Es schreibt: Jakub Sichálek

(4. 1. 2017)

Doppelheimat II

 

Durch die konzeptuellen Veränderungen der tschechischen Literaturgeschichte kam es zwangsläufig auch zur Neubewertung von anderen als tschechischsprachigen bohemikalen Schriften. Der nationale deutsch-tschechische Antagonismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die wissenschaftlichen Kreise stark dominierte, bildete ein Ideensubstrat, aus dem insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einflussreiche Thesen genährt wurden, nach denen die deutschsprachige Literatur aus den Böhmischen Ländern nicht zur tschechischen Literaturgeschichte gehöre.

 

Um ganz konsequent zu bleiben, muss ich an dieser Stelle erwähnen, dass selbst Josef Hrabák (1912‒1987), der in erster Linie solche Thesen formulierte und proklamierte, nicht immer konsequent war und im Ausnahmefall sogar eine ganz andere Position vertrat. Vor allem ab der Mitte der 1950er Jahre begann sich die Situation in der tschechischen Paläobohemistik allmählich zu verändern; doch der Optimismus eines Hans Holm Bielfeldt (vgl. dazu: Zeitschrift für Slawistik 4, 1959, S. 198) kam noch etwas verfrüht. Hrabák hatte zwar einige ältere Behauptungen, die unter anderem eben gegen jenen Autor der wichtigen Monografie Die Quellen der alttschechischen Alexandreis (1951) gerichtet waren, etwas entschärft, doch was die grundlegende Betrachtungsweise der deutsch-tschechischen literarischen Beziehungen und die Rolle der deutschsprachigen bohemikalen Schriften für die Geschichte der tschechischen Literatur anbelangt, blieb er im Wesentlichen bei seinen älteren Positionen, in denen er den deutschsprachigen Werken nur eine untergeordnete Rolle zusprach und sie als „Fremdkörper“ betrachtete (vgl. Polyglotta, S. 149).

 

Die Tatsache, dass Hrabák über schwerwiegende Konzeptionsprobleme, mit denen sich die tschechische Literaturgeschichte auseinandersetzen musste und muss, nachdachte und sie formulierte, ist an sich lobenswert, auch wenn man sich heutzutage mit seiner Sichtweise nur schwer identifizieren kann. Und er war damit nicht der Einzige. Überraschenderweise findet sich auch bei Antonín Škarka (1906‒1972) Ende der 1940er Jahre die These, dass die deutschsprachigen Bohemika mit „unserer“ literarischen Entwicklung in keinem Zusammenhang stünden (vgl. Slezský sborník 48, 1950, S. 55). Das Ideenklima jener Zeit wird ziemlich deutlich, schaut man beispielsweise, wie sich die Meinung eines Albert Pražák (1880‒1956) wandelte, der eher noch der Generation der Lehrer von Škarka und Hrabák angehörte.

 

Albert Pražák verfasste zur Zeit des Protektorats Böhmen und Mähren seine bekannte, 1945 publizierte Monografie Staročeská báseň o Alexandru Velikém/Das Alttschechische Alexanderlied. (Es handelt sich um die einzige moderne tschechische Monografie über die alttschechische Alexandreis – von ihr abgesehen gibt es noch einige deutschsprachige Monografien: neben dem bereits erwähnten Buch von Hans Holm Bielfeldt wären die Publikationen von Ulrich Johanssen (undatiert, vermutlich 1932) oder Walburga Kreft (1981) zu nennen.) Pražák betonte in dem genannten Buch mehrmals die Eigenständigkeit des tschechischen Autors in Bezug auf die in anderen Sprachen verfassten Bearbeitungen desselben Stoffs und bestritt, wenn auch behutsam, die sehr oft diskutierte These, die alttschechische Alexandreis sei nach dem Vorbild des deutschen Alexanderromans von Ulrich von Etzenbach, einer Huldigung des böhmischen Königs, entstanden. Allerdings konnte Pražák in seiner Studie die damals neuesten Publikationen aus den 1930er und 1940er Jahren, die diese These untermauerten, lediglich registrieren, jedoch nicht mehr berücksichtigen. Einige Jahre später, in seinem Vorwort zu einer wissenschaftlichen sowie populärwissenschaftlichen Ausgabe der Alexandreis (1947 bzw. 1949), wurde diese Frage von Pražák komplett übergangen und Ulrichs Roman nicht einmal im Verzeichnis anderer Alexanderromane mit ähnlichen Motiven erwähnt.

 

Es handelt sich hier keineswegs um eine Rekriminalisierung, sondern um die Darstellung eines historisch-wissenschaftlichen Kontextes, die daraus erwachsenen Betrachtungsweisen und deren Folgen. Die Frage des Verhältnisses zwischen der alttschechischen Alexandreis und dem deutschen Alexanderroman von Ulrich diente der tschechischen wie der deutschen Bohemistik seit mindestens den 1880er Jahren als ein Exempel für die unkritische Herangehensweise der jeweiligen „Gegenseite“ – je nach Bedarf war dies mal die deutsche, mal die tschechische Forschung. Wie es später der Hamburger Slawist Dietrich Gerhardt, einer der Koryphäen seines Fachs, formulierte, erinnerten solche Kontroversen an ein Fußballländerspiel, bei dem es um das nationale Prestige gehe, und sie hätten viel zu lange die Aufmerksamkeit von deutlich bedeutsameren Problemen der Alexandreis abgelenkt (Die Welt der Slaven 5, 1960, S. 275).

 

Die meisten dieser Probleme (die Datierung, die Textgenese, das gegenseitige Verhältnis der jeweiligen Handschriften, ihre Kontextualisierung etc.) bleiben nach wie vor ungeklärt. An die Anregungen von Miloslav Šváb (1913‒1986) anzuknüpfen, der sich sein ganzes wissenschaftliches Leben mit der tschechischen Alexandreis beschäftigt hatte, traute sich Jahre lang niemand mehr. Švábs Dissertation verwendete für die eigene Monografie im Übrigen auch sein Lehrer Albert Pražák – allerdings ohne jegliche Quellenangabe. Miloslav Šváb, der seine Forschungsergebnisse nur zum Teil publizieren konnte, entkräftete, ja, widerlegte sogar die direkte Ableitung des zweiten Teils der tschechischen Alexandreis von der deutschen Version Ulrichs, doch er wies auf die Bedeutung des Vergleichs mit einem weiteren Werk Ulrichs hin, dem deutschen Roman Wilhelm von Wenden. Des Weiteren versuchte er, die interessante Fragestellung zur Existenz von Anagrammen im tschechischen Text zu revidieren, doch seine Forschungen konnte er leider nicht mehr zu Ende führen (zu Miloslav Šváb vgl. das Echo vom 20. 03. 2013).

Was die Verbindungen zwischen dem tschechischen und dem deutschen Text anbelangt, musste auch die neueste deutsche und französische Forschung offene Fragen ebenso hinnehmen wie eine unsortierte und unzulängliche Quellenlage (vgl. Germania Litteraria Mediaevalis Francigena, Bd. 4: Historische und religiöse Erzählungen, Hg. G. H. M. Claassens ‒ F. P. Knapp u. H. Kugler, Berlin 2014, S. 72; La fascination pour Alexandre le Grand dans les littératures européennes /XeXVIe siècle/, Hg. C. Gaullier-Bougassas, Turnhout 2014, Bd. 4, passim). In den Passagen zu den beiden Alexandreis-Versionen in der unlängst erschienenen und sicherlich insgesamt sehr lobenswerten Publikation zum Herrscherhof der Přemysliden werden Švábs Arbeiten nicht einmal erwähnt, dafür einige Unstimmigkeiten wiederholt und neue Unsinnigkeiten dazu gedichtet – was umso bedauerlicher ist, als es sich hierbei um ein populärwissenschaftliches Buch handelt (vgl. Dana Dvořáčková-Malá ‒ Jan Zelenka u. a., Der Hof der Přemysliden/Přemyslovský dvůr, Praha, 2014).

 

Die alttschechische Alexandreis hat zweifelsohne einen zweisprachigen Hintergrund und ihr Autor (abgesehen von der Möglichkeit, dass an dem als Alttschechische Alexandreis bekannten Text mehrere Autoren beteiligt waren) kann als der erste passive Trilinguist gesehen werden. Für einen Dreisprachigkeitskontext (primär handelte es sich jedoch um den lateinisch-deutschen Kontext) ist es unerlässlich, mehrere alttschechische Werke zu rezipieren. Interessante Impulse bieten der tschechischen Forschung hierbei gerade die Arbeiten der ausländischen Germanistik und Mediävistik.

 

So hat schon vor dreißig Jahren der deutsche Literaturhistoriker Christoph März (1956‒2006) darauf hingewiesen, dass das geheimnisvolle alttschechische symbolische Gedicht vom Ende des 14. Jahrhunderts, das meist als Kocovník („der Kürschner“) bezeichnet wird (über das Entschlüsseln seiner rätselhaften Botschaft zerbrachen sich schon eine ganze Reihe Interpreten den Kopf) stark beeinflusst wurde von einem der wichtigsten Gedichte der mittelhochdeutschen Lyrik, dem Marienleich von Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob (ca. 1250/60–1318). Sowohl Bohemisten als auch Germanisten ließen diese wichtige Erkenntnis März’ jedoch unbeachtet, obwohl März damit im Grunde noch einmal das Thema Frauenlob und Böhmen neu aufrollte, das einst (1881) ein anderer Forscher im Bereich der deutsch-tschechischen literarischen Beziehungen initiiert hatte: der in Wien ansässige (Literatur)historiker und Herausgeber Ferdinand Menčík (1853‒1916).

 

Neue Lesarten und Interpretationen des Kocovník haben März’ These bestätigt (vgl. den 2015 erschienen Sammelband Ubi est finis huius libri deus scit, Praha 2015, S. 215‒29). Die historische Einordnung des Kocovník ist jedoch meines Erachtens in der tschechischen Bohemistik noch nicht abgeschlossen. In diesem Kontext möchte ich noch auf einen sehr wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen der tschechischen Dichtung mit den damals sehr lebendigen mariologischen Kontroversen hinweisen sowie auf eine mögliche thematische Parallele zur lateinischen Kantilene des Prager Erzbischofs Johann von Jenstein über Mariae unbefleckte Empfängnis vom Ende des 14. Jahrhunderts.

 

Diese ganz offensichtliche motivische Inspiration durch eins der wichtigsten Lieder der mittelalterlichen deutschen Mariendichtung für ein alttschechisches Gedicht dürfte eigentlich kaum überraschen. Aus den Abhandlungen zu den deutsch-tschechischen Literaturbeziehungen aus der Feder von Alois Schmaus (vgl. das Echo vom 19. 9. 2016) wurde schon manches Mal folgender Satz zitiert: „Jedenfalls hat hier die Forschung noch Aufgaben vor sich“ (zitiert nach: Alois Schmaus, Gesammelte slavistische und balkanologische Abhandlungen I., München 1971, S. 329). Er gilt nach wie vor, auch wenn er inzwischen schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist.

 

Aus dem Tschechischen von Martina Lisa


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