Es schreibt: Václav Maidl

(Echos, 31. 10. 2016)

Wohl kaum einer schafft es, aus seiner Bachelorarbeit einen gelungenen Start in die Wissenschaft zu machen. Im Fall des 2015 erschienenen Buches von Ladislav Futtera Německá píseň o Libuši. Obraz českého dávnověku v české a německé literatuře 19. století (Das deutsche Lied von Libussa. Das Bild der frühen böhmischen Geschichte in der tschechischen und deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts; Příbram, Pistorius & Olšanská) kann man das allerdings behaupten. Der Autor sammelte im komparativen Rahmen bekannte und weniger bekannte Texte mit der Figur der Libuše, die er analysiert und miteinander vergleicht; er kann sie aus dem Entstehungskontext heraus erklären und auch mit anderen Kontexten verbinden, was einen gewissen Aspekt der Entwicklung in seine Forschung bringt. Er verliert sich nicht in seinem Text, lässt sich nicht zu unnötigen Exkursen verleiten, hält seine Hauptlinie ein. Wenn wir sein Buch als „Erzählung“ verstehen, dann können wir beobachten, wie Futtera ihren Bogen über die gewählte chronologische Achse spannt, um schließlich zu seinen synthetisierenden Schlüssen zu gelangen. So lapidar gesagt, könnte es als Selbstverständlichkeit gelten, aber nicht jedem Autor ist diese Gabe zu eigen, nicht jeder kann Abweichungen oder Detailanalysen „bis ins letzte Quäntchen“ widerstehen; darunter leidet sodann der analysierte Text und die Gesamtheit des Buches wirkt unproportional.

 

Was meine ich mit jenem „komparativen Rahmen“? Trotz mehr als eines Vierteljahrhunderts der geöffneten Grenzen, trotz größeren komparatistischen Interesses an der Erforschung der Kontakte zwischen tschechischer und – meist – deutschsprachiger Literatur auf der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert (vgl. z. B. die Arbeiten von Daniel Vojtěch oder Lucie Merhautová, ehem. Kostrbová) und trotz der Kenntnisnahme des breiteren geopolitischen Kontextes der österreichischen Monarchie (Dalibor Tureček, Václav Petrbok) bleibt die „Literatur des langen 19. Jahrhunderts“ im Bewusstsein der breiten tschechischen Öffentlichkeit fest fixiert auf das Bild der „Nationalen Wiedergeburt“, beziehungsweise auf eine in tschechischer Sprache geschriebene und in den böhmischen Ländern isoliert als die einzige wahrgenommene Literatur. Ladislav Futtera als Germanobohemist dreht diese Optik um: Künstlerische Werke, die das genannte Thema auf Seiten der tschechischen Sprache artikulieren, bleiben im Hintergrund, wie das, was allgemein als bekannt vorausgesetzt wird (Die Kosmas- und die Hájek-Chronik, die Königinhofer und Grünberger Handschrift, Smetanas Libuše, Zeyers Vyšehrad, die Symbolik der Malereien im Nationaltheater), und den Schwerpunkt seiner Arbeit legt er auf literarische Werke mit Libuše-Thematik in deutscher Sprache.

 

Das Interesse der Deutschen, ob im In- oder Ausland, an diesem Thema, das wir heute ausschließlich als „unseres“, als tschechisch betrachten, ist eigenartig. (Stellen wir es uns einmal umgekehrt vor: Wie viele Werke in tschechischer Sprache sind, beispielsweise, zum Thema Nibelungen entstanden?) Futtera vermag als Literaturhistoriker mit dem kulturhistorischen Kontext der Zeit zu arbeiten und hat deshalb für dieses eigenartige Interesse eine natürliche Erklärung: Wenn sich Johann Gottfried Herder für die Figur der Libuše in seiner Fürstentafel interessiert, dann ergibt sich das nicht aus einer besonderen Vorliebe seinerseits für die Böhmen, sondern aus seinem Interesse für das literarische Schaffen in den Sprachen der Völker und vor allem für die mündlich überlieferte Folklore, deren Reflexion er in den tradierten (und schriftlich fixierten) Mythen und Sagen sah. Dass wir uns mit dem schulmeisterlich der Aufklärung zugeordneten Herder bereits auf der Schwelle zur Romantik befinden, ist evident, und Futtera belegt es in überzeugender Weise (vgl. das Kapitel Johann Gottfried Herder čili Geburt der Nation (Johann Gottfried Herder oder die Geburt der Nation), S. 28–34). Die von Herder für die Fürstentafel bearbeitete und in die mehrbändige Sammlung Stimmen der Völker eingereihte Sage der Libuše ist also nur eine von vielen und sticht, anders als in „unserer“ nationalen Rezeption, die nur auf das Tschechische in Herders Sammelband abzielt, nicht hervor. Gleichzeitig erklärt Futtera, warum diese Ballade in den Teil Deutsche Lieder eingegangen ist, wo wir es als volksverbundene Tschechen nicht erwarten würden, wohin sie aber gemäß Herders historisch-geographischer Logik gehört, sieht er doch die böhmischen Länder als Teil des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation an. Seinerzeit war es üblich, den Begriff der Nation über das Territorium und nicht über die Sprache zu definieren. Diese Auffassung wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zugunsten der Sprache als bestimmender Kategorie nationaler Zugehörigkeit aufgegeben. Futteras Verweis auf diesen Paradigmenwechsel hinsichtlich des Volksbegriffes erlaubt es nun auch problemlos zu verstehen, warum in Musäus‘ Volksmärchen der Deutschen die Figur der Libussa ebenfalls erscheint.  

 

Weitere bekannte Autoren, die auf Deutsch über Libuše schreiben und auf die in der Arbeit eingegangen wird, sind Clemens Brentano und Franz Grillparzer. In der Person Brentanos und seinem „Drama“ Die Gründung Prags haben wir es bereits mit einer voll entfalteten Romantik deutscher Prägung zu tun. Wichtiger als die stilistische Einordnung ist für Futtera allerdings (wohl auch angesichts von Brentanos Konvertierung zum Katholizismus kurz nach Erscheinen des Buchs) das Vorhandensein von Motiven, die in der heidnischen Gesellschaft das aufkommende Christentum ankündigen. Konzentriert er sich in diesem Teil seiner Ausführungen eher auf die psychologische Komponente der Autorenpersönlichkeit, so überwiegt in den anschließenden Passagen wieder die historische Perspektive, und in Bezug auf die Erläuterung des Begriffs der böhmischen Länder bei Brentano ordnet er diesen einerseits Herder und Musäus zu, reiht ihn andererseits in den Kontext der Napoleonischen Kriege und des aufbegehrenden deutschen Patriotismus ein. Ebenso wie bei Brentano umreißt der Autor auch bei Franz Grillparzer zunächst die biografische Linie und den allgemeinen Werkkontext, um danach auf das Drama Libussa zu sprechen zu kommen, dem für seine Arbeit wichtigsten Werk. Er geht auf die komplizierte Entstehung ein, ebenso wie auf mögliche Quellen und die zentralen Konflikte, die das Drama „bewegen“: Mensch und / versus Staat, männliches versus weibliches Prinzip. Bloß eine kritische Anmerkung: Dieses „philosophische Drama“ ist – im Unterschied zu Brentanos Text – für die Bühne gedacht (und wird auch aufgeführt), also eindeutig kein „nettes Märchen“, wie der Autor darüber im Zusammenhang mit Musäus an anderer Stelle schreibt (S. 40). Ebenso verdient die Rezeption der verspäteten Premiere des Werks einige Beachtung. Wie Futtera feststellt, fiel sie in Wien wie auch im tschechischen Umfeld ambivalent aus. Sein frühes Drama König Ottokars Glück und Ende (1825) wurde zwar auch nicht positiv aufgenommen, die scharfe und im nationalen Geist geschriebene Kritik von Josef Václav Frič zu Grillparzers 1874 aufgeführtem Stück zeigt allerdings, wie sich die Gesellschaft in Böhmen in einem knappen halben Jahrhundert verändert hatte: Wurde in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts böhmischer Stoff in Bearbeitung eines deutsch schreibenden Dichters noch mit Begeisterung aufgenommen, wie in Futteras Buch das Unterkapitel Meine Landsleute am Beispiel des Epos Wlasta von Karl Egon Ebert belegt, so griff Grillparzer in den Augen der national ‚erweckten‘ tschechischen Gesellschaft der 1870er Jahre gleichsam nach einem unantastbaren Gründungsmythos, dessen richtige Version sich doch in der Königinhofer und der Grünberger Handschrift erhalten habe.

 

Mit der Nennung von Karl Egon Ebert gelangen wir bereits zu den heimischen, jedoch in der zweiten Landessprache schreibenden Autoren. Im deutschsprachigen Umfeld sind sie weitaus weniger bekannt als die oben aufgeführten Autoren, doch es ist gut, dass Futtera sie in sein Buch aufnimmt und sie so der heutigen tschechischen Gesellschaft als untrennbaren Teil des gemeinsamen kulturellen Erbes in Erinnerung ruft. Futtera geht wirklich ins Detail, schöpft aus Kraus‘ Stará historie česká (Alte böhmische Geschichte), und das Ergebnis ist eine bewundernswerte kommentierte Namensliste: Karl Franz Guolfinger von Steinsberg, Johann Nepomuk Komareck, Joseph Georg Meinert, eine lateinische Arbeit Bolzanos, Paul Alois Klar, Uffo Horn, David Mendl, Ferdinand Stamm, im weiteren Kontext dann auch Caroline von Woltmann, Wolfgang Adolf Gerle oder der bereits erwähnte Karl Egon Ebert. Dabei ist symptomatisch, dass das Werk dieser Autoren sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von tschechischen Stoffen abwendet – das Jahr 1848 diente in dieser Hinsicht als große und entscheidende Weiche. Und genau deshalb, weil es sich um ein gemeinsames Erbe handelt, hat es seine Logik, dass in einem Buch mit dem Titel Německá píseň o české Libuši ungefähr das letzte Viertel der Figur der Libuše in der tschechischsprachigen Literatur und Kultur gewidmet ist.

 

Neben Futteras Belesenheit und seiner Fähigkeit zur Synthese möchte ich noch einen Wesenszug dieser Publikation hervorheben: ihre Absicht aufzuklären. Trotz der Thematik und ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung ist das Buch für eine breite Leserschaft gedacht, die angesprochen wird (wovon ja der attraktive, ein scheinbares Paradox bedienende Titel zeugt) und über besagtes Thema aufgeklärt werden soll, um sich so vom bisherigen Autostereotyp zu lösen. Dass sich einige Passagen kürzen ließen (etwa das Vorwort oder die wiederholte Bedeutung der Staré pověsti české (Böhmens alte Sagen) auf S. 96 und 99), ist bloß ein kleiner Schönheitsfehler im gelungenen Ganzen.

 

PS zur Inspiration, wie sehr Libuše bis weit ins 20. Jahrhundert auf uns wirkt: Neben der Passage aus Macuras Ten, který bude (Der, welcher wird) erinnere ich auch an Libuše (sic!) Moníková und ihre Fassade (in der Ausgabe von 2004 bei Argo, S. 28–29) ebenso wie an die Pavane für eine verstorbene Infantin (Argo 2005, S. 64–65).

 

Grundlage dieses Echos ist eine für die Zeitschrift Slovo a smysl verfasste Rezension. Ich danke den Herausgebern der SaS für die Erlaubnis zur zweiten Nutzung der Rezension. vm

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Ladislav Futtera: Německá píseň o Libuši. Obraz českého dávnověku v české a německé literatuře 19. století. Příbram, Pistorius & Olšanská 2015, 134 S.


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