Es schreibt: Stefan Michael Newerkla

(Echos, 12. 12. 2016)

Rund ein halbes Jahr ist es her, da berichtete mir der Slavistikprofessor an der Universität Tübingen Tilman Berger von einer persönlichen Begegnung mit der 1898 im mittelböhmischen Tochovice (Tochowitz) geborenen und 1920 von Prag nach Israel ausgewanderten Schriftstellerin, Übersetzerin und Kibbuz-Kindergärtnerin in Degania Alef Irma Singer (Miriam Berkovič). Berger hatte sie 1974 mit einer Schülergruppe unter Leitung seines evangelischen Religionslehrers besucht, und sie erzählte bei der Gelegenheit von Franz Kafka, mit dem sie zwei Jahre lang Hebräisch lernte und der sie im Anschluss an die gemeinsamen Stunden im Prager Stadtteil Podbaba oft nach Hause begleitete. Wie viele andere Frauen war auch Irma Singer von Kafkas Persönlichkeit, seinem charmanten Wesen und vor allem seiner Sprache angetan. Noch stärker eingenommen von Kafkas Ausstrahlung und seiner Sprache war die Frau seines früheren Mitschülers am Altstädter Gymnasium und engagierten Zionisten Hugo Bergmann. Elsa, die Tochter von Berta Fanta aus einer wohlhabenden jüdischen Familie mit einem literarischen Salon im Haus „Zum Einhorn“ am Altstädter Ring, schrieb sogar berührende Liebesgedichte, die sich auf Kafka beziehen.

 

Ausführungen zu Kafkas Beschäftigung mit dem Hebräischen oder seiner Beziehung zu Hugo und Elsa Bergmann sowie Irma Singer wird man zwar in Boris Blahaks 645 Seiten umfassender Monographie Franz Kafkas Literatursprache. Deutsch im Kontext des Prager Multilingualismus (Köln – Weimar – Wien, Böhlau 2015) vergeblich suchen. Angesichts der Fülle und Dichte an gebotenem Material und dessen Analysen hätte es aber fast schon verwundert, wenn selbst diese Aspekte aus dem Leben Franz Kafkas noch zur Sprache gekommen wären. Blahaks Veröffentlichung ist zweifellos auch so ein Opus magnum, das bisherige, vielfach vorgefasste und oft jahrzehntelang tradierte Ansichten zur Literatursprache Kafkas, zu dessen „allerpersönlichstem Hochdeutsch“ (S. 15) in Frage stellt, relativiert und teilweise sogar revidiert.

 

Rund zehn Jahre hat sich Blahak intensiv mit Kafkas Deutsch auseinander gesetzt, Unmengen an Daten, Materialien und Literatur gesammelt, gesichtet und sprachwissenschaftlich ausgewertet, schlussendlich in Form einer Dissertation unter der Betreuung von Prof. Marek Nekula, selbst einem exzellenten Kenner von Kafkas Sprache(n), und Prof. Albrecht Greule an der Universität Regensburg eingereicht und erfolgreich verteidigt. In geringfügig überarbeiteter Form liegt diese Studie nun seit einem Jahr auch in Buchform für die interessierte Öffentlichkeit vor. Auf höchstem wissenschaftlichen Niveau und in Anwendung aktueller methodologischer Zugänge bietet Blahak in seiner mit großem Fleiß zusammengestellten Publikation nicht nur einen Überblick über den sprachsoziologischen Kontext, den Einfluss des Schreibprozesses auf die verwendete Sprache sowie die Textgestalt und Kafkas individuelle sowie zeit- und raumgebundene Einstellung zu den Komplexen „Standard“ bzw. „Schriftsprache“ und „Substandard“ bzw. Dialekt. Blahak bringt vor allem auch eine äußerst detaillierte, korpusbasierte Analyse der Regionalismen in Kafkas literarischem Deutsch, gleichsam eine „Fehlergrammatik“ seiner Literatursprache auf phonetischer und morphosyntaktischer Ebene.

 

Wenn Blahak schlussendlich resümiert, dass sich in Bezug auf Kafkas Sprache „von einer ,Austrophonie mit westjiddischem Akzent‘ sprechen lässt“ (S. 561), also einer ostmittelbairischen Varietät des Deutschen mit westjiddischen Artikulationsmerkmalen auf phonetischer Ebene, wobei „in manchen Bereichen der Morphosyntax Reflexe tschechischer Sprachstrukturen“ (S. 561) hinzutreten, so hat er damit zwar in knappest möglicher Kürze das Wesentliche zusammengefasst. Der ganz besondere Wert der Monographie erschließt sich jedoch auf den vielen Seiten an Analysen davor. Anhand unzähliger Beispiele vermittelt uns Blahaks Buch eine maximal wirklichkeitsgetreue Ahnung davon, welches Deutsch Kafka wohl tatsächlich sprach und schrieb, wo sich welche Reflexe von deutschen, tschechischen und jiddischen Varietäten festmachen lassen und wo man von so etwas wie einem österreichischen oder gar Prager Standard des Deutschen sprechen kann. All das bettet Blahak in die Sprachensituation von Prag um 1910 ein. Zugleich lässt er aber auch nicht außer Acht, wie stark reichsdeutsche Verlage in Leipzig und Berlin Einfluss auf Kafkas Literatursprache nahmen.

 

Umsetzbar geworden ist das alles durch die Heranziehung der Kritischen Ausgabe von Kafkas Schriften, Tagebüchern und Briefen im S. Fischer Verlag als Untersuchungsgrundlage im zusätzlichen Abgleich mit der Textgestalt von Kafkas literarischen Werken in der früheren, bereits korrigierten und der Regionalismen beraubten Fassung Max Brods. Das so entstandene Korpus weist damit einerseits Kafkas Autokorrekturen, andererseits auch die Eingriffe seiner Herausgeber aus und ermöglicht so eine optimale formale Rekonstruktion von Kafkas Sprachgebrauch. Blahak belegt eindrucksvoll, dass sich Kafkas Idiom deutlich von dem laut Kurt Tucholsky „vorbildlichen“ (S. 19) und laut Hermann Hesse „klassischen“ (S. 19) Deutsch unterschieden hat, an das uns die ursprünglich einzigen verfügbaren Textausgaben glauben ließen. Zugleich beleuchtet, hinterfragt oder widerlegt Blahak bis dato in der Öffentlichkeit noch immer verbreitete Bilder und Mythen zum Prager Deutsch, etwa jene vom „reinsten, vorbildlichsten (Hoch-)Deutsch der k. u. k. Monarchie“ (S. 76) oder gar einem „dialektfreien, stagnierenden, kraftlos-verarmten Papierdeutsch einer abgeschlossenen Sprachinsel“ (S. 77).

 

Wie tief alle diese Vorstellungen in den Köpfen der Rezipienten von Kafkas Werken verankert waren und teilweise wohl noch immer sind, zeigen in etwas abgewandelter Form auch Ausführungen aus der bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an österreichischen Schulen verwendeten Literaturgeschichte von Herbert Pochlatko, Karl Koweindl und Walter Thaler. In ihrem Abriss der Literatur des deutschen Sprachraums von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (Wien, Braumüller 1987, II. Teil, S. 147) hieß es etwa zur Sprache Kafkas: „In der Zeit der expressionistischen Modedichtung mit ihren Satz- und Wortverkrampfungen schreibt Kafka eine glasklare, auf Stimmungselemente verzichtende Sprache. Man hat Kafkas Sprache mit dem österreichischen Kanzleistil und seiner nüchtern-gebieterischen Diktion verglichen.“

 

Wie schön, dass wir dank Boris Blahak nun ein Buch in Händen halten, dass uns einen anderen, viel tieferen und (stärker) realistischen Blick auf Franz Kafkas Literatursprache ermöglicht als je zuvor. Und wie gut, dass mit dieser Veröffentlichung wieder einmal der Beweis erbracht wurde, dass richtig verstandene philologische Forschung an Aktualität nichts eingebüßt hat und nach wie vor zu äußerst gelungenen, perfekt aufbereiteten und höchst inspirierenden Ergebnissen führen kann.

 

 

Boris Blahak: Franz Kafkas Literatursprache. Deutsch im Kontext des Prager Multilingualismus (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, Band 7). Köln – Weimar – Wien, Böhlau 2015, 645 S.


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