Es schreibt: Hans-Harald Müller

(Echos, 14. 11. 2016)

Der bekannteste Unbekannte

 

Der Titel der aus einer Olmützer Dissertation 2012 hervorgegangen Arbeit Jaromír Czmeros zeigt unmissverständlich: der im Alter von 25 Jahren am 4. November 1917 an der Isonzofront gefallene Dichter Franz Janowitz ist kein Unbekannter. Er gehört nicht zu den ‚mit Unrecht vergessenen‘, sondern zur Klasse der – im 20. Jahrhundert nicht seltenen – halb bekannten, beinahe kanonisierten Autoren, die einen sicheren, fest umrissenen Platz in der Literaturge­schichte (noch) nicht gefunden haben. Unbekannt konnte Janowitz nicht bleiben, weil er schon zu Lebzeiten zu den peer-groups des Prager und Wiener Literaturlebens – u. a. mit Max Brod, Franz Werfel, Willy Haas, Karl Kraus – in Beziehungen stand. Einen Platz in der Literatur­geschichte konnte Janowitz unter anderem deshalb (noch) nicht finden, weil der Nachlass des Dichters verloren ging und seine überlieferten Texte lange Zeit nicht zugänglich waren. Dieter Sudhoffs philologisch gründliche Edition aus dem Jahre 1992 (Innsbruck) und seine – 18 zuvor unbekannte Gedichte enthaltende – Ausgabe der Briefe zwischen Janowitz und Willy Haas (in Conditio Judaica 14, Tübingen 1996) haben die Voraussetzung für wissenschaftliche Untersuchungen des Janowitz’schen Werks geschaffen; eine 1970 im Brenner-Archiv entstan­de­­ne Dissertation von Christine Ulmer ist ungedruckt geblieben.

 

Der Olmützer Germanist Jaromír Czmero hat nun die erste wissenschaftliche Monographie zum Werk von Franz Janowitz vorgelegt. Sie ist gegliedert in Lebens-, Nachlass-, Rezeptions- und Forschungsgeschichte einerseits und eine Untersuchung des Werks und seiner Beziehun­gen zur zeitgenössischen Literatur andrerseits. Zur Biographie von Franz Janowitz bietet Czmero nur wenig Neues, desto mehr aber fördert er, mit der Hilfe Harry Stockhammers, zur Geschichte der künstlerisch begabten und aktiven Familie Janowitz zutage.

 

Weniger befriedigend ist die Darstellung der Geschichte des Nachlasses. Da sie für die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Dichters von zentraler Bedeutung ist, hätte man sie sich ausführlicher und stärker dokumentengestützt gewünscht, zumal sie mit der Darstellung von Sudhoff nicht immer übereinstimmt. Schon über die erste von Karl Kraus initiierte Nachlasspublikation Auf der Erde (München 1919) herrscht eine gewisse Unklarheit. In der ungezeichneten Nachbemerkung zum Band lautet der Schlusssatz: „Der hier vorliegende Band stellt, um weniges vermehrt, jene knappe Auswahl dar, die der Dichter noch selbst zur Veröffentlichung vorbereitete“. Welchen Anteil aber Janowitz selbst an der Auswahl hatte und in welchem Umfang sie von Franzens Bruder Otto Janowitz und Kraus’ Freund Leopold Liegler getroffen wurde, ist indes bislang unklar (vgl. Sudhoff 1992, S. 224; Czmero, S. 75).

 

Czmero beginnt seine Darstellung der Nachlassgeschichte mit der Feststellung, dass sich der Brenner-Verlag in den zwanziger Jahren „bereit erklärt“ habe, „den literarischen Nachlass von Franz Janowitz herauszugeben“; Karl Kraus hatte als Vermittler der Vorabdrucke von Gedichten, Prosa und Aphorismen fungiert, die zwischen 1920 und 1928 im Brenner erschie­nen, und er hatte auch die Nachlassausgabe angeregt, für die in Brenner und Fackel Subskriptions­einladungen erschienen. Welche Vereinbarung die Erben mit dem Brenner-Verlag darüber trafen, scheint nicht bekannt. Der zunächst mit dem Nachlass befasste Rechtsanwalt und Schriftsteller Friedrich Punt lehnte eine Edition ab; der Schriftsteller und erste Trakl-Herausgeber Karl Röck arbeitete „sieben volle Wochen“ (61) an einer im Konzept vorgelegten zweibändigen Edition, die – vermutlich auf Grund ihres chronologischen Anordnungsprinzips – die Zustimmung Ludwig von Fickers nicht fand. Ende 1929 beauftragte Ficker den Loos-Editor Franz Glück mit der Edition einer vermutlich einbändigen Werkausgabe. Weshalb diese nicht zustande kam, darüber sind Czmero und Sudhoff verschiedener Auffassung, im Ergebnis stimmen sie jedoch überein: auf Grund finanzieller Schwierigkeiten musste der Brenner-Verlag auf eine Ausgabe der Werke von Franz Janowitz verzichten. Nach 1933 gab der Verlag dann auf Bitten von Otto Janowitz erst die Abschriften, dann das Original des Nachlasses zurück; beide Versionen wurden nach der Emigration von Otto Janowitz vermutlich in New York vernichtet. Auf diese Weise ging ein großer Teil des Werks von Franz Janowitz verloren; zugleich erhielten die Aufzeichnungen Röcks über den vernichteten Nachlass den nicht unproblematischen Status eines Stellvertreters des Werks selbst.

 

Sehr nützlich ist Czmeros Bericht über die Forschung zum Werk von Franz Janowitz, der vor allem die Forschungsergebnisse im Anschluss an die grundlegende Werk-Edition Sudhoffs aus den beiden letzten Jahrzehnten knapp zusammenfasst. Getrennt von der Nachlass- und For­schungs­ge­schichte schildert Czmero ausführlich die frühe Rezeption der Gedichte von Franz Janowitz im Zeichen der Kraus-Brod-Polemik und in der Fackel, darauf die von den Brüdern Hans und Otto Janowitz initiierte Aufnahme der Gedichte in den Brenner, die im Kontext der ,religiösen‘ Nachkriegsstrategie des Brenner dargestellt wird. Eher sporadisch und ohne langfri­stige Wirkung wurden Janowitz’ Gedichte im Berlin der Weimarer Republik und in Anthologien nach 1945 rezipiert. Den ersten, noch heute anregenden, Versuch einer textnahen Interpretation von Janowitz’ Gedichten unternahm 1968 Jiřina Hlaváčová (Jüdisches Museum, Prag), bevor mit der Dissertation Ulmers, vor allem aber mit den Editionen Sudhoffs die im engeren Sinne literarhistorische Forschung einsetzte. 2009 erschien die von Viera Glosíková herausgebene zweisprachige Anthologie deutscher Gedichte aus Prag „Když se mnou nejsi ty...“ / „Wenn Du nicht bei mir bist...“, die sechs Gedichte von Franz Janowitz enthielt.
 

In seiner Untersuchung des lyrischen Werks verfolgt Czmero überwiegend einen ideengeschicht­lichen Ansatz. So analysiert er die in der Lyrik der Jahrhundertwende kommunen und auch in Janowitz’ früher Lyrik variationsreich ausformulierten Verschmelzungsphantasien von Mensch und Natur vor dem Hintergrund des Monismus und des psychophysischen Parallelismus Wundts und Fechners; die Gedichte der transzendenten Sehnsucht nach Erlösung aus dem naturgebundenen Sein betrachtet er vor dem Hintergrund der Gnosis; die Gedichte, in denen ein todesbewusstes Selbstverständnis des Dichters anklingt, sieht er vor dem Hintergrund der Philosophie Kierkegaards. Zwar sind diese Verbindungen – die letztere zumal vor dem Hintergrund der Kierkegaard-Rezeption im Brenner – nicht unplausibel; dass sie als Heuristik aber zu schwach für die Interpretation der Sprachgestalt der Gedichte von Franz Janowitz sind, erhellt nicht zuletzt daraus, dass Czmeros eindringliche Einzelinterpretationen der Gedichte (z. B. von Der Bote, Der Schwan, Abends und Weh’ uns) diese heuristischen Krücken weitgehend entbehren können. Womöglich wäre ein Vorgehen, das die Werkentwicklung anhand exemplarischer Gedicht­interpreta­tionen genetisch rekonstruiert, dem Eigensinn und der Suche nach dem eigenen Ton der Janowitz’schen Lyrik angemessener als ein ideengeschichtlich zuordnendes – aber das ist nicht sicher. Czmeros Untersuchung der Lyrik schließt ab mit einem Kapitel über „Einflüsse und Grenzziehungen“, das Parallelen und Unterschiede zwischen der Lyrik von Franz Janowitz einerseits und Kraus und Werfel andrerseits kenntlich macht – Einflüsse von Rilke, die Janowitz ebenso empfindlich und scharf ablehnte wie Heym die von George, werden nicht betrachtet. Eine abschließende Erörterung der Nähe bzw. Distanz Janowitz’ zum Expressionismus führt zu dem erwartbaren Ergebnis, dass die traditions- und formbewusste Lyrik von Janowitz nicht typisch, aber doch „auch expressionistisch“ (221) ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Czmero auch im Hinblick auf Janowitz’ Stellung zur Moderne, indem er ihn nicht der avantgardistischen, sondern der gemäßigten „klassischen“ Moderne (261) zuordnet, womit noch kein großer kognitiver Gewinn verknüpft ist.

 

Czmeros Monographie hat ein unübersichtliches Literaturverzeichnis und, Kennzeichen der Reihe Brenner-Forum, kein Register – in der Forschung zu Franz Janowitz aber stellt sie ein Grundlagenwerk dar, an das weitere Untersu­chungen zu Lyrik und Prosa des Dichters anknüpfen müssen und hoffentlich werden.

 

 

Jaromír Czmero: Der bekannteste Unbekannte der Prager deutschen Literatur – Franz Janowitz. Innsbruck u. a.: Studien Verlag (Edition Brenner Forum, Bd. 10), 2015, 283 S.


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