Es schreibt: Bernd Hamacher

(Echos, 28. 11. 2016)

In der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik sind in den vergangenen Jahren große Fortschritte zu verzeichnen. Nachdem der Fokus zunächst auf der Theorie- und Institutionsgeschichte lag, wird in jüngster Zeit die Praxis des Fachs anhand konkreter Fallbeispiele in den Blick genommen. Vor allem der Forschergruppe um den Hamburger Wissenschaftshistoriker Hans-Harald Müller ist die Erschließung umfangreicher ungedruckter Quellen zu verdanken, unter denen Gelehrtenkorrespondenzen aus der Konstitutionsphase der Disziplin herausragen. In der von Jens Haustein und Uwe Mewes herausgegebenen Reihe Beiträge zur Geschichte der Germanistik haben nun Hans-Harald Müller und Mirko Nottscheid den Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner aus den Jahren 1876 bis 1886 unter dem Titel Disziplinentwicklung als community of practice ediert und kommentiert. Damit richtet sich der Blick einmal mehr nach Österreich und auf die Scherer-Schule, wobei nicht nur die direkte – beginnend mit Scherers 1872/73 in Straßburg gegründetem Seminar –, sondern auch eine „‚indirekte‘ Schülerschaft qua ‚Wissenstransfer‘, die dem eigentlichen Studium bei Scherer vorausging“ (S. 26) – z. B. über Erich Schmidt –, erkennbar wird. Die Grundthese ist dabei, dass die Neuere deutsche Literaturgeschichte „als Fach erst in der ‚community of practice‘ der Seminare Scherers und des Netzwerks seiner Schüler festere Konturen gewann“ (S. 39), wobei die Disziplin letztlich nicht als Literaturgeschichte, sondern als Philologie akademisch reüssierte (vgl. S. 41). Dabei kann auch die These erhärtet werden, dass die ambitioniertesten und am umfassendsten begründeten Vorschläge „zur Einrichtung und Ausgestaltung der Neueren deutschen Philologie in Forschung und Lehre“ in Österreich, genauer in Wien konzipiert und dort „erheblich schneller und konsequenter verwirklicht wurden als im Reich“ (S. 46).

 

In der Einleitung skizzieren die Herausgeber die Biographien der vier Germanisten, die Stationen ihrer Begegnungen und ihrer Zusammenarbeit sowie ihre wesentlichen wissenschaftlichen Leistungen, wobei im Falle Seufferts die Vorarbeiten zu einer (nicht realisierten) Wieland- und im Falle Sauers zu einer (ebenfalls nicht realisierten) Stifter-Biographie herausragen. In einzelnen Fällen führt dabei das Bemühen darum, diese Leistungen wieder ins Gedächtnis der Fachöffentlichkeit zu rücken, zu einer Überpointierung. So findet sich im Rahmen der Würdigung von Seufferts Mitarbeit im Redaktionskollegium der Weimarer Goethe-Ausgabe die Einschätzung, „[d]ie von ihm selbst besorgten Bände zu den Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des westöstlichen Divans [recte: zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans] (1895 [recte: 1888]) und von Die Leiden des jungen Werther (1899) gelten noch heute als Glanzstücke des Unternehmens“ (S. 29). Der Werther-Band der Weimarer Ausgabe ist jedoch schon nach den Maßgaben der damaligen Goethe-Philologie gerade nicht als ‚Glanzstück‘ zu bezeichnen, da das Editionsprinzip der letzten Hand dazu führte, dass für den edierten Text die zweite Fassung des Romans von 1786 zugrunde gelegt wurde und die Erstfassung von 1774 sich nur mühevoll aus dem lemmatisierten Apparat erschließen lässt. Diese editorische Grundentscheidung bei der Weimarer Ausgabe lief den gerade von Scherer maßgeblich angestoßenen Bemühungen um eine angemessene philologische Erschließung des jungen Goethe zuwider. Im kommentierten Register der vorliegenden Edition ist der Werther mit dem Titel der Ausgabe von 1786 (Die Leiden des jungen Werther statt des jungen Werthers), jedoch mit dem Erscheinungsjahr der Erstausgabe 1774 verzeichnet.

 

Die zeitliche Grenze des Bandes mit Scherers Tod 1886 führt dazu, dass die wesentlichen wissenschaftlichen Leistungen der Schüler nur in der Einleitung erwähnt, aber im hier edierten Briefwechsel nicht mehr dokumentiert werden. Sauer war bei Scherers Tod 30, Seuffert 33 und Werner knapp 32 Jahre alt. Über Sauers Prager Zeit kann der Band daher keine neuen Informationen bieten, mit der Ausnahme eines allerdings aufschlussreichen Details aus deren Vorgeschichte. 1881 gab es noch Widerstände gegen Sauers Berufung nach Prag. Der Prager Germanist Johann von Kelle teilte Sauer mit, dass es in der Fakultät vor allem bei den „naturhistorischen Collegen“ Vorbehalte gebe: „Neulich erzählte einer, er habe gehört, Sauer habe sich verbindlich gemacht, als er nach Lemberg gieng, die polnische Sprache zu erlernen. Daraus schließt einer, er sei ein verkappter Pole, ein anderer meint, wenn er hieher käme, würde er auch ćzechisch [sic] lernen, wenn es die Czechen wünschen. Einen solchen Mann, sagt ein Dritter, kann man hier nicht brauchen“ (S. 332, Anm. 2).

 

Eine genuine Leistung des Bandes – und damit auch die Berechtigung, mit Scherers Tod eine Grenze zu ziehen – liegt darin, dass sich in dem knappen Jahrzehnt zwischen 1876 und 1886 „wesentliche Konturen eines ‚typischen‘ Profils der Literaturhistoriker aus Scherers Schule heraus[bildeten]“ (S. 37), die auch über die wissenschaftlichen Biographien der drei behandelten Persönlichkeiten hinaus von Bedeutung sind. Hierzu gehört u. a. die der akademischen Etablierung folgende „Suche nach einem ‚Lebensdichter‘“ (S. 38).

 

Einen immer wiederkehrenden Diskussionspunkt im Briefwechsel Scherers mit seinen Schülern bildete die Frage, in welchem Ausmaß philologische Untersuchungen auch für ein breiteres Publikum berechnet sein müssten, wie es Scherer forderte – und worin ihm z. B. Erich Schmidt beipflichtete (vgl. S. 74f., Anm. 1). Hier zeigt sich das Bemühen Scherers, die neue Wissenschaft vor allem im Stil der Darstellung von der noch methodisch maßgeblichen Älteren deutschen Philologie zu emanzipieren. Rege Debatten entzündeten sich auch an der Frage der biographischen Methode und an den Prinzipien der Biographieschreibung – dies vor dem Hintergrund, dass eine große Dichterbiographie den Gipfel der akademischen Leistung eines Germanisten darstellen sollte. Scherers Mahnung, nicht in der Fülle der Materialien zu versinken (vgl. S. 330, Anm. 3), verdient vor allem aufgrund der späteren Vorwürfe gegen den ‚Positivismus‘ der Scherer-Schule wieder ins Gedächtnis gerufen zu werden. An diesem signifikanten Detail zeigt sich besonders prägnant, wie sehr die ‚Gründerväter‘ der Disziplin von späteren Generationen missverstanden wurden.

 

Nicht zuletzt gewährt der Briefwechsel erhellende Aufschlüsse über die materielle Lebenssituation eines Nachwuchsgermanisten in den 1880er Jahren. So klagt etwa Sauer am 1. Januar 1884 darüber, „daß ich von meinem academischen Einkommen nicht leben kann“ (S. 346). Zur Aufbesserung des Gehalts dienten u. a. Herausgebertätigkeiten, die offenbar nicht zur wissenschaftlichen Profilierung, sondern aufgrund des Honorars übernommen wurden.

 

Insgesamt kann der Band für die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik Modellcharakter beanspruchen. So wie in der Gründungsphase der Disziplin Philologie und Literaturgeschichtsschreibung verbunden und mit einem biographischen Interesse verknüpft werden sollten, so gehen auch hier die Quellenerschließung und die Fachgeschichtsschreibung eine fruchtbare Synthese ein. Es stellt zweifellos ein Desiderat dar, nach der Konstituierung der Disziplin nach und nach auch die verschiedenen methodischen ‚turns‘ in ähnlicher Weise nicht nur in theoretischen Programmschriften zu dokumentieren, sondern mit entsprechenden, z. B. biographischen Quellen zu unterfüttern. Gar nicht genug beklagt werden kann dabei der Umstand, dass in der gegenwärtigen Studienstruktur weder die Editionsphilologie noch die Wissenschaftsgeschichte überall fest im Kerncurriculum verankert sind. Könnten Arbeiten wie die vorliegende hier zu einem breiteren Umdenken führen, so hätten sie zweifellos ihre vornehmste Aufgabe erfüllt.

 

 

Hans-Harald Müller/Mirko Nottscheid (Hg.): Disziplinentwicklung als community of practice. Der Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner aus den Jahren 1876 bis 1886 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik, Bd. 6). Stuttgart: Hirzel, 2016, 419 Seiten.


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