Es schreibt: Lucie Merhautová

(17. 10. 2016)

Ende 2015 veröffentlichte der Prager Verlag dybbuk die biografische Studie Sacher-Masoch (1836–1895) aus der Feder des französischen Historikers für mittelosteuropäische Geschichte Bernard Michel (1935–2013). Das französische Original erschien bereits 1989 und es ist nur bedauernswert, dass die tschechische Übersetzung solange auf sich hat warten lassen, sie hätte weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen sowie Übersetzungen anstoßen können, die auf Tschechisch komplett fehlen. Selbst eine deutsche Übersetzung der Biografie fehlt bis heute, doch auf Deutsch gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien und Monografien zum Leben und Werk Leopold von Sacher-Masochs, wobei die grundlegenden biografischen Informationen größtenteils eben auf Michels Arbeit basieren. Auf Deutsch ist zum Beispiel seine Studie Leopold von Sacher-Masoch und Frankreich erschienen (im Sammelband Leopold von Sacher-Masoch. Ein Wegbereiter des 20. Jahrhunderts, hg. von Marion Kobelt-Groch, Michael Salewski, Olms-Verlag 2010).

 

Sacher-Masoch war ein „Mann der Grenze“ (S. 9), den Großteil seines Werkes verortete er nach Galizien und er selbst stellte sich ab einem bestimmten Zeitpunkt als deutschschreibender Slawe dar. Dementsprechend weckt er auch ein reges Interesse bei HistorikerInnen, GermanistInnen, PolonistInnen, UkrainistInnen oder RussistInnen, die sich mit Identitätskonstruktionen und deren literarischen Repräsentationen oder aber mit Interkulturalität in der Donaumonarchie beschäftigen. (Eine Übersicht über die Werke, die Übersetzungen und die Literatur zum Autor bietet die Sacher-Masoch Bibliographie 1853–2003, zusammengestellt von Michael Farin im Sammelband Leopold von Sacher-Masoch, hg. von Ingrid Spörk, Alexandra Strohmaier, Graz: Droschl 2002). Aktuell bleibt die Frage nach der Modernität von Sacher-Masochs Werken, die Michel erst in seinem kurzen Schlusskapitel stellt, in welchem er die Bezüge sowohl zur Kunst des österreichischen Barock wie auch zur Wiener Moderne anreißt. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch die deutschsprachige Literatur aus Böhmen und Mähren, beschränkt sich dabei jedoch auf das heute altbekannte Beispiel von Kafkas Verwandlung. Die Resonanz auf die beunruhigend wirkenden, verdrehten Machtverhältnisse im Werk von Sacher-Masoch (nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen Mehrheits- und Minderheitskultur, zwischen Zentrum und Peripherie) war jedoch viel breiter und es wäre lohnenswert, sie intensiver zu erforschen.

 

Der Übersetzer Jiří Našinec konnte sich bis auf die bekannteste Novelle Venus im Pelz auf keine weitere neuere tschechische Übertragung von Sacher-Masochs Werken stützen – es ist mehr als verwunderlich, dass seit 1931 keine Anthologie seiner Prosa erschienen ist. Unter den BohemistInnen gehört Sacher-Masoch zu den vernachlässigten Autoren, und das, obwohl sein Lebensweg wesentlich mit den Böhmischen Ländern und Prag verbunden war. Schuld daran ist wohl nicht so sehr das Stigma der Sexualstörung, mit dem sein Name 1890 von Richard Krafft-Ebing behaftet wurde, sondern viel mehr sein gleichnamiger Vater Leopold von Sacher-Masoch (1797–1874), der in das repressive System des Bachschen Absolutismus involviert war. Dieser wuchs in Galizien auf (wobei sein Vater Johann Nepomuk Stephan Sacher wiederum 1759 im böhmischen Königswart/Kynžvart zur Welt kam, wo sich seine Vorfahren Mitte des 16. Jahrhunderts niedergelassen hatten), seit 1831 war er Polizeidirektor in Lemberg, 1848 wurde er nach Prag beordert und bekleidete auch hier, offiziell ab 1849, den Posten des Polizeidirektors. Als solcher reformierte er zum Beispiel das System der Informanten, welche die Reihen der tschechischen patriotischen Kreise unterwanderten. In der tschechischen Literaturgeschichte wird sein Name vor allem in Verbindung mit Karel Havlíček Borovský genannt: denn er war es, der im August 1849 dem Statthalter von Böhmen Karl Mescéry Havlíčeks Verbannung vorschlug (vgl. u. a.: Karel Kazbunda, Karel Havlíček Borovský, Bd. 2, Praha 2013, S. 113–132). Und so verschwimmen im tschechischen kulturellen Gedächtnis die gleichen Namen von Vater und Sohn zu einem einzigen negativen Bild. Dabei behielt, so will es scheinen, der jüngere Sacher-Masoch das Prag seiner Jugend sehr positiv in Erinnerung, darunter auch einige Persönlichkeiten (seine Gymnasiallehrer beispielsweise), die sein Vater hatte beobachten lassen. Und Anfang der 1880er Jahre eröffnete er dann in seiner Zeitschrift Auf der Höhe eine wichtige Plattform für tschechische Literatur im deutschsprachigen Raum (vgl. das Echo vom 03. 10. 2016).

 

In Frankreich konnte Michels Studie an eine breitere und wohlwollendere Rezeption anknüpfen – und in seinem Buch (sowie in anderen Studien) zeigt Michel auch, dass Sacher-Masoch im Frankreich der 1870er und 1880er Jahre als ein relativ angesehener Schriftsteller galt. Übersetzungen seiner Novellen und Erzählungen erschienen in renommierten Zeitschriften oder wurden in Buchform veröffentlicht. Zwischen 1887 und 1888 wurden in der Revue Le Gaulois und der Revue bleue die Memoirenzyklen aus seiner Kindheit und Jugendzeit in Galizien und Prag in den 1830 und 1840er Jahren publiziert – auch ihre Übersetzung ins Tschechische wäre lohnend (auf Deutsch sind sie in zwei Bänden erschienen: Souvenirs. Autobiographische Prosa, übers. v. Susanne Farin, München: belleville, 1985 und Bruchstücke. Autobiographische Prosa 2, hrsg. von Michael Farin, Mechthild Saternus, übers. v. Michael von Killisch-Horn, ebd., 2009). Sacher-Masoch stilisierte sich darin als der „kleinrussische Turgenew“ und konstruierte so rückblickend eine galizische und kleinrussische Identität, die in Frankreich verlockend exotisch wirkte. Für die deutsche Kritik hingegen blieb er von Anfang an ein kontroverser und schwer zu klassifizierender Autor.

 

Bei Zitaten aus Sacher-Masochs Werken bedient sich Michel sowohl des deutschen Originals wie auch der dreibändigen französischen Prosaausgabe (Contes et romans, 1967–1968), diese und andere Editionen verwendete dann auch Gilles Deleuze für seine berühmte Studie Présentation de Sacher-Masoch. Le froid et le cruel (französisch 1967, deutsche Erstausgabe folgte 1968 und wie die französische Publikation erschien sie zusammen mit der Novelle Venus im Pelz; diese mittlerweile klassische Ausgabe beider Texte wurde in viele andere Sprachen übersetzt, 2002 auch ins Slowakische, Deleuzes Studie von Miroslav Marcelli und Sacher-Masochs Prosatext von Adam Bžoch). Deleuzes sado-masochistische Lesart beeinflusste eine ganze Reihe anderer Interpretationen. Doch Michel versucht sich davon zu emanzipieren und betont die historische Perspektive: „Um ihn verstehen zu können, muss man vor allem die Habsburger Monarchie des 19. Jahrhunderts sehr gut kennen, nicht nur die deutsche Welt, sondern auch die slawische: die ukrainische, polnische und tschechische, inklusive ihrer Sprachen, Bräuche und Gesellschaftsrituale“ (S. 11). Seine Recherchen führten Michel in den 1980er Jahren in die Archive der damaligen Tschechoslowakei, nach Österreich (vor allem nach Graz) und Deutschland. Er verwendete hauptsächlich Materialien aus den Polizei- oder Universitätsarchiven, aus Matrikelbüchern, persönlichen Nachlässen, Bibliotheken und persönlicher Korrespondenz. Exklusives Material bekam er zudem von der Enkelin des Schriftstellers Mechthild Saternus, die 1933 nach Frankreich emigriert war. Etwas problematischer werden seine Ausführungen an den Stellen, wo auf die offiziellen Quellen die Interpretation der literarischen Werke folgen sollte, zu denen natürlich auch die Memoiren zählen.

 

Michel vertritt die veraltete und ziemlich naive Vorstellung von der Abhängigkeit des Fiktiven vom Realen, die jedoch auch heute noch unter HistorikerInnen keine Ausnahme ist. So geht er davon aus, dass der Autor in seiner Prosa „wirkliche Begebenheiten“ bearbeite (vgl. z. B.: S. 165), dass er durch die Figuren „seine Meinungen“ darlege (S. 175), oder dass der Vergleich mit offiziellen Amtsquellen in den Werken die „reine Fiktion“ enthüllen könne (S. 199). In den ersten vier Kapiteln über Sacher-Masochs Kindheit und Jugend in Galizien und Prag schöpft Michel aus den Memoiren, denen er einzelne Themenbereiche entnimmt und in chronologischer Reihenfolge vorstellt. Doch die autobiografischen Texte sind erst in den 1880er entstanden und waren für das französische Publikum bestimmt, was ihren Duktus zwangsläufig stark beeinflusste. Dabei macht Michel selbst am Beispiel der Bekanntschaft zwischen Sacher-Masoch und Aurora Rümelin (die auch das Pseudonym Alice oder Wanda Dunajew nutzte) deutlich, inwieweit sich sein Werk auf sein Leben auswirkte und wie er seine Lebenswirklichkeit bis ins Detail den Szenen und Fantasien aus seinen Romanen anpasste. Zudem gehören Verkleidungen, Verwechslungen und Masken zu den Hauptmotiven seines Werkes, sie sind ein Teil der masochistischen Welt. In der zweiten Hälfte des Buches wird Michels Text an vielen Stellen zu einer Collage, in der die Grenzen zwischen Zitat, Paraphrase und Reflexion verschwimmen. Dennoch eröffnet sich dem tschechischen Publikum dank der populär-wissenschaftlichen Monografie, angesichts des Fehlens anderer Werke oder Übersetzungen, im Prinzip zum ersten Mal und auf durchaus ansprechende Art die Möglichkeit, diesen Autor kennen zu lernen.

 

Die Übersetzung von Jiří Našinec ist sehr gut lesbar und gelegentliche Fehler sind wohl eher der Redaktion zuzuschreiben – von einer oberflächlichen Lektüre der Studie zeugt auch der Umschlagtext, in dem Sacher-Masochs Geburtsstadt zu „Lamberg“ geworden ist und auch zum Ort seiner Universitätstätigkeit (dabei war er als Privatdozent in Graz tätig), aus dem populären Familienblatt „Die Gartenlaube“ ist auf Seite 182 „Gardenlaube“ geworden, der erste Verleger der Zeitschrift Auf der Höhe war Lionel Baumgärtner und nicht „Baumgärner“ (S. 312), Sacher-Masochs Enkelin heißt mit dem Vornamen Mechthild und nicht Mechtilde (S. 11) u. ä. Außerdem wurde Sacher-Masochs Lehrer am Akademischen Gymnasium, Jan Jungmann, mit dem bekannteren Josef Jungmann verwechselt, der allerdings in Sacher-Masochs Gymnasialzeit nicht mehr am Leben war. Auch der Fußnotenapparat hätte eine Überarbeitung verdient, die zwar im Hinblick auf das breite Spektrum von Michels Forschung nicht umfassend möglich gewesen wäre, doch zumindest im Kapitel zu Prag hätte man die Namen der erwähnten Institutionen anpassen können (so heißt beispielsweise das ehemalige Staatliche Zentralarchiv/Státní ústřední archiv heute Nationalarchiv/Národní archiv). Es fehlt auch die Erläuterung, ob die Zitate jeweils aus dem deutschen Original oder aus der französischen Version übersetzt worden sind.

 

Übersetzung: Martina Lisa

 

 

Bernard Michel: Sacher-Masoch. 1836–1895. Praha, Dybbuk 2015, 430 S.


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