Es schreibt: Nikola Mizerová

(15. 2. 2017)

Die Publikation Experimentelle Poesie in Mitteleuropa, hervorgegangen aus dem gleichnamigen Hünfelder Kolloquium (Oktober 2013), behandelt erstmals das mitteleuropäische Bindeglied auf dem Gebiet der experimentellen Poesie und betrachtet aus neuer Perspektive ein zentrales Prinzip der modernen Literatur seit Mitte des 20. Jahrhunderts, das schon von Eugen Gomringer, dem Wegbereiter der konkreten Poesie, als internationale und übernationale Tendenz bezeichnet worden war. Das Buch, das aus fünfzehn gelungenen Beiträgen besteht, in fünf thematische Bereiche gegliedert ist (Visualität der Texte; Auditive und memoriale Dimensionen; Begriffe und Kontexte; Material, Medien, Maschinen; Raumtexte und Texträume) und u. a. durch reichhaltiges Bildmaterial leserfreundlich gestaltet, belegt, dass die enge Verwobenheit experimentellen Schaffens im mitteleuropäischen Raum ein grundlegender, wenn auch wenig beachteter Aspekt ist, was insbesondere für die germanistische Forschung gilt.

 

Das hessische Hünfeld wurde bewusst als Veranstaltungsort für das Kolloquium ausgewählt, fand hier doch Jürgen Blum-Kwiatkowskis Projekt „Das offene Buch. Poesie im öffentlichen Raum“ (seit 1996) statt, in dessen Rahmen die Einwohner und Besucher Hünfelds im öffentlichen Raum mit Poesie konfrontiert werden und das somit einen guten thematischen Rahmen bot. Zum Kolloquium, veranstaltet von Klaus Schenk (TU Dortmund), Anne Hultsch (TU Dresden) und Alice Stašková (FU Berlin, jetzt Friedrich-Schiller-Universität Jena), wurden führende Wissenschaftler aus dem Bereich der Germanistik und Slavistik, die sich mit dem literarischen Experiment beschäftigen, eingeladen. Genannt seien Klaus Peter Dencker, Autor der umfangreichen Publikation Optische Poesie, Eva Krátká, Autorin des tschechischen Pendants Vizuální poezie, außerdem Ulrich Ernst, Leiter der Forschungsstelle Visuelle Poesie der BU Wuppertal, aus dessen Feder einige Monografien zu diesem Thema stammen, oder Bernhard Dotzler, Autor des dreibändigen Werks Diskurs und Medium. Aus dem Hünfelder Treffen ging eine Publikation hervor, die die essentiellen germanistischen und slavistischen Beiträge der Erforschung experimenteller Werke rekapituliert und die gut als solide Einführung in die Thematik dienen kann.

 

Die Publikation beschränkt sich jedoch nicht auf die Erforschung des literarischen Experiments im 20. Jahrhundert, sie versucht auch, aktuelle Entwicklungstendenzen zumindest zu umreißen. Stellvertretend hierfür sei der mit Material, Medien, Maschinen betitelte Teil angeführt, der sich der Verflechtung von Literatur und Computertechnik widmet. Der Beitrag von Anette Gilbert etwa konzentriert sich auf die Verwendung von QR-Codes in den neuartigen „Gedichten“ von Josef Lischinger sowie ähnliche dichterische Mittel.

 

Der große Gewinn de des Bandes ist die im Vorwort erwähnte Eröffnung  einer mitteleuropäischen Perspektive. Diese ist in dem Fall schon deshalb relevant, weil die mitteleuropäischen Länder, in denen das literarische Experiment in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch das kommunistische Regime aus politischen Gründen unterdrückt wurde, Anregungen gerade aus dem deutschsprachigen Umfeld schöpften, wodurch es zu einer engen Verbindung zwischen den Ländern des Ostblocks auf der einen und der BRD und Österreich auf der anderen Seite kam.

 

In dieser Hinsicht liefert das Buch eine Vielzahl überraschender Details. Aus tschechischem Blickwinkel eine Entdeckung ist der Beitrag Alice Staškovás, der als erste Skizze für weitere Forschungen gelten kann und der sich der umfangreichen Korrespondenz der Wegbereiter des tschechoslowakischen literarischen Experiments Bohumila Grögerová und Josef Hiršal mit Heißenbüttel, Döhl, Mayröcker und anderen deutschsprachigen AutorInnen widmet. Des Weiteren überrascht, dass Grögerová und Hiršal – vor allem veranlasst durch die Unmöglichkeit, ähnliche Vorhaben in der totalitären Tschechoslowakei zu realisieren – für den deutschen Rundfunk einige Hörspiele auf Deutsch verfassten (siehe auch die aktuellen Forschungsarbeiten Pavel Novotnýs). Pavel Novotný widmet sich in seinem Beitrag dem „Semester des experimentellen Schaffens“ von Liberec – einem geplanten Treffen deutsch- und tschechischsprachiger Künstler in Liberec im Frühjahr 1969, zu dem Gerhard Rühm, Ernst Jandl, Franz Mon und Reinhard Döhl eingeladen waren und währenddessen Rühms legendäre Komposition Zensurierte Rede aufgenommen wurde (aus politischen Gründen wurde das Treffen schließlich vor allem auf die tschechischen Künstler begrenzt, den Besuch Rühms jedoch gelang es zu realisieren).

 

Am Beispiel der genannten Beiträge von Stašková und Novotný zeigt sich auch, dass die Publikation erfolgreich aktuelle, gerade im Entstehen begriffene Forschung sowie erste Ergebnisse verortet, was natürlich nicht nur für den Bereich der Slavistik gilt (siehe beispielsweise den Beitrag Frieder von Ammons über Ernst Jandls vergessene, jedoch grundlegende 13 radiophone Texte).

 

Leider bleibt Experimentelle Poesie in Mitteleuropa das für Sammelbände typische Problem der Zersplitterung und damit der Frage, wie eine größere Anzahl unterschiedlich ausgerichteter Beer Biträge verbunden werden kann, nicht erspart. Es muss hierbei gesagt werden, dass sich das Vorwort auf eine kurze Vorstellung der Beiträge und ihre Aufteilung auf die jeweiligen Kapitel beschränkt, während ein alles überspannender und abrundender Kommentar völlig fehlt. Der Leser erfährt unter anderem nicht, von welchem Mitteleuropa-Begriff die HerausgeberInnen überhaupt ausgehen. In der Publikation tritt zudem eine deutliche Disproportion zwischen den Beiträgen zur tschechischen und deutschen experimentellen Dichtung und der anderer Literaturen zutage. Die polnische Literatur ist nur durch einen einzigen Beitrag vertreten (Anne Hultsch über die polnische konkrete Poesie). Abschließend finden zwar AutorInnen Erwähnung, die der rumänischen deutschsprachigen Minderheit angehören (Klaus Schenk und Grazziella Predoiu über die dichterischen Verfahren von Oskar Pastior und Herta Müller), die slowakische und ungarische Literatur ist hingegen überraschenderweise gar nicht repräsentiert. Völlig unlogisch wirkt hier die zeitgenössische experimentelle Kunst in Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Serbien, also den Ländern des Balkans (im Beitrag von Gudrun Lehmann). Einige Texte konzentrieren sich zudem nur auf das deutsche literarische Experiment und berücksichten den internationalen Kontext nicht. Die Gesamtkonzeption des Bandes wirkt somit inkonsequent.

Dennoch ist die Publikation eine hochwertige Quelle, die die Leserschaft in die gerade entstehende Erforschung des mitteleuropäischen literarischen Experiments einführt, auf die mitteleuropäischen Verbindungslinien in diesem Umfeld hinweist, zeitgenössische Entwicklungstendenzen der experimentellen Dichtung berücksichtigt und ein umfassendes Netz an Verweisen zum Thema bildet. Bleibt noch, sich auch für das tschechische universitäre Umfeld mehr solcherlei Treffen zu wünschen, aus denen derart gewinnbringende und anregende Beiträge hervorgehen könnten.

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Schenk, Klaus; Hultsch, Anne, Stašková, Alice (Hg.): Experimentelle Poesie in Mitteleuropa. Texte – Kontexte – Material – Raum. Göttingen: V&R, 2016, 352 Seiten.  


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