyslové muzeum) widmet. Im Hinblick auf die Ziele der Ausstellung scheint es symptomatisch, dass eben in dieser zentralen Erinnerungsinstitution auch der Kaiser Franz Joseph I. feierlich empfangen wurde. Dies ist eindeutig als ein Motiv der Loyalität zum Hause Habsburg zu sehen, in dem die meisten Deutschböhmen – ebenso übrigens auch die meisten ihrer tschechischsprachigen MitbürgerInnen – eine Garantie für ihre nationalen und politischen Bestrebungen sahen.

 

Drei weitere Beträge beschäftigen sich mit der Rolle der bildenden Kunst im Rahmen der Reichenberger Ausstellung 1906. In ihrem Überblick Die zeitgenössische bildende Kunst als Argument zur Verteidigung der deutschböhmischen Existenz konzentriert sich Anna Habánová auf das Konzept der Ausstellung, für die ein eigenständiger Pavillon der bildenden Kunst gebaut wurde. Etwas weniger ausführlich behandelt sie dann die Malerei und Bildhauerei im Zusammenhang mit anderen Teilen der Ausstellung. Dafür widmet sie drei Fresken von Bertold Löffler, die den zentralen Saal des Hauptpavillons schmückten und auf allegorische Weise die Verbundenheit der Deutschböhmen und der Stadt Liberec mit dem Hause Habsburg darstellten, nicht nur in ihrer Studie, sondern auch im Begleittext zur Ausstellung besondere Aufmerksamkeit. Etwas überraschend erscheint, dass abgesehen von dieser einen Anspielung keine weiteren politischen Ziele der Ausstellung in die Präsentation der bildenden Kunst Eingang gefunden haben, obwohl diese dafür als Ausdrucksmittel geradezu eine ideale Projektionsfläche geboten hätte. Habánová erklärt an dieser Stelle, dass es für den Pavillon der bildenden Kunst keine durchdachte Konzeption gab: angenommen wurden im Prinzip alle Werke, als Voraussetzung galt lediglich, dass die AutorInnen zu den Deutschböhmen gehörten und die grundsätzlichen Qualitätsansprüche erfüllt waren. Das Ziel war es, eine modern konzipierte Ausstellung zu präsentieren und dabei zu zeigen, dass die Kunst der Deutschböhmen auf der Höhe der Zeit war.

 

Viel mehr als den Inhalt des Pavillons könnte man seine Architektur als programmatisch bezeichnen. Der Architekt Josef Zasche folgte dem damaligen Trend zur Sakralisierung der Kunst und konzipierte das Gebäude als sakralen Raum. Dies wurde im Inneren durch zwei Mosaike, Personifizierungen von Bildhauerei und Malerei, noch weiter potenziert. Ihrem Autor, dem allseitig begabten Richard Teschner, widmet sich in seiner Studie David Chaloupka. Der Regionalgalerie ist es gelungen, die domähnliche Konzeption des Raumes mit einem erhöhten Mittelteil sehr treu nachzubilden. Das unlängst rekonstruierte Gebäude des ehemaligen Staatsbads (erbaut 1900–1902), in dem die Galerie seit 2014 zu Hause ist, ist an sich schon ein Beispiel des architektonischen Antlitzes der Stadt am Anfang des 20. Jahrhunderts. Den meisten Raum im Pavillon der bildenden Kunst bekam der Bildhauer Franz Metzner: Ihm stand ein ganzer Flügel des Gebäudes zur Verfügung; zudem präsentierte er sich ebenfalls im Hauptsaal mit der Plastik Die Erde – einem zusammengekauerten männlichen Akt, einem Adam im heiligen Augenblick der Schöpfung. Metzner war zudem mit einem Brunnen in einer Nische des Hauptpavillons vertreten. Dem Künstler und seiner Rolle bei der Ausstellung widmet sich Jan Mohr, der sich mit Metzner schon seit längerer Zeit beschäftigt (vgl. dazu seine Publikation zur Ausstellung im Nordböhmischen Museum in Liberec Socha a architektura mezi secesí a monumentem / Skulptur und Architektur zwischen Jugendstil und Monument, 2006).

 

Das Bildmaterial zu Anna Habánovás Studie zeigt einen sehr umfangreichen Querschnitt der ausgestellten Werke aus den Bereichen Malerei, Bildhauerei, Grafik, Medaillenkunst und Keramik. Obwohl nur etwa die Hälfte von den ursprünglich 259 im Katalog aufgeführten Werken ausfindig gemacht werden konnte, präsentierte die Regionalgalerie ein breites Spektrum an Kunst. Als ein Beispiel sei hier zumindest die Grafikabteilung erwähnt (Rudolf Jettmar, Fritz Hegenbarth, August Brömse, Ferdinand Michl u. a.). In solchem Umfang wurde zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg eine ähnliche Zusammenstellung an Grafiken deutschsprachiger KünstlerInnen Böhmens nicht mehr präsentiert. So wurden zum Beispiel alle zwölf Grafikblätter aus dem Radierungszyklus Der Tod und das Mädchen von August Brömse ausgestellt, der dieses ursprünglich aus der Renaissance stammende und später romantisch umgedeutete Motiv um damals aktuelle Elemente des Mystizismus, des religiösen Synkretismus und der Erotik ergänzte.

 

Die Reichenberger „Doppelausstellung“ sowie die Publikation zur Ausstellung sind definitiv gelungen. Ähnlich wie schon bei anderen Projekten, an denen die Kuratorin der Ausstellung in der Regionalgalerie und Herausgeberin der Begleitpublikation Anna Habánová beteiligt war, wurden auch dieses Mal viele neue Sachverhalte und Zusammenhänge, Kunstobjekte und Bildmaterialien ans Licht gebracht. Dieser Fundus kann nun in Einzelstudien und Ausstellungen weiter ausgewertet, in den breiteren mitteleuropäischen Kontext gestellt oder mit der damaligen tschechischen Kunst verglichen werden.

 

Bleiben wir noch auf dem Gebiet Kunst. Als ein „Kandidat“ für eine eigene Ausstellung böte sich hier beispielsweise der erwähnte Richard Teschner an, der mittlerweile in Österreich viel Beachtung gefunden hat, allerdings vor allem als Puppenspieler. Teschners Verbindungen zu seiner Heimat blieben dabei bislang unbeachtet (vgl. dazu den Ausstellungskatalog des Österreichischen Theatermuseums Wien „Mit diesen meinen zwei Händen...“, 2013; vgl. auch das tschechische Echo von Lucie Merhautová vom 19. 6. 2013). Eine weitere interessante Persönlichkeit war der Maler Richard Müller, dessen altmeisterlichen Malstil Habánová mit der Ästhetik der Neuen Sachlichkeit in Zusammenhang bringt. Und möglicherweise bin ich nicht der einzige, den es interessieren würde, wie sich die deutschsprachigen KünstlerInnen aus Böhmen, Mähren und Schlesien zum Nationalsozialismus oder zum Münchner Abkommen positionierten. Richard Müller zum Beispiel war von 1933 bis 1935 Rektor der Dresdner Akademie. Man braucht sich also nicht zu sorgen, es könnte in Liberec an Ideen und Inspirationen für weitere Ausstellungsprojekte mangeln.

 

Übersetzung: Martina Lisa

 

 

Německočeská výstava Liberec 1906 / Deutschböhmische Ausstellung Reichenberg 1906. Hg. Anna Habánová. Liberec: Oblastní galerie Liberec, 2016, 271 S.


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